Die US-Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik
Übersicht
1. „Mitwirkung ja – Mitsprache nein“
2. „Totrüsten“ als Methode der Kriegsgewinnung?
3. „Aus der Position der Stärke“?
Anmerkungen
„Україна — не Росія“
(Die Ukraine ist nicht Russland)
(Leonid Kučma, 2003)
1. „Mitwirkung ja – Mitsprache nein“
„Auf eine knappe Formel gebracht, lautete das westliche Verständnis der sicherheitspolitischen Rolle Russlands in Europa: >Mitwirkung ja – Mitsprache nein<. In diesen Worten erläuterten die Verteidigungsminister der Nato die Absicht, von der sie sich schon im Herbst 1995 auf einer eigens einberufenen Sitzung in Williamsburg/Virginia leiten ließen, als sie die Modalitäten der militärischen Überwachung des Friedensabkommens für Bosnien und Herzegowina festlegten, das im folgenden Monat in Dayton unterzeichnet wurde,“ schrieben Egon Bahr und Reinhard Mutz 2010.1
Diese Formel hat die sicherheitspolitischen Spannungen zwischen Russland und dem Westen in den 1990er-Jahren und darüber hinaus nicht beseitigt, sondern lediglich kanalisiert und unter den Teppich gekehrt.2 Es war erwartbar und absehbar, dass eine solche spannungsgeladene Beziehung auf Dauer nicht tragfähig ist. Und es kam, wie es kommen musste. Die Spannungen entluden sich gut dreißig Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums in einen nunmehr seit gut zwei Jahren andauernden blutigen Konflikt auf ukrainischem Boden.
Wer heute vom russischen „Neoimperialismus“, „Revanchismus“ und/oder „Revisionismus“ spricht, weiß daher entweder nicht, wovon er spricht, oder führt die Öffentlichkeit wider besseres Wissen in die Irre.
Ein vorläufiger Höhepunkt dieser Spannungen erreichte der 2014 in der Ukraine stattgefundene Staatsstreich, der in den westlichen Medien als „Maidan-Revolution“ verklärt wurde. Die Eingeweihten wussten freilich schon damals, was tatsächlich stattgefunden hat.
„Es ist jetzt offenkundig“, schrieb der ehem. stellvertretende Finanzminister der Reagan-Administration, Paul Craig Roberts (geb. 1939) in einem am 29. März 2014 auf seiner Webseite veröffentlichten Artikel „Die Ausplünderung der Ukraine durch den Westen hat begonnen“, „dass die >Maidan-Demonstrationen< in Kiew in Wirklichkeit ein von Washington organisierter Staatsstreich gegen die gewählte demokratische Regierung waren. Das Ziel des Staatsstreichs ist es, Nato-Militärstützpunkte an der ukrainisch-russischen Grenze zu errichten und ein Sparprogramm des IWF zu verhängen, das als Deckmantel für finanzielle Interessen des Westens dient, das Land auszuplündern. Die ehrlichen idealistischen Demonstranten, die auf die Straße gingen, ohne dafür bezahlt zu werden, waren die leichtgläubigen Betrogenen des Komplotts zur Zerstörung ihres Landes.“
Zehn Jahre später wissen wir, wie weitsichtig Roberts´ Voraussagen waren. Die Ukraine ist heute weitgehend zerstört, maßlos überschuldet, von ukrainischen und westlichen bzw. US-amerikanischen Finanzdienstleistern und Konzernen ausgeplündert und der Krieg hat hunderttausende Menschenleben gekostet. Die ökonomische, geo- und sicherheitspolitische Anbindung der Ukraine an den Westen hat bis jetzt nur eine dramatische soziale Verelendung der Bevölkerung, beschleunigte Deindustrialisierung des Landes und einen brutalen Krieg bewirkt.
Lange vor dem Kriegsausbruch fand der ukrainische „Verlust der Souveränität über die Wirtschaftspolitik des Landes und der Transfer von ukrainischem öffentlichem und privatem Besitz hin zu westlichen Interessenten“ statt, diagnostizierte Roberts 2014.
Anfänge dieser Entwicklung gehen mit der Entscheidung der Clinton-Administration für die Nato-Osterweiterungspolitik weit in die 1990er-Jahre zurück. Der Nato-Osterweiterung lag eine Expansionsphilosophie zugrunde, die der US-Vizeaußenminister Nelson Strobridge Talbott (1993-2001) und Clintons engster Freund 1997, wie folgt, formulierte:
„Russland wird aus seiner tief verwurzelten Denkgewohnheit und Verhaltensweise ausbrechen müssen, indem es lernen wird, mit seinen Nachbarn zu kooperieren, statt sie zu dominieren. Russland muss sich anpassen und die US-Macht an seinen Grenzen akzeptieren („Russia had to do the adjusting and accept U.S. power on its borders“).3
Dieses geopolitische Credo der Clinton-Administration prägt bis heute maßgeblich die US-Russlandpolitik, hat das Verhältnis zwischen Russland und den USA auf Dauer vergiftet und macht eine einvernehmliche Lösung der ukrainischen Frage praktisch unmöglich. Es nahm zudem die zitierte Formel: „Mitwirkung ja, Mitsprache nein“ bereits vorweg und bestimmte im Wesentlichen auch die US-Ukrainepolitik.
Die US-Ukrainepolitik war von Anfang an im Wesentlichen eine Anti-Russlandpolitik. Diese verhängnisvolle Entwicklung fand ihren prägnanten Ausdruck in einem aufschlussreichen Strategiepapiere, das von zwei führenden US-Expansionisten und vehementen Befürwortern der Nato-Osterweiterungspolitik 2004 verfasst wurde. Unter der Überschrift „Eine Strategie für den Schwarzmeer-Raum“ stellten ein US-Diplomat und Politikwissenschaftler, Ronald D. Asmus (geb. 1957) und der Gründer und Präsident des Project on Transitional Democracies, Bruce P. Jackson (geb. 1952) vor genau zwanzig Jahren in zwei Zeitschriften Internationale Politik (Juni 2004) und Policy Review (Juni/Juli 2004) ein Strategiepapiere vor4, dessen Umsetzung letztlich zum Krieg in der Ukraine geführt hat.
Die beiden Repräsentanten des außenpolitischen US-Establishments spielten eine führende Rolle bei der Nato-Osterweiterung. Ihr Strategiepapiere war darum nichts anderes als ein Konzept für eine neue Nato-Expansionsstrategie, die dazu dienen sollte, die Nato auch um die Schwarzmeer-Anrainerstaaten zu erweitern. Nach dem erfolgten Nato-Beitritt von Polen, Ungarn und Tschechien am 12. März 1999 und die weitere Nato-Osterweiterung von Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien im Jahr 2004 beklagten sie sich bitter wegen der Vernachlässigung der Schwarzmeer-Region und plädierten nachdrücklich für die Nato-Osterweiterung um die Ukraine, Georgien, Aserbaidschan und Armenien.
Die Nato-Osterweiterung um die Schwarzmeer-Anrainerstaaten wurde dabei sogar zu einer „moralischen Frage“ stilisiert. Der Westen habe „eine moralische Pflicht“ – beteuern unsere Expansionsstrategen -, den Schaden, den ein halbes Jahrhundert der Teilung und des Kommunismus angerichtet hatte, zu beheben und Europas östliche Hälfte so demokratisch und sicher zu machen wie die westliche Hälfte des Kontinents. Jetzt muss dasselbe Argument auf den Schwarzmeer-Raum ausgedehnt werden“, damit die genannten Anrainerstaaten „durch die Mitgliedschaft in der Nato und EU eines Tages Vollmitglieder dieser Gemeinschaft“ werden.
Denn die Ukraine erklärte bereits „öffentlich, eine strategische Entscheidung in diesem Sinne getroffen zu haben, auch wenn einige Entscheidungen von Präsident Leonid Kutschma und der geringe Fortschritt der Ukraine bei Reformen das Verfahren gebremst haben. Und erst vor kurzem hat sich Georgien eindeutig in dieselbe Richtung bewegt; Aserbaidschan hat bereits länger Hoffnungen in Richtung Nato gehegt. Armenien bleibt wegen seiner engen Bindung an und seiner Abhängigkeit von Russland in diesem Zusammenhang weiterhin die einzige Ausnahme“, konstatierten Asmus/Jackson in ihrem Strategiepapier (82 f.).
Dass das Neutralitätsgebot der ukrainischen Verfassung von 1996 dem Nato-Beitritt im Wege stand, störte dabei offenbar weder Leonid Kučma noch die US-Expansionisten.
Und welche Rolle ist in dem Strategiepapier für Russland vorgesehen? Das Argument, „warum sich der Westen nicht in der Schwarzmeer-Region engagieren sollte“, weil er fürchtet, „dass ein solches Engagement neue Spannungen mit Moskau hervorrufen könnte“ (84), lassen Asmus/Jackson nicht gelten und stellen anschließend apodiktisch fest:
„Das langfristige Ziel des Westens besteht darin, die Demokratisierung des russischen Staates zu unterstützen und Moskau zu ermutigen, seine uralte, überholte Null-Summen-Einstellung zur Geopolitik über Bord zu werfen … Einmal mehr sieht der Westen sich dem Dilemma gegenüber, dass eine Strategie, die auf einen weiteren Ausbau der Stabilität abzielt, aller Wahrscheinlichkeit nach von vielen Russen als feindselig empfunden wird. Und einmal mehr muss der Westen ein solches Denken zurückweisen und stattdessen bereit sein, seine eigene integrationistische Logik zu verteidigen. In Wirklichkeit hat die Ausweitung von NATO und EU nach Mittel- und Osteuropa keine neuerliche Bedrohung an Russlands Westgrenze hervorgerufen. Ganz im Gegenteil – die Erweiterung hat wahrscheinlich einen dauerhafteren Frieden und ein Maß an Sicherheit in dieser Region geschaffen, wie zu keiner anderen Zeit in der jüngeren Geschichte“ (84).
Mit ihrer demokratisch verklärten Expansionsstrategie folgen Asmus/Jackson im Grunde nahtlos und unausgesprochen Talbotts oben zitierter Forderung: „Russland muss sich anpassen und die US-Macht an seinen Grenzen akzeptieren“. „Demokratisierung“ bedeutet nach dieser Lesart Russlands Akzeptanz der US-Führungsrolle in Europa. Denn „Demokratie“ bestimme „Stabilität“; die „Stabilität“ legitimiere wiederum die „integrationistische Logik“, d. h. die Logik der Expansion und „die Ausweitung von NATO und EU“, welche Russland in keinerlei Weise bedrohe.
Conclusio: Die Expansion der „transatlantischen Gemeinschaft“ (Nato + EU) garantiere „einen dauerhafteren Frieden“ und ein großes „Maß an Sicherheit“ in Europa und Eurasien.
Die „demokratisch“ verklärte Legitimation der Nato-Osterweiterungspolitik war schon in den 1990er-Jahren unglaubwürdig und funktioniert heute angesichts des seit gut zwei Jahren tobenden Krieges in der Ukraine erst recht nicht.
2. „Totrüsten“ als Methode der Kriegsgewinnung?
„Mitwirkung ja – Mitsprache nein“ ist eine Formel, die faktisch ein geo- und sicherheitspolitisches Unterordnungsverhältnis propagiert und ignoriert folgerichtig Russlands eigenständiges Sicherheitsinteresse. Sie spiegelt die seit dem Ende des Ost-West-Konflikts in den 1990er-Jahren und in den ersten zwei Dekaden des 21. Jahrhunderts entstandene geo- und sicherheitspolitische Realität in Europa wider, die ein Machtungleichgewicht als das Ordnungsprinzip der europäischen Sicherheitsarchitektur zu zementieren versuchte.
Diese Realität ist heute unwiderruflich vorbei. Russland hat mit dem Ukrainekrieg seinen unmissverständlichen Anspruch nicht nur auf das Mitwirkungs-, sondern auch auf das Mitspracherecht auf die Gestaltung der europäischen Sicherheitsordnung angemeldet, das die Transatlantiker ihm (noch) nicht einräumen wollen. Je schneller aber das passiert, umso weniger wird es ein weiteres Blutvergießen auf ukrainischem Boden geben.
Will der Westen aber wirklich weniger Blutvergießen? Wenn man solche Überschriften liest: „How to Convince Putin He Will Lose“ (Wie man Putin davon überzeugt, dass er verlieren wird)5 oder „NATO’s Missing Pillar“ (Die fehlende Säule der Nato)6, dann sind manche Zweifel angebracht.
Dan Altman (Prof. f. Politikwissenschaft an der Georgia State University) geht in seinem Artikel „How to Convince Putin He Will Lose“ davon aus, dass die beiden Seiten (noch) nicht bereit sind, den Krieg zu beenden, und referiert zwei gängige Meinungen darüber, wie der Krieg in der Ukraine einem Ende nähergebracht werden könne: Entweder übe der Westen Druck auf die Ukraine, Zugeständnisse an Russland zu machen, oder er unterstütze die Bemühungen der Ukraine, auf dem Schlachtfeld zu gewinnen.
Die beiden Alternativen lehnt Altman aus unterschiedlichen Gründen ab und entwickelt seine eigene Strategie, die darauf hinausläuft, Russlands „Glauben“ zu zerstören, den Krieg gewinnen zu können. Um diesen „Glauben“ zu ändern, schlägt er vor, beträchtliche Investitionen in den Ausbau der Waffen- und Munitionsproduktion zu tätigen, um „die russische Führung vor einem langen Krieg fürchten zu lassen. Diese Angst ist wichtig, um sie davon abzuhalten“ (The objective is to make Russian leaders fear a long war. That fear is vital to avoiding one).
Sieht man davon ab, dass der „Westen“ keinen Krieg gegen Russland führt (der Verfasser erweckt den Eindruck), so stellt sich die Frage, ob die transatlantische Gemeinschaft überhaupt in der Lage und willens ist, Russland wie zurzeit des „Kalten Krieges“ totzurüsten.
Das Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion erreichte vor gut 40 Jahren einen Höhepunkt, als Ronald Reagan 1983 die USA zu alter Stärke zurückführen und den Ostblock „totrüsten“ wollte. Die geopolitische und geoökonomische Lage sieht heute freilich ganz anderes aus als damals. Altmans ganze Argumentation ist deswegen auf Sand gebaut. Russland geht nach seiner Meinung von drei Annahmen aus: der unverrückbare Glaube an den eigenen Sieg, der fehlenden Kampffähigkeit der Ukraine und einer fehlenden langfristigen Unterstützung der Ukraine durch den Westen.
Solange die russische Führung an diesen dreifachen Glaubensmaximen festhält, glaubt Altman zu wissen, kann sie ihre Ambitionen nicht aufgeben, mehr ukrainisches Territorium zu erobern. Folglich müsse der Westen nachweislich beweisen, dass sein Durchhaltevermögen die russischen Erwartungen übertreffe.
Diese Argumentation zeigt, wie westlich zentriert die Analysen der Russlandexperten sind. Sie verkennen nicht nur die geopolitische Realität der Gegenwart, die sich vom „Kalten Krieg“ radikal unterscheidet, sondern auch die Natur des Ukrainekonflikts. Russland geht es in diesem Konflikt nicht um die Landnahme, sondern um den Stopp der Nato-Expansionspolitik, welche die russischen geo- und sicherheitspolitischen Interessen unmittelbar bedroht.
Altman überschätzt zudem die militärische Überlegenheit des Westens. Denn er lässt den Umstand außer Acht, dass im Falle einer noch größeren Involvierung des Westens in den Krieg Russland auf weitem Felde nicht alleinstehen wird, weil es dann auf eine direkte oder indirekte Unterstützung seitens Chinas, Nordkorea, Iran und viele anderen Länder des „Globalen Südens“ zählen kann.
Kriege werden geführt, glaubt Altman am Ende seiner Ausführungen, „wenn sich zwei Seiten nicht einig sind, wer gewinnen wird … Entscheidend ist, die Gründe zu untergraben, die die russische Führung veranlassen, an den Sieg zu glauben. Deshalb ist die Vorbereitung auf einen langen Krieg in der Ukraine der Schlüssel, um einen solchen zu vermeiden“.
Das Problem ist nur, dass die Ukraine mit oder ohne die Unterstützung des Westens gar nicht in der Lage ist, einen „langen Krieg“ (a long war) zu führen. Das Land ist weitgehend zerstört, ausgeblutet, deindustrialisiert und bankrott. Die Infrastruktur liegt am Boden, die Wirtschaft hängt am Finanztropf des IWF und der Geld- und Finanzspritzen der Anti-Russland-Koalition. Von welchem „Long War“ kann da überhaupt die Rede sein?
Deswegen kommt Altman zum Ergebnis, dass die Ukraine einen Waffenstillstand so schnell wie möglich mit so viel Territorium wie nur möglich herbeiführen müsse. Die Ukraine könne das nur erreichen, betont Altman, wenn sich die russische Führung Sorgen darüber mache, wie sich der Krieg in den kommenden Jahren entwickeln werde. Der Westen müsse investieren und genügend Waffen und Munition produzieren, um Moskau „totzurüsten“.
Die ganze Analyse ist auf Sand gebaut. Sie verkennt, wie gesagt, die Natur des Krieges, die Kriegsziele Russlands und nicht zuletzt das russische und westliche Militärpotenzial. Als die nukleare Supermacht lässt sich Russland weder einschüchtern noch mit „Totrüsten“ Angst einjagen. Und was einen Waffenstillstand angeht, so ist dieser für Russland keine Option. Er löst kein einziges geo- und sicherheitspolitisches Problem in Europa: Weder wird das Problem einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur in Angriff genommen noch werden die vitalen russischen Sicherheitsinteressen berücksichtigt oder die russisch-ukrainischen Beziehungen geregelt.
Die fehlende Umsetzung des Minsker Abkommens hat zudem deutlich gezeigt, dass alle vereinbarten zahllosen Waffenstillstände in eine Sackgasse geführt haben und nicht eine Befriedung, sondern ganz im Gegenteil eine dramatische Ausweitung des Krieges bewirkt haben.
Ohne einen völkerrechtlich bindenden Verzicht des Westens auf die Nato-Expansion, ohne einen eindeutig geregelten Neutralitätsstatus der Ukraine und die Anerkennung der Realien an der Front wird kein „Totrüsten“ der Ukraine helfen, den Krieg zu gewinnen und/oder einen Frieden herbeizuführen.
3. „Aus der Position der Stärke“?
Am 1. Juli 2024 fand im den US-Demokraten nahestehenden Brookings Institut mit Sitz in Washington D.C eine aufschlussreiche Konversation zwischen dessen Vizepräsidentin Suzanne Maloney und dem US-Außenminister Antony Blinken über „die Herausforderungen und Chancen der amerikanischen Diplomatie“ statt.
Gleich zu Beginn des Gesprächs fragte Maloney nach dem „Zustand des internationalen Systems und der Rolle Amerikas in der heutigen Welt“. Blinkens Antwort war ausgesprochen bemerkenswert. Er proklamiert in seiner Stellungnahme einen erneuten und erneuerten globalen Führungsanspruch für die USA.
Nachdem er die Rückkehr der Großmächterivalität (vgl.: the emergence or reemergence of great power competition) und damit eingehend die „globalen Herausforderungen“ (global challenges) diagnostiziert hat, sinniert er darüber, dass – wenn die USA nicht führend bleiben – eine von zwei Entwicklungen eintreten: Entweder übernimmt die Führung jemand anderer, der „unseren eigenen Interessen und Werten“ widerspricht, oder, was noch schlimm ist, niemand tut es, womit ein Machtvakuum entsteht, das wiederum nichts Gutes verspricht.
Conclusio: „Unser Engagement und unsere Führung sind also von höchster Wichtigkeit“ (So there’s a premium on our engagement and on our leadership). Nach dem erneut proklamierten globalen Führungsanspruch kommt ein ungewöhnliches Eingeständnis des US-Außenministers: Die USA seien nicht (mehr) allmächtig und deswegen auf die Allianzen und Bündnispartner angewiesen. Wörtlich sagt Blinken: „So mächtig wir auch sind, wir sind nicht in der Lage, diese Herausforderungen allein zu meistern. Deshalb haben wir sehr hart daran gearbeitet, die Allianzen und Partnerschaften … neu zu beleben und in vielerlei Hinsicht neu zu konzipieren“ (as powerful as we are – the capacity to meet these challenges effectively alone. And so we’ve worked very hard to re-energize, to reinvigorate, and in many ways to reimagine these alliances and partnerships).
Der Übergang von Zeiten nach dem „Kalten Krieg“ erfolgte mit einer Geschwindigkeit – fügte Blinken gleich hinzu -, „die wir noch nie erlebt haben … Und ich denke, das erzeugt bei vielen Menschen ein Gefühl der Destabilität“. Auch bei Blinken? Es scheint so zu sein. Der US-Hegemon ist verunsichert. Denn die von ihm entwickelte unipolare Weltordnung wird von allen Seiten und nicht zuletzt vom „Globalen Norden“ (мировой Север), womit der namhafte russische Politologe Dmitrij Trenin in seinem letzten Werk Russland charakterisierte7, bedrängt und destabilisiert.
Deswegen hebt Blinken im Verlauf der Diskussion immer wieder, wie beschwörend, hervor, dass „wir aus einer Position der Stärke heraus agieren müssen“, ob es nun um China, Russland oder die anderen Herausforderungen gehe.
Auf die Frage der Moderatorin danach, was er als einen ukrainischen Sieg im Krieg gegen Russland ansähe und wozu die Nato bereit wäre, um sicherzustellen, dass die Ukraine tatsächlich einen Sieg erringe, entwirft Blinken ein rosarotes Bild von der Zukunft der Ukraine und den ukrainisch-transatlantischen Beziehungen:
„Putins Ziel“ – meint der US-Außenminister antifaktisch – war „die Ukraine buchstäblich von der Landkarte zu tilgen, ihre Zukunft als ein unabhängiges Land zu beenden, sie Großrussland einzugliedern. Das ist nicht gelungen und wird aus zwei Gründen auch nicht gelingen: Das liegt (zum einen) am außerordentlichen Mut und der Widerstandsfähigkeit der Ukrainer und (zum anderen) daran, dass fünfzig Länder, sogar mehr als fünfzig Länder, unter der US-Führung zusammenkamen, um der Ukraine zu helfen, sich zu verteidigen. Das ist ein großer Erfolg, wenn man bedenkt, wo wir waren und wohin das hätte führen können. Es ist aber nicht so weit gekommen und wird auch nicht so weit kommen. … Für mich und für uns, ist der Erfolg ganz klar: Die Ukraine ist ein starkes, erfolgreiches Land, das immer stärker in den Westen integriert ist und militärisch, wirtschaftlich und demokratisch auf eigenen Füßen stehen kann. Und wir haben die richtigen politischen Strategien, um sicherzustellen, dass genau das passiert.“
Die zitierte Passage zeigt, wie eskapistisch und indoktriniert die US-Außenpolitik der Biden-Administration geworden ist. Zu keiner Zeit wollte die russische Führung – wie die von den USA und Großbritannien im März/April 2022 torpedierten Friedensverhandlungen auch beweisen8 – „die Ukraine buchstäblich von der Landkarte tilgen“. Ganz im Gegenteil: Die Ukraine wäre froh, das von ihr im April 2022 abgelehnte Friedensangebot heute zu bekommen. Davon kann sie mittlerweile aber nur träumen.
Blinkens Äußerungen weisen ferner darauf hin, dass die einst „allmächtigen“ USA nicht mehr in der Lage sind, mit Russland alleine militärisch, ökonomisch und monetär erfolgreich fertig zu werden, und darum „mehr als fünfzig Länder“ als Verbündete zu einer siegreichen Bekämpfung der russischen Invasion in der Ukraine benötigen. Wie sich freilich herausstellt, kann der in Jahre gekommene US-Hegemon Russland samt aller ihrer Verbündeten weder einschüchtern noch eindämmen oder bezwingen.
Und Blinkens Beteuerung, dass nämlich „die Ukraine ein starkes, erfolgreiches Land ist, das immer stärker in den Westen integriert ist und militärisch, wirtschaftlich und demokratisch auf eigenen Füßen stehen kann“, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, stellt der US-Außenminister doch der Ukraine in dem Augenblick ein demokratisches Gütesiegel aus, in dem der ukrainische Ex-Präsident nach Ablauf seiner Amtszeit seine Präsidentschaft weiter fortsetzt, ohne durch eine Wahl bestätigt, wiedergewählt bzw. legitimiert zu werden.
Nun ja, wenn es der geopolitischen Opportunität der USA entspricht, ein Machtgebilde als „demokratisch“ zu qualifizieren, dann wird selbst eine Machtusurpation kurzerhand „demokratisch“ verklärt. Als wäre das nicht genug, beklagt sich Blinken bitter über die immer enger werdenden geostrategischen Beziehungen zwischen Russland und China, die „tiefgreifende Auswirkungen auf Europa haben“.
Dass diese Kalamität selbstverschuldet ist und allein der US-Russland- und China-Politik spätestens seit der Trump-Administration zu verdanken hat, kommt Blinken gar nicht in den Sinn. Die Trump- und Biden-Administrationen haben die fundamentalen Grundprinzipien der US-Außenpolitik auf einer verantwortungslosen Weise verletzt, deren Formulierung bereits auf die Zeiten des „Kalten Krieges“ zurückgeht.
Eine gleichzeitige Positionierung des außenpolitischen US-Establishments gegen Russland und China hat zwei Gebote der US-Geostrategie des „Kalten Krieges“ verletzt.
Das erste stammt von Henry Kissinger und lautet: „Washington muss immer viel bessere Beziehungen mit Moskau und Peking als Moskau und Peking untereinander haben“. Das zweite Gebot stammt von einem rumänisch-US-amerikanischen Militärstrategen und Ex-Berater von Ronald Reagan, Edward Luttwak: „Die USA können sich eine Konfrontation mit Moskau leisten, falls sie nicht im Konflikt mit China stehen. Die USA können sich auch eine Konfrontation mit China leisten, falls sie nicht im Konflikt mit Moskau stehen. Eine gleichzeitige Konfrontation mit China und Moskau können die USA sich aber nicht leisten.“
Genau diesen „Kampf an zwei Fronten“ führen die US-Amerikaner heute. Die US-Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik ist aus heutiger Sicht gescheitert. Wäre sie erfolgreich, käme es nie zu einem Krieg in der Ukraine. Sie hätte dann zu mehr und nicht zu weniger Sicherheit und Stabilität in Europa geführt, wie die Asmus/Jackson in ihrem oben erwähnten Strategiepapiere erhofft haben.
Das US-Establishment ist heute – selbst wenn es das wollte – gar nicht mehr in der Lage, sein außenpolitisches „Geschäftsmodell“ umzusetzen oder zu verändern. Zu spät! Der Zug ist abgefahren. Zu sehr haben sich die geoökonomischen und geopolitischen Rahmenbedingungen im globalen Raum verändert. Die USA sind nicht mehr die unumstrittene und unangefochtene ökonomische und militärische Übermacht, die sie noch vor wenigen Jahren waren.
Mit China und Russland hat die US-Hegemonie eine mächtige ökonomische und militärische Konkurrenz bekommen. Noch im Jahr 2012 konnte Reinhard Wolf mit Fug und Recht behaupten: „Seit dem Römischen Reich hat kein Staat mehr solche umfassende und weitreichende Macht besessen. Washington wurde als das >neue Rom< und die USA als >Hypermacht< bezeichnet.“9 Diese Zeit gehört der Vergangenheit an.
Anmerkungen
1. Bahr, E./Mutz, R., Brauchen wir eine neue europäische Sicherheitskultur? Warum Entspannungspolitik
ihre Zukunft noch vor sich hat, in: IFSH (Hrsg.), OSZE-Jahrbuch 2009, Baden-Baden 2010, 69-85 (72).
2. Vgl. Silnizki, M., Dreißig Jahre Nato-Expansion. Zur Vorgeschichte des Ukrainekonflikts. 4. Oktober 2023,
www.ontopraxiologie.de.
3. Zitiert nach Silnizki, M., George F. Kennan und die US-Russlandpolitik der 1990er-Jahre. Stellungnahme zu
Costigliolas „Kennan’s Warning on Ukraine“. 7. Februar 2023, www.ontopraxiologie.de.
4. Asmus, R. A./ Jackson, B. P., Eine Strategie für den Schwarzmeer-Raum, in: Internationale Politik 6 (2004),
75-86.
5. Altman, D., How to Convince Putin He Will Lose. The West Must Show That It Can Outlast Russia in Ukraine.
Foreign Affairs. 12. Juni 2024.
6. Mathieu Droin, Sean Monaghan und Jim Townsend, NATO’s Missing Pillar. The Alliance Needs a More Powerful Europe. Foreign Affairs. 14. Juni 2024.
7. Тренин, Д., Новый Баланс Сил. Россия в поисках внешнеполитического равновесия. Альпина
паблишер. Москва 2021, 41.
8. Näheres dazu Silnizki, M., Wer ist schuld an der Fortsetzung des Krieges? Über die Friedensverhandlungen
im März/April 2022. 29. August 2023, www.ontopraxiologie.de.
9. Wolf, R., Außenpolitik ohne Gegenpol: Amerikanische Weltpolitik der Ära Clinton/Bush als Herausforderung für die Theorie, in: Hils, J., u. a. (Hrsg.), Assertive Multilateralism and Preventive War. Baden-Baden 2012, 11; Paul, M., Kriegsgefahr in Pazifik? Die maritime Bedeutung der sino-amerikanischen Rivalität. Baden-Baden 2017, 29.