Die 1990er-Jahre und die Gegenwart
Übersicht
1. „Das Schicksal der russischen Macht“ (the fate of Russian power)
2. Russlands Niedergang: These und Antithese
3. Zentralsteuerung oder Dezentralisation?
4. Widerfährt der US-Hegemonie das Schicksal der Sowjetunion?
Anmerkungen
„Зачем нам такой мир, если там не будет России?“
(Wozu brauchen wir eine solche Welt, in der
es kein Russland geben wird?)
(Putin, 2018)
1. „Das Schicksal der russischen Macht“ (the fate of Russian power)
„World without Russia?“ Unter diesem Titel hat Thomas Graham Jr. seine umfangreiche Studie am 9. Juni 1999 in Carnegie Endowment for International Peace veröffentlicht. Der Tenor der Studie war vor dem Hintergrund einer desaströsen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lage Russlands gegen Ende des 20. Jahrhunderts nicht gerade schmeichelhaft. Russland lag gut sieben Jahren nach einem gescheiterten Transformationsprozess ökonomisch, sozial und politisch am Boden.
Der Vordenker der russischen Wirtschaftsreformen, Jegor Gaidar (1956-2009), meinte rückblickend: „В 92-м году Россия стояла на коленях перед всем миром“ (1992 ist Russland vor der ganzen Welt in die Knie gegangen).1 1999 könnte man mit den gleichen Worten die katastrophale ökonomische und soziale Lage Russlands beschreiben. Und so malte Graham Russlands Zukunft in schwärzesten Farben.
Der Finanzkollaps im August 1998 zerstörte alle Illusionen über eine weitere Entwicklung Russlands, schreibt Graham. Er markiere das Scheitern der westlichen Russlandpolitik der letzten sieben Jahre (1992-1999) und das Ende eines großen liberalen Projekts, Russland rasch in eine normale Marktwirtschaft und ein demokratisches Staatswesen zu transformieren.
Wichtiger als die Frage nach den liberalen und demokratischen Reformen sei eine ganz andere Frage, nämlich die Frage nach dem „Schicksal der russischen Macht“ (the fate of Russian power). Wir erleben einen geopolitischen und geoökonomischen Machtverfall von historischem Ausmaß, bei dem Russland zu einer Konkursmasse zu werden drohe, die unter den anderen Großmächten verteilt werde, beteuert Graham und meint anschließend: Es sei nur recht und billig, über eine Welt ohne Russland nachzudenken (It is only prudent that we begin to contemplate a world without Russia).
Die herrschende Meinung besage, dass Russland „eine Großmacht“ (a Great Power) sei. Die Frage ist allerdings, ob „diese Macht“ von einem „antiwestlichen autoritären oder einem prowestlichen demokratischen Regime“ (an anti-Western, authoritarian regime or a pro-Western, democratic one) ausgeübt werde, sinniert Graham und behauptet: Russland befinde sich bereits seit einem Vierteljahrhundert – seit der Breschnew-Ära – in einem „säkularen Niedergang“ (secular decline). Es sei längst keine Großmacht mehr, will er uns damit sagen.
Am Ende der Breschnew-Ära waren überall Anzeichen des Verfalls erkennbar. In den 1970er-Jahren intervenierte die Sowjetunion in regionalen Konflikten in Afrika, im Nahen Osten und in Mittelamerika. „Die imperialen Abenteuer“ (the imperial adventures) endeten schließlich in einer Tragödie in Afghanistan, wo eine fehlgeleitete Intervention zu einem anhaltenden Konflikt und einer endgültigen Niederlage führte. Das habe im In- und Ausland tiefe Zweifel an Moskaus militärischen Fähigkeiten, seiner strategischen Vision sowie seinem politischen Willen und Urteilskraft geweckt.
Hätte man nicht gewusst, dass es hier um eine Zustandsbeschreibung der Sowjetunion gegen das Ende ihres Bestehens geht, hätte man gleich an die „imperialen Abenteuer“ der USA in den Jahren 2001-2021gedacht, deren fehlgeleitete Interventionen mit dem fluchtartigen Verlassen Afghanistans 2021 in einer Tragödie endeten. Die Parallele zum Untergang des Sowjetreiches ist augenfällig.
Graham spricht hier unbewusst das Problem einer imperialen Überdehnung, die zum Verhängnis des Sowjetimperiums geworden ist. Im Gegensatz zu Stalin, der an seiner Kontinentalmachtstrategie bis zu seinem Ableben 1953 festgehalten hat, änderte sich diese geostrategische Positionierung der Sowjetunion schlagartig mit dem Aufstieg Nikita Chruščovs zum Generalsekretär der KPdSU.
Erst Nikita Chruščov leitete den Übergang von „der klassischen Kontinentalhegemonie der Stalinschen Epoche“ zur Weltmachtstrategie ein. Er war der erste Herrscher Russlands, „der versuchte, die Weltpolitik zu machen“.2
Chruščov traf damit eine fatale geostrategische Entscheidung, die dem Sowjetimperium samt seiner kommunistischen Ideologie letztlich zum Verhängnis wurde. Manche Sowjetnostalgiker haben bis heute die ganze Tragweite dieser auf Chruščov zurückzuführenden geostrategischen Entscheidung der sowjetischen Führung nicht verstanden und träumen immer noch von der Wiederherstellung der „glorreichen“ imperialen Vergangenheit sowjetischer Provenienz.3
Betrachtet man nun Grahams Analyse der russischen Geschichte und Gegenwart aus heutiger Sicht, so kann man dreierlei feststellen:
- Russlands „Niedergang“ ist ausgeblieben und es ist nicht zu einer Konkursmasse der anderen Großmächte geworden. Erneut bewahrheitet sich der Spruch: „Todgeweihte leben länger“!
- Als Großmacht (Great Power) erlebt Russland mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine eine Wiedergeburt und bietet der aus mehr als fünfzig Ländern bestehenden Anti-Russland-Koalition erfolgreich die Stirn.
- Es gibt alle Anzeichnen dafür, dass Grahams Analyse aus dem Jahr 1999 erstaunlicherweise den Zustand der von der US-Hegemonie angeführten unipolaren Weltordnung im Jahr 2024 beschreibt. Alle drei Schlagwörter: der Niedergang (decline), die Konkursmasse und die Tragödie der „imperialen Abenteuer“ (nicht zuletzt in Afghanistan) treffen auf die sich seit dem Untergang der Sowjetunion ausgebildeten unipolaren Welt zu. Der gut 100 Jahre andauernde Aufstieg der USA zum weltweiten Hegemonen findet anscheinend heute nicht zuletzt infolge ihrer imperialen Überdehnung vor unseren Augen sein Ende.
Diese erstaunliche Parallele wirft die Frage auf: Welche Lehren können wir aus Grahams Studie für unsere Gegenwart ziehen? Und vor allem: Wie kommt Graham zu seinem Urteil über Russlands Niedergang, das sich letztlich als Fehldiagnose erwies?
Sein Verdikt: „Russland bleibt ein Land im Niedergang“ (Russia remains a country in decline) ist überwiegend ökonomisch fundiert. Nicht ganz ohne Recht stellt er fest, dass sich Russland im Jahr 1999 von einer sowjetischen Misswirtschaft zu einer deindustrialisierten Wirtschaft der postsowjetischen Zeit gewandelt habe (vgl.: „Russia has been transformed from a >misindustialized economy< in the Soviet period to a >deindustrialized economy< in the post-Soviet period“).
Zwischen 1990 und 1996 stieg der Anteil des Rohstoffsektors an der Industrieproduktion von 24 % auf 51 %, wohingegen der Anteil des Maschinenbausektors von 31% auf 16% und der der Leichtindustrie von 12% auf 2% sank.
Graham verschweigt freilich – wissentlich oder unwissentlich, sei dahingestellt -, dass die Deindustrialisierung des postsowjetischen Russlands der von den USA propagierten und von russischen Wirtschaftsreformern unter Gaidars Führung willfährig übernommenen sog. „Schocktherapie“ zu verdanken ist.4
Das ist allerdings nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist, dass die historischen Prozesse nicht monokausal und schon gar nicht allein ökonomisch betrachtet werden dürfen. Das versteht auch Graham. Deswegen sucht er das „Schicksal der russischen Macht“ (the fate of Russian power) innen- bzw. verfassungspolitisch zu beleuchten.
Und diese Analyse des postsowjetischen Russlands in seinem Staatswerdungsprozess verleitet Graham im Wesentlichen zu seiner Fehldiagnose.
2. Russlands Niedergang: These und Antithese
Die Entwicklungen der 1990er-Jahre analysierend, stellt Graham fest: Russlands Niedergang habe sich seit 1991 beschleunigt und das Ende sei nicht in Sicht. Der Niedergang führe zur „Fragmentierung, Erosion und Degeneration der Staatsmacht sowohl auf politischer als auch auf wirtschaftlicher Ebene“ und sei „ein komplexer Prozess mit vielfältigen Ursachen, die über den sozioökonomischen Verfall hinausgehen.“
Die erbitterten Rivalitäten zwischen den Macht- und Wirtschaftseliten einerseits und des Moskauer Machtzentrums andererseits untergraben die Fähigkeit des Staates, effektiv zu regieren, und ermöglichen den Regionen vor Ort mehr Macht an sich zu reißen und den Geschäftsleuten, sich überall riesige Vermögenswerte anzuhäufen, diagnostiziert Graham.
Dass die Machterosion des Zentrums (bzw. „the erosion of state“) einer vorübergehenden Natur sein könnte und deren Ursachen womöglich in den verfehlten Wirtschafts- und politischen Reformen liegen könnten, darauf geht Graham in seiner Analyse nicht ein.
Zwar weist er auf den beklagenswerten Umstand hin, dass sich Russland „in einem Teufelskreis der Hyperinflation“ (in a vicious hyperinflationary cycle) und die Wirtschaft „im freien Fall“ (in a free fall) befindet. Dass diese desaströse Wirtschaftslage aber nicht nur den korrupten, inkompetenten und machtgierigen russischen Macht- und Wirtschaftseliten, sondern auch und insbesondere dem gescheiterten, auf die „Schocktherapie“ zurückzuführenden Transformationsprozess zu verdanken ist, verkennt Graham offenbar.
Wie verheerend ein solcher Transformationsprozess sein kann, können wir den Worten von John Williamson – dem berühmt-berüchtigten Erfinder des sogenannten „Washington Consensus“ – entnehmen, die er auf der am 13. Januar 1993 in Washington im zehnten Stock des Carnegie Conference Center am Dupont Circle stattgefundenen Konferenz ausgesprochen hat.
Begeistert sprach er dort von „kataklysmischen Ereignissen“ und wies zugleich darauf hin, „dass nur Länder, die wirklich leiden, bereit sind, die bittere Marktpille zu schlucken; nur wenn sie geschockt sind, unterwerfen sie sich der Schocktherapie.“
Dass diese erbarmungslose Logik nicht nur marktradikal, sondern auch geoökonomisch motiviert war, darauf deuten auch seine weiteren Auslassungen hin: „Man wird fragen müssen, ob es möglicherweise sinnvoll sein könnte, absichtlich eine Krise zu provozieren, um die politische Blockade der Reformen zu entfernen. Beispielsweise ist gelegentlich vermittelt worden, es würde sich lohnen in Brasilien eine Hyperinflation anzuheizen, um alle so einzuschüchtern, dass sie diese Veränderungen akzeptieren . . . Kann man sich eine Pseudokrise vorstellen, die dieselben positiven Funktionen ausübt, wie eine reale, nur ohne deren Kosten?“5
Offenbar in Verkennung der Hintergründe der russischen Wirtschaftsreformen fragt Graham fatalistisch: „Was bedeutet das für die Zukunft Russlands – kurz-, mittel- und langfristig? (What does this portend for Russia’s future, both in the short, medium, and long runs?) Seine Antwort verspricht nichts Gutes.
Für eine künftige innenpolitische Entwicklung Russlands sieht er drei machtpolitische Optionen: (1) eine weitere Machterosion des Zentrums; (2) eine erneute Machtkonzentration des Zentrums und (3) eine Regionalisierung der Macht (vgl.: (1) power continues to erode, (2) power is reconcentrated in Moscow … and (3) power is concentrated in several regions).
In dem unwahrscheinlichen Falle einer weiteren Machterosion des Zentrums begibt sich Russland auf dem Weg, ein „failed state“ bzw. „dysfunktionaler Staat“ (a dysfunctional state) zu werden, der nicht in der Lage sei, die Kernfunktionen eines modernen Staates zu erfüllen. Die Machtkonzentration in Moskau würde „sein historisches Muster der letzten vierhundert Jahre“ (its historical pattern of the past four hundred years) reaktivieren, indem der „Re-Zentralisierung“ (recentralization) eine Phase der Schwäche und des Chaos folge.
„Historisch gesehen“, wäre die „Re-Zentralisierung“ größtenteils eine Reaktion auf ausländische Bedrohungen, die „die autoritären Elemente im politischen System“ (the authoritarian elements in the political system) stärkten, glaubt Graham zu wissen und versucht seine ungewöhnliche These mit einer noch ungewöhnlicheren Begründung zu untermauern:
„In einem Land, das von Natur aus zu einer dezentralen Regierungsform neigt, kann die Verteidigung gegen ausländische Feinde die einzige Rechtfertigung für einen rigiden Einheitsstaat sein“ (in a country that appears naturally inclined toward a decentralized form of government, defense against foreign foes can be the only justification for a rigid, unitary state).
Dass Russland spätestens seit Iwan IV. (1530-1584) nie dezentral regiert wurde, ist ein historisches Faktum und widerlegt Grahams ahistorische These, dass Russland von Natur aus zu einer dezentralen Regierungsform neige. Weil er aber davon fest überzeugt ist, verkennt er auch die verfassungspolitische Realität Russlands der 1990er-Jahre, die ihn zur Fehleinschätzung der künftigen Entwicklung verleitet.
Der als Dezentralisierungsprozess missverstandene Machtzerfall des Zentrums infolge des Zusammenbruchs des imperialen Russlands der sowjetischen Periode und die daraus resultierende Schwächung des Machtzentrums waren eher eine Anomalie in der russischen Geschichte der vergangenen fünfhundert Jahre. Diese Anomalie hat die zentrifugalen Kräfte des Landes freigesetzt, die ihrerseits das ohnehin infolge der „Schocktherapie“ erfolgte ökonomische Desaster beschleunigten und darüber hinaus in sich die Gefahr des Zerfalls ganz Russlands bargen.
Grahams Mutmaßung vom Niedergang Russlands war zwar nicht von der Hand zu weisen, weil die dramatische Entwicklung mit bloßem Auge zu sehen war. Seine Voraussage: „World without Russia“ war aber vom Augenblick geblendet und wird von der russischen Geschichte und der russischen Herrschaftstradition nicht gestützt.
Zwar hat er nicht ausgeschlossen, dass „eine Re-Zentralisierung zu einem geordneten Russland (a more orderly Russia) führen würde“, beteuerte aber gleichzeitig erneut in Verkennung der russischen Herrschaftstradition, dass der Widerstand gegen die Re-Zentralisierung zu einem Bürgerkrieg führen und den Niedergang des Landes beschleunigen würde.
Vom Bürgerkrieg im Russland der 1990er-Jahre konnte ungeachtet der desaströsen Wirtschaftslage gar keine Rede sein.
Ein autoritärerer Staat könnte sich wiederum dafür entscheiden, beteuert Graham warnend, aggressiver aufzutreten und in die wirtschaftlichen Entscheidungsprozesse einzugreifen und so die Beziehungen zur Außenwelt strenger zu kontrollieren. Alles in allem dürfte die Re-Zentralisierung bestenfalls nur zu einer bescheidenen und unsicheren Erholung führen, resümiert Graham und empfiehlt statt Re-Zentralisierung „die Konzentration der Macht in mehreren Regionen außerhalb Moskaus“ (the concentration of power in several regions outside Moscow).
Dass Graham hier zwielichtig argumentiert, ist offenkündig. Denn einerseits gibt er zu erkennen, dass die Dezentralisierung der Machtstrukturen „einen radikalen Bruch mit der russischen Geschichte“ (a radical break with Russian history) bedeutet, beharrt andererseits aber auf eben diese Dezentralisierung der Macht mit der Begründung: Diese bietet „die Gelegenheit zum Aufbau einer echten Föderation und wahrscheinlich die beste Hoffnung auf eine nachhaltige Erholung. …Somit würde sich der Aufschwung im Laufe der Zeit auf ganz Russland ausbreiten.“
Das war aber, gelinde gesagt, irreführend und missverständlich, hat er doch kurz zuvor wortreich erklärt, dass die Machtkämpfe infolge des Machtzerfalls des Zentrums auch zum ökonomischen Desaster Russlands geführt haben. Und nun empfiehlt er erneut das gleiche Rezept – die Dezentralisierung der Macht -, um angeblich einen Aufschwung in der russischen Wirtschaft bewirken zu können.
Hinter dieser vermeintlich „gönnerhaften“ Empfehlung stecken in Wahrheit nicht so sehr die wohlverstandenen Wirtschaftsinteressen Russlands, als vielmehr eine gezielt gesteuerte geoökonomische Machtpolitik der USA, mittels derer sie klare geostrategische Ziele bzw. „imperiale Geopolitik“ (Brzezinski, 1997) verfolgte, um Russland wirtschaftspolitisch zu lenken bzw. in den Dollarraum einzubinden und mittels einer geoökonomischen Domestizierung unter Kontrolle zu bringen.
Dass eine solche „imperiale Geopolitik“ letztendlich zum Zerfall Russlands führen sollte, verrät Graham ja selber indirekt, indem er seine Empfehlung mit den Worten beschwichtigt:
„Die starken Regionen würden nicht zwangsläufig das Risiko eines Auseinanderbrechens Russlands erhöhen. Bemerkenswert an Russland ist heute, wie wenig es separatistische Stimmung gibt, von einigen wenigen Orten im Nordkaukasus abgesehen. Es ist aus mehreren Gründen unwahrscheinlich, dass sich diese Situation im Laufe der Zeit ändert.“ (Strong regions would not inevitably raise the risks of Russia’s breaking up. What is noteworthy about Russia today is just how little separatist sentiment there is, outside of a few places in the North Caucasus. This situation is unlikely to change over time for several reasons.)
Genau zu dieser „separatistischen Stimmung“ und in deren Folge zum Zerfall Russlands wäre es gekommen, wäre die Macht zersplittert und vom Zentrum auf die Regionen übergegangen. Grahams Beschwichtigung zeigt, dass er sich über die Folgen seiner „gutgemeinten“ Ratschläge durchaus im Klaren war.
Beschwichtigend fügt er ferner hinzu, dass Russland „als Großmacht“ (as a major power) im Falle eines Re-Zentralisierungs- wie auch eines Föderalisierungsszenario (the recentralization and federalization scenarios) bleiben würde, wohingegen „der anhaltende Niedergang zum Staatsversagen“ führen würde. Und „ein Staatsversagen würde das Risiko eines Zerfalls Russlands erheblich erhöhen“ (State failure would greatly increase the risks of Russia’s breaking up).
3. Zentralsteuerung oder Dezentralisation?
Wie sieht es nun aber wirklich mit dem Problem der Dezentralisierung bzw. Regionalisierung der Macht in Russland aus? Zu welchen Konsequenzen hat die Machtzersplitterung und die Abschaffung des Machtzentrums in Russland führen können und müssen?
Bereits 2008 analysierte der russische Politologe Nikolaj Vladimirovič Petrov (geb. 1958) das von Graham thematisierte, aber unverstanden gebliebene Dilemma der russischen Staatlichkeit. In seiner aufschlussreichen Studie „Das Erbe des Imperiums und der Regionalismus“6 untersuchte er Russlands Verfassungsentwicklung seit Putins Machtübernahme und merkte anschließend im Sinne der prowestlich orientierten Wirtschafts- und Machteliten an:
„Eine effektive Leitung des ganzen Landes aus einem einzigen Zentrum und die Ausarbeitung aller Entscheidungen, die überall und gleichermaßen auf den Gebieten dieses gigantischen Landes zielführend realisiert werden sollen, sind so gut wie unmöglich“ (ebd., 448). Putins Entscheidung, den territorialen Zerfall des Landes in den 1990er-Jahren mittels der staatlichen und zentralistischen Prinzipien zu stoppen, sei zwar erfolgreich gewesen. Bei diesen zentralistischen und eigenmächtigen Bemühungen beobachten wir aber gegenwärtig eine gefährliche Übertreibung zu Gunsten des Zentrums. Mit den verstärkten Bemühungen, den Staat zu zentralisieren und eine alte, herkömmliche institutionelle Praxis zu restaurieren, kommt das System zunehmend ins alte imperiale Geleis, von dem es doch gerade begonnen hat, sich in den 1990er-Jahren zu befreien (ebd., 449).
Aus der Perspektive der im Russland der 1990er-Jahre vorherrschenden marktradikalen Reformen war Putins Zentralisierungspolitik zwar verwerflich, aber im Hinblick auf den Stopp eines Zerfalls des Landes – wie Petrov auch selber zugibt – „erfolgreich“. Damit hat er das Verfassungsdilemma Russlands freigelegt: Entweder eine dezentralisierte oder eine zentralgesteuerte Machtausübung.
Russland, das sich in den 1990er-Jahren eine Handlungsfreiheit der Regionen mit einem schwachen Zentrum leistete, entwickelte sich nach Petrov seit Putin zu einem „mächtigen superzentralisierten Staat“ (в мощное унитарное сверхцентрализованное государство, ebd., 449).
Das ganze System sei auf der Grundlage der Subordination mit einer effektiven Lenkung von oben nach unten aufgebaut und trage in sich immer mehr Elemente des administrativen Kommandosystems sowjetischer Provenienz. Die Machtpyramide stehe auf dem Kopf (ebd., 450). Das aufgebaute System – glaubt Petrov zu wissen – bewahre eine gewisse Stabilität unter zwei Bedingungen: (1) dank einem beständigen Zustrom von Petrodollars, welche die unzureichende Effizienz des Systems kompensieren, und (2) als Folge der Abwendung von der Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft (ebd., 451).
Diese rein ökonomische Begründung der Stabilität des russischen politischen Systems ist im gewissen Sinne ebenfalls dem sowjetischen, „ökonomischen“ Denken geschuldet und ignoriert die geo- und sicherheitspolitische Tragweite einer zentralgesteuerten Machtausübung in Russland.
Sie kann darüber hinaus den Umstand nicht erklären, warum ausgerechnet eine zentralgesteuerte Raumbeherrschung mehr Stabilität verspricht, als eine dezentrale Handlungsfreiheit der Regionen bei einer gleichzeitigen Schwächung des Machtzentrums, wie sie in den 1990er-Jahren auch zu beobachten war.
Ohne die Zentralsteuerung des Raumes büßt die russische Staatlichkeit nicht nur an ihrer Funktionsfähigkeit, sondern auch an ihrer Legitimität, weil diese Legitimität raumhaft, d.h. an Raumbeherrschung und -steuerung gebunden ist.7
Verliert das Zentrum seine Machtsteuerungsfunktion, verliert es automatisch seine Legitimität als Raummacht und dadurch seine raumhafte Funktionsfähigkeit. Der Machtbesitz geht in Russland traditionell der Machtlegitimität voraus, soll heißen: Macht legitimiert sich selbst, vorausgesetzt, dass sie sich durchsetzt bzw. durchsetzen kann.
Es ist durchaus nachvollziehbar, wenn die Gegner Russlands – bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt – darauf hinarbeiten, entweder die Zentralsteuerung des russischen Machtraumes zu delegitimieren oder diesen Machtraum axiologisch von innen und/oder von außen zu sprengen. Würde der russische Machtraum dezentralisiert bzw. die vom Zentrum unabhängig agierenden Raumstrukturen de jure und de facto implementiert oder durch eine bzw. infolge einer axiologischen Subversion der sog. „westlichen Werte“ etabliert, dann wird zum einen die zentralgesteuerte Raumbeherrschung implodieren und zum anderen werden die zentrifugalen Kräfte freigesetzt, welche die russische zentralgesteuerte Raummacht unter sich begraben.
Russlands Staatlichkeit steht heute im Bann der Kontinuität der russischen Herrschaftstradition, die zwar zu Lasten der Liberalität geht, garantiert aber gleichzeitig die Stabilität und die territoriale Integrität und Unversehrtheit des Landes. Was wir heute in Russland vorfinden, ist ein ungebrochenes Fortbestehen der russischen Verfassungstradition bzw. des russischen Traditionalismus, der mit seiner zentralgesteuerten Machtausübung die Stärke und zugleich die Schwäche der russischen Staatlichkeit ausmacht.
Die Stärke zeigt sich insbesondere in den Krisen- und Kriegszeiten, wie der heute tobende Krieg in Ukraine beweist. Die Schwäche äußert sich hingegen im Unvermögen des russischen Staates, sich aus sich heraus zu liberalisieren, weil sich die russische Verfassungstradition in ihrer jahrhundertelangen Rechts- und Verfassungsgeschichte nicht so sehr nach dem Rechtsprinzip: „Lex facit regem“ als vielmehr nach dem Hobbesschen Machtprinzip: „Rex facit legem.“8 entwickelte.
Vor dem Hintergrund dieser russischen Verfassungstradition würde eine wie auch immer geartete Dezentralisation unweigerlich zur Machtzersplitterung und letztlich zum Zerfall Russlands als „Einheitsstaat“ (единое государство) führen.
4. Widerfährt der US-Hegemonie das Schicksal der Sowjetunion?
Ein im Niedergang begriffenes Russland würde eher die Rolle des Spielverderbers im Weltgeschehen spielen, nur um zu zeigen, dass es weiterhin wichtig sei, unabhängig von Langfristfolgen für das Land, schreibt Graham besorgt und fügt gleich hinzu: Ein solches Russland wäre beispielsweise dazu bereit, die Schurkenregime auf der ganzen Welt zu unterstützen oder sein Veto im UN-Sicherheitsrat zu nutzen, um die US-Initiativen zu vereiteln (Such a Russia, for example, is more likely to support rogue regimes around the world or to use its veto in the UN Security Council to thwart U.S. initiatives).
Wie Kosovo neulich gezeigt habe, waren die USA laut Grahams eigenartigem Rechtsverständnis infolge des russischen Vetos gezwungen, das UN-Völkerrecht zu brechen. Und er meint entrüstet: Eine wachsende Inkongruenz zwischen Russlands Stimme und seiner Macht wird auf lange Sicht nur dazu führen, dass die UNO geschwächt werde (A growing incongruity between Russia’s voice and its power will only serve to undermine the United Nations in the long run), es sei denn, Russlands Stimme werde auf ihr tatsächliches Machtpotenzial reduziert und ihm das Vetorecht entzogen.
Wie man sieht, die Forderung, Russland das Vetorecht zu entziehen, taucht nicht erst seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine auf, sondern geht weit in die 1990er-Jahre zurück. Wer keine Macht hat, hat auch kein Recht, hat auch nichts zu sagen! Das ist die Rechtslogik der Mächtigen dieser Welt.
Freilich hat auch diese Logik ihre Grenzen, sodass Graham zähneknirschend, aber nicht ohne Seitenhieb, zugeben musste: Wir können Moskau gar nicht dazu bewegen, auf sein Veto zu verzichten. Vielmehr würde es aggressiv dafür kämpfen, an einem der wenigen verbliebenen Hebel seines globalen Einflusses festzuhalten. Die Schwäche Russlands bedrohe die Integrität der Vereinten Nationen (Russian weakness threatens the integrity of the United Nations), beteuert Graham, als wäre es Russland und nicht die USA, die im Falle des völkerrechtwidrigen Angriffskriegs gegen die Volksrepublik Jugoslawien 1999 das Völkerrecht gebrochen haben.
Am Schluss seiner Studie kommt Graham zum folgenden Urteil:
Wenn wir über die Zukunft Russlands nachdenken, sollten wir die Geschichtslektion vom Aufstieg und Fall der Großmächte nicht vergessen. Manche Staaten verschwinden ganz. Der langsame Niedergang Frankreichs und Großbritanniens sowie der Zusammenbruch des Österreichisch-Ungarischen und des Osmanischen Reiches in diesem Jahrhundert seien nur aktuelle Beispiele. Russlands Niedergang möge zwar nur vorübergehender Natur sein. Das schnelle Tempo des Wandels in der modernen Welt sowie die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Trends in Europa und Asien lassen aber die Möglichkeit zu, dass Russlands Niedergang von Dauer sei.
Diese bemerkenswerte Studie aus dem Jahr 1999 ist in vielerlei Hinsicht aufschlussreich und für die Entwicklungen der Gegenwart lehrreich, zeigt sie doch zum einen erneut, dass man die Zukunft nicht voraussagen kann und dass „die Wege des Herrn unergründlich sind“.
Dass Russland keine Zukunft habe und dass es eine Welt ohne Russland geben werde, hat sich – wie man heute weiß – als Fehldiagnose entpuppt. Der Grund dafür mag in der Fehleinschätzung der Gegenwart liegen. Der allerentscheidende Grund besteht aber in Grahams Verkennung der Natur und des Beharrungsvermögens der russischen Herrschaftstradition.
Neunzehn Jahre später wird Putin in einem im März 2018 ausgestrahlten Film „Weltordnung 2018“ selbstbewusst fragen: „Зачем нам такой мир, если там не будет России?“ (Wozu brauchen wir eine solche Welt, in der es kein Russland geben wird?).
Und auf die Frage nach einem Atomkrieg, die auf dem jährlichen internationalen Waldai-Forum in Sotschi im Oktober 2018 gestellt wurde, antwortete er forsch: „Мы как мученики попадём в рай, а они просто сдохнут“ (Wir werden als Märtyrer in den Himmel kommen, sie werden aber einfach verrecken).
Grahams Studie ist aber zum anderen auch aus einem ganz anderen Grund interessant. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet ein US-Amerikaner mit seiner 25 Jahre zurückliegenden Studie, die eigentlich den Niedergang des Systemrivalen des „Kalten Krieges“ nach dem Untergang seines Imperiums prophezeite, alle Charakteristika eines Niedergangs beschrieb, die heute auf die US-Hegemonie zutreffen. Denn die Studie zeigt, was auf uns zukommen kann und womit wir rechnen sollen, falls der Erosionsprozess der US-Hegemonie weiter voranschreitend zum Zerfall der unipolaren Weltordnung führen wird.
Anmerkungen
1. Zitiert nach Silnizki, M., Geoökonomie der Transformation in Russland. Gaidar und die Folgen. Berlin
2020, 13.
2. Ruehl, L., Russlands Weg zur Weltmacht. Düsseldorf /Wien 1981, 416.
3. Näheres dazu Silnizki, M., Putins Kontinentalmachtstrategie. Zur Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik.
25. Juli 2022, www.ontopraxiologie.de.
4. Näheres dazu Silnizki (wie Anm. 1), 14 f.
5. Zitiert nach Silnizki (wie Anm. 1), 15.
6. Петров, Н. В., Наследие империи и регионализм, в: Наследие империи и будущее России. Фонд
«Либеральная миссия» 2008, 385-454.
7. Vgl. Silnizki, M., Außenpolitisches Denken in Russland. Im Strudel von Geopolitik und Identitätsdiskurs.
Berlin 2018, 22 f.
8. Vgl. Silnizki, M., Russische Wertlogik. Im Schatten des westlichen Wertuniversalismus. Berlin 2017, 121.