Im Schatten der Aufrüstung und Abschreckung
Übersicht
1. Russland als „ewiger Feind“?
2. Die gescheiterte EU-Russlandpolitik
3. Aufrüstung als Fehlkalkulation?
Anmerkungen
„Frieden wird es nur jenseits von Abschreckung geben.“
(Dieter Senghaas)1
1. Russland als „ewiger Feind“?
Herman Göring erklärte einmal: Die deutsche Wiederaufrüstung gehe „von dem Grundgedanken aus, dass eine Kraftprobe mit Russland unvermeidlich ist“2. Bis zum Angriff auf die Sowjetunion blieben die Nazigrößen den Worten ihres Führers treu: „Wenn wir herrschen wollen, müssen wir erst Russland niederzwingen.“3
Heute sind Rüstung, Aufrüstung und Wiederaufrüstung erneut in aller Munde. Zwar wollen wir Russland laut offiziellen Verlautbarungen nicht mehr „niederzwingen“, wie zurzeit des „Tausendjähriges Reiches“, wohl aber unsere „demokratische und freiheitliche Verfassungsordnung“ verteidigen. Denn diese Ordnung werde, so wird uns „glaubhaft“ versichert, vom „aggressiven Russland“ akut bedroht.
Nachdem wir drei Jahre lang davon geträumt haben, Russland im Ukrainekrieg eine „strategische Niederlage“ zuzufügen, und dabei kläglich gescheitert sind, haben wir heute ein neues Ziel: die Verteidigung Deutschlands und ganz Europas gegen einen baldigen Angriff Russlands.
Der Angriff sollte „mit ziemlicher Sicherheit“ in den Jahren 2029/30 geschehen, wird uns von deutschen und befreundeten Geheimdiensten ebenfalls versichert. Nein, viel schneller, beteuert eine der bekanntesten Waffenlobbyistinnen der Republik, Susanne Wiegand, in einem Handelsblatt-Interview am 21. März 2025, S. 28: „Es ist nicht fünf vor zwölf, es ist fünf nach zwölf. Das Risiko ist groß, dass das Nato-Bündnis in den kommenden Jahren an der Ostflanke getestet wird. … Im jetzigen Zustand hält Europa einer konventionellen Provokation durch Russland nicht in allen Dimensionen über einen längeren Zeitraum stand.“
Conclusio: Wir müssen uns massiv aufrüsten. Die deutsche Bevölkerung und die Völker Europas müssen sich auf den Angriff der „Barbaren“ aus dem Osten vorbereitet sein. Nun reiben sich die Kriegsfalken die Hände. Insbesondere die Waffenlobbyisten sind begeistert. Sie wittern das Milliarden- und Abermilliarden-Geschäft ihres Lebens.
„Ich schätze, dass die Finanzierungslücke bei 300 bis 500 Milliarden Euro liegt“, freut sich der Chef des Rüstungskonzerns Hensoldt, Oliver Dörre, in einem Handelsblatt-Interview am 1. April 2025, S. 24. Die Aufrüstung scheint an Fahrt aufzunehmen und ist nicht mehr hinter den Bergen. Werden wir demnächst erneut, wie zu „glorreichen“ Zeiten der deutschen Wehrmacht, singen:
„Hinter den Bergen strahlet die Sonne
glühen die Gipfel so rot
Stehen Maschinen, die woll´n mit uns fliegen
fliegen in Sieg oder Tod
Hurra, wir starten, hurra, wir starten
wenn die erste Morgensonne scheint
Fallschirmjäger, Fallschirmjäger
gehen ran an den Feind …“
„Selten waren sich Politiker und Industrie so einig: Europa muss verteidigungsfähig sein – wirtschaftlich, strategisch und technologisch“, schreibt das Handelsblatt in seinem Bericht über die Stahlindustrie am 19. Mai 2025, S. 24. Und wir lesen weiter:
„Deutschlands Verteidigungsausgaben steigen 2025 auf mehr als 70 Milliarden Euro, zusätzlich zum Sondervermögen von 100 Milliarden. Der Nachholbedarf ist riesig. Über 100 neue Kampfpanzer vom Typ Leopard 2 hat Berlin beim deutsch-französischen Hersteller KNDS bestellt. Weitere Großaufträge für Schützenpanzer, Radpanzer und Luftabwehrsysteme wie den Skyranger von Rheinmetall sind geplant. Und auch die europäischen Verbündeten haben einen großen Bedarf. … Die Margen sind hoch: Zwischen 30 und 40 Prozent verdienen Hersteller im Militärgeschäft – deutlich mehr als im zivilen Stahlmarkt.“
Deutschland und Europa rüsten sich auf! Aber wozu? Allein zur Selbstverteidigung? Oder zur Ankurbelung der deutschen Volkswirtschaft, die nicht zuletzt wegen den Sanktionen gegen Russland bereits im dritten Jahr hintereinander Nullwachstum aufweisen wird? Oder vielleicht wegen der Reanimierung des „Geistes des deutschen Militarismus“, wie die Russen inzwischen tagtäglich behaupten?
Wie auch immer, weder 100 noch 1000 neue Kampfpanzer werden irgendetwas ausrichten, sollte es zu einer direkten Konfrontation zwischen Russland und der Nato-Allianz kommen. Es ist eine Illusion
zu glauben, dass ein „undenkbarer“ Krieg zwischen Russland und der Nato genauso oder ähnlich verlaufen werde, wie der zwischen Russland und der Ukraine, sagen die russische Führung und die russischen Militärexperten.
Denn es kommt im Ernstfall unvermeidbar zu einer nuklearen Eskalation. Genau hier liegt aber das eigentliche Problem. Manche Hitzköpfe in den Nato-Staaten glauben einfach nicht daran, dass es dazu überhaupt kommen könnte.
So erzählte der finnische Präsident, Alexander Stubb, in einem Interview mit dem Guardian am 19. Mai 2025, wie er Trump davon überzeugt habe, „Druck auf Russland auszuüben“, weil Moskau angeblich „dem Wettlauf mit dem Westen nicht standhalten könne“.
Anschließend meinte er allen Ernstes, dass „beim nächsten Nato-Gipfel das neue Ziel 3,5 Prozent für die Verteidigung plus 1,5 Prozent für Cybersicherheit und Zivilschutz sein wird. Und wenn wir das erreichen, wird Russland im Vergleich zu uns wie ein Zwerg erscheinen“. So viel Selbstbewusstsein können nur die Repräsentanten der finnischen „Supermacht“ haben, deren Bevölkerungszahl sage und schreibe knapp 5,6 Millionen beträgt.
Ins gleiche Horn bliess auch der estnische Verteidigungsminister, Hanno Pevkur, als er sich in einem Interview mit der Bild-Zeitung am 19. Mai 2025 verstieg, vor einem Ende der Kämpfe in der Ukraine zu warnen, um anschließend hochtrabend anzukündigen:
„Ich glaube, Estland ist eines der am besten vorbereiteten Länden in der Nato. Wir haben die Wehrpflicht, eine Kriegsstruktur mit fast 44.000 Soldaten. Diese Kampfdivision können wir in weniger als 48 Stunden zusammenziehen. Ich kenne wenige Länder, die so schnell so viele Kräfte mobilisieren können. Zudem haben wir heute 32 Verbündete und zusammen viel mehr Feuerkraft als die Russen.“
Und der lettische Politikwissenschaftler und Direktor des Zentrums für geopolitische Studien, Maris Andzans, ist ebenfalls dessen ganz sicher, dass Russland schwach und längst keine Großmacht ist. In einem Interview mit der Sendung „Week. Post Scriptum“ auf TV24 sagte er am 19. März 2025: „Es gibt Gebiete, in denen es ohne die USA extrem schwierig ist; es besteht aber kein Grund zur Panik, denn es gibt Polen. Polen ist derzeit eine der militärisch stärksten Nationen Europas und verfügt über mehr als 200.000 Soldaten, eine riesige Panzerarmee und moderne Kampfflugzeuge … Polen kann den russischen Truppen in der Region Kaliningrad und in gewisser Weise auch in der Suwalki-Lücke … entgegentreten. … Kaliningrad ist in Anbetracht der militärischen Fähigkeiten Polens eine Schwachstelle für Russland. Polen könnte die russischen Streitkräfte in Kaliningrad sogar relativ schnell ausschalten, wenn es dazu käme“.
Die sich stets wechselnde Stimmung in Europa zwischen Euphorie und Hysterie, Übermut und Kleinmut, Selbstüberschätzung und Angst, dem Glauben, Russland eine „strategische Niederlage“ zuzufügen, und Warnung vor dem „russischen Angriff“ auf die Nato spiegelt die absurde Logik der Russlandperzeption wider, die zwischen Inferiorität und Superiorität hin und her gerissen ist.
Diese Stimmungsschwankung zeigt, wie geistesverwirrt doch die EU-Machteliten in ihrem Größenwahn und Defätismus in einem sind und wie wenig sie dazu bereit und fähig sind, mit Russland gemeinsam einen geo- und sicherheitspolitischen Modus Vivendi zu suchen und zu finden.
Diese Suche setzt aber zumindest voraus, dass wir endlich „das Doppelgesicht des Russland-Bildes“ korrigieren. Russland ist heute weder ein „tönerner Koloss“, der „mit einigen kräftigen Stößen von außen zum Einsturz gebracht und in seine Bestandteile zerlegt werden könnte“, noch ein Ungeheuer, „das bei seinem >Drang nach Westen< alles überrollen werde, wenn ihm nicht frühzeitig Einhalt geboten werde.“4
Russland ist heute eine selbstbewusste Großmacht, die ihre geo- und sicherheitspolitischen Machtinteressen notfalls mit brachialer militärischer Gewalt zu verteidigen weiß, zugleich aber nach dem Motto handelt: „Leben und leben lassen.“
2. Die gescheiterte EU-Russlandpolitik
Von einer „strategischen Niederlage“ bis zur Bestrafung des „Aggressors“ Russland mit Sanktionen zu reden und neuerdings Ultimaten zum „sofortigen“ und „bedingungslosen Waffenstillstand“ zu stellen, ist keine große Mutprobe. Eine ganz andere Sache ist allerdings eine kohärente und realitätsbezogene EU-Russlandpolitik zu entwickeln, die unter einen Hut der unterschiedlichen, ja geradezu antagonistischen Machtinteressen innerhalb des EU-Machtkartells gebracht und bedenkenlos wie konfliktfrei mitgetragen werden könnte.
Nachdem die EU bereits mehr als 29.500 Sanktionen nach russischen Angaben erlassen hat, die sich allesamt als stumpfe Waffe erwiesen haben und bis dato wirkungslos geblieben sind, weil sie u. a. auch keine Beendigung des Krieges erzwungen haben, befinden sich die EU-Politmatadoren in einer strategischen Sackgasse.
Am liebsten würde die Mehrheit der EU-Staaten einerseits den Krieg unter US-Führung fortsetzen. Damit können sie aber nicht mehr rechnen. Denn die Kriegspolitik der Biden-Administration wurde vom US-amerikanischen Volk abgewählt und die neue Trump-Administration will davon nichts mehr wissen. Europa kann seinerseits den Krieg allein ohne die USA gar nicht stemmen.
Die neue US-Administration bedrängt andererseits die Ukraine und die EU-Kriegspartei zu Friedensverhandlungen mit Russland, die für die EU als ein Eingeständnis des Scheiterns ihrer drei Jahre andauernden Kriegspolitik bei strikter Weigerung jedweder Verhandlungen erscheinen würde.
„Der Krieg wird in der Schlacht um den Donbass entschieden,“ predigte der mittlerweile ausgeschiedene EU-Außenbeauftragte, Josep Borrell, die ganze Zeit. Und jetzt sollten auf einmal Friedensverhandlungen stattfinden! Lieber nicht, sagen die EU-Kriegsfalken. Sie griffen stattdessen Trumps Forderung nach einem „bedingungslosen Waffenstillstand“ auf und fordern von Putin ohne Wenn und Aber einen sofortigen und bedingungslosen Waffenstillstand, als würde er einen Frieden schaffen und nicht vielmehr nur eine Feuerpause herbeiführen, um danach weiterzukämpfen.
Dass diese „Friedensinitiative“ ein durchsichtiges Manöver zwecks Torpedierung der Friedensverhandlungen zwischen Russland und den USA ist, versteht Freund wie Feind gleichermaßen. Um Frieden geht es den EU-Politmatadoren in der Tat ganz und gar nicht. Sie möchten statt Frieden zum einen Trump für die Fortsetzung und Verschärfung der Sanktionen gewinnen und zum anderen Putin vorführen, um zu beweisen, dass dieser am Frieden nicht interessiert ist.
Nun stellt sich mittlerweile immer deutlicher heraus, dass die EU mit ihren taktischen Winkelzügen nichts erreicht hat: Weder hat sie Trump für sich gewinnen noch Putin vorführen können. Jetzt stehen die EU-Kriegsfalken vor einem Scherbenhaufen. Und was nun? Was wollen sie in ihrer nicht enden wollenden Konfrontation gegen Russland eigentlich erreichen?
Russlands Eindämmung ist seit dem Untergang der Sowjetunion gescheitert. Die Russen haben sich mit „dem Zustand der Inferiorität“, wovon schon Hitlers Chefideologe, Alfred Rosenberg, träumte5, nach dem verlorenen „Kalten Krieg“ nicht abgefunden.
Russlands Zerschlagung ist utopisch. Viele haben es versucht und keinem ist es bis dato gelungen. Putins Sturz ist unrealistisch. Zu beliebt ist er im Lande und zu sehr scharen sich die von ihm aufgebauten Macht- und Funktionseliten um ihn.
Russlands ökonomische Schwächung durch einen Sanktionskrieg hat sich als Irrweg herausgestellt. Die EU ist ratlos und simuliert nur mit ihrem hektischen Aktionismus und endlosen Gipfeltreffen und wirkungslosen Sanktionsbeschlüssen ihre Handlungsfähigkeit, die sie längst verloren hat.
Die EU-Kriegsfalken argumentieren mit der Verschärfung der Sanktionen nach dem Motto: Je schärfer die Sanktionen, umso mehr besteht die Chance, dass die russische Wirtschaft in die Knie geht bzw. ruiniert wird. Putin würde gezwungen sein, seine militärischen Aktivitäten einzustellen. Auf lange Sicht würden die Sanktionen wirken, hoffen sie.
Freilich machen sie sich etwas vor und haben offenbar von John Maynard Keynes spöttischer Anmerkung nie etwas gehört: „Auf lange Sicht sind wir alle tot.“
3. Aufrüstung als Fehlkalkulation?
Und was nun? Die europäischen Kriegsfalken haben jetzt eine neue Idee fixe. Sie lautet: Aufrüstung, Aufrüstung und nochmals Aufrüstung. Offenbar haben sie auch hier aus der Geschichte nichts gelernt und begreifen nicht, dass ihre konventionelle Aufrüstungspolitik in Anbetracht des bis zu den Zähnen bewaffneten nuklearen Leviathans nicht nur wirkungslos, sondern auch selbstzerstörerisch ist.
Es sieht so aus, als ob sich die Geschichte wiederholt. Seit mehr als hundert Jahren beobachten wir diese Entwicklung. Nur wenige begriffen am Vorabend des Ersten Weltkrieges die nahende Katastrophe der Rüstungs- und Machtpolitik des Deutschen Kaiserreichs. Einer unter ihnen war August Bebel, der in der Reichstagsdebatte zum Abschluss der 2. Marokkokrise am 9. November 1911 die herrschende Schicht des Wilhelminischen Reichs vor der Katastrophe ihrer Rüstungs- und Weltpolitik gewarnt hat:
„Alsdann wird in Europa der große Generalmarsch geschlagen, auf den hin 16 bis 18 Millionen Männer, die Männerblüten der verschiedenen Nationen, ausgerüstet mit den besten Mordwaffen, gegeneinander als Feinde ins Feld rücken. … Sie treiben die Dinge auf die Spitze. … Sie stehen heute auf dem Punkte, Ihre eigene Staats- und Gesellschaftsordnung zu untergraben. … Was wird die Folge sein? Hinter diesem Krieg steht der Massenbankrott, steht das Massenelend, steht die Massenarbeitslosigkeit, die große Hungersnot (Widerspruch rechts). Das wollen Sie bestreiten?“ (Zuruf von rechts: Nach jedem Krieg wird es besser!).6
„Nach jedem Krieg wird es besser,“ sagten die Kriegsbegeisterten ahnungslos am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Und nach der Aufrüstung wird es sicherer, suggerieren die Waffenlobbyisten uns heute. Wozu dient aber die Aufrüstung? Zur Abschreckung des „potenziellen Aggressors“ Russland, antworten die Kriegsfalken.
Wir beobachten inzwischen in Deutschland eine allmähliche und unaufhaltsame Transformation der „Friedensgesellschaft“ in eine Kriegs- und „Rüstungsgesellschaft“7. Dieser Prozess hat bereits in den 1990er-Jahren begonnen. Schon 2005 führte Anna Geis den Wandel in der deutschen Außenpolitik seit der Wiedervereinigung u. a. auf einen „erweiterten Sicherheitsbegriff“ und einen „Wandel des Kriegsbildes“ zurück.8
Ohne eine Veränderung der geo- und sicherheitspolitischen Architektur in Europa nach dem Untergang der Sowjetunion wäre dieser Wandel des Sicherheitsbegriffs und des Kriegsbildes unvorstellbar. Der Wandel zeichnete sich in der Berliner Republik bereits um die Mitte der 1990er-Jahre ab, der seinen prägnanten Ausdruck in der Äußerung des Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung der Nato, Karsten Voigt (1994-1996), in der Bundestagsdebatte vom 13. Dezember 1996 gefunden hat: „Zwei Lehren …, nicht nur eine, sind aus der deutschen Geschichte zu ziehen … Die eine Lehre lautet, dass nie wieder andere Völker unter der Gewalt des deutschen Militärs leiden dürfen. Die andere Lehre lautet: Insbesondere wir Deutschen dürfen nie wieder wegschauen, wenn anderen Völkern Gewalt angedroht wird.“9
Die Lehre aus der deutschen NS-Vergangenheit für die Gestaltung der Außen- und Sicherheitspolitik der Bonner Republik: „Nie wieder Krieg“, die 40 Jahre lang einen „antimilitaristischen Konsens“ der alten Bundesrepublik prägte, wurde nunmehr durch eine neue Handlungsmaxime der Berliner Republik „Nie wieder wegschauen“ relativiert.
Diese neue Handlungsmaxime ist alles andere als harmlos. Sie markiert einerseits das neu gewonnene Selbstbewusstsein und einen außenpolitischen Gestaltungsanspruch des wiedervereinigten Deutschlands, andererseits aber der Beginn einer Loslösung von einem defensiven, antimilitaristischen Charakter der deutschen Außenpolitik der Nachkriegszeit. Damit wurde eine bedingungslose, anti-bellizistische Einstellung der deutschen Außenpolitik im „Kalten Krieg“ relativiert und unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit aufgegeben.
Von einer harmlos klingenden Formel „Nie wieder wegschauen“ über den Einsatz der deutschen Streitkräfte jenseits von Landes- und Bündnisverteidigung bis zur tonnenweisen Lieferung von Waffen in das ukrainische Kriegsgebiet erstreckt sich diese Militarisierung der deutschen Außenpolitik.
Und nun erreicht sie mit der geplanten massiven Aufrüstung ihren vorläufigen Höhepunkt. Die Aufrüstung ist auf die Zukunft gerichtet und dient vor allem dazu, den potentiellen Gegner abzuschrecken. Aufrüstung und Abschreckung gehören untrennbar zusammen und wir kehren offenbar mit unserer Aufrüstungspolitik zu Zeiten des „Kalten Krieges“ zurück, in denen Abschreckung (deterrence) eine der zentralen Kategorien der Systemkonfrontation war.
Nun stellt sich allerdings die Frage, ob eine auf Aufrüstung gesetzte Abschreckungspolitik nicht anachronistisch ist und sich als eine grandiose sicherheitspolitische Fehlkalkulation entpuppen könnte. Was geschieht nämlich, wenn die Abschreckung fehlschlägt?
Die Frage wurde von Dieter Senghaas bereits 1969 inmitten des „Kalten Krieges“ gestellt.10 Bezogen auf unsere Gegenwart, ist die Abschreckung indes politisch und militärisch unglaubwürdig geworden, und zwar nicht zuletzt deswegen, weil weder die Bundeswehr militärisch auf den Ernstfall als Folge eines mangelnden konventionellen Waffen- und fehlenden Nuklearpotenzials vorbereitet noch die deutsche (und europäische) Wohlstandsgesellschaft darauf mental und psychologisch eingestellt ist.
Kissinger vertrat einst die These, dass ein plötzlicher thermonuklearer Krieg („surprise attack“), „der auf eine seelisch unvorbereitete Bevölkerung trifft“, unter Umständen den Verlust des Vertrauens in die soziale Ordnung und in die Regierung zur Folge haben könnte.11
Die Disziplin der Bevölkerung und Zivilverteidigungsmaßnahmen gelten mit anderen Worten in der Abschreckungsstrategie „als Aktivposten im strategischen Kalkül der Glaubwürdigkeit politischer und militärischer Präsenz.“12
Diese Voraussetzungen fehlen heute vollständig, zumal die Abschreckung ihre Wirkmächtigkeit längst verloren hat, weil sie von Freund wie Feind nicht mehr ernstgenommen wird. Frieden wird es daher entweder jenseits von Abschreckung und Aufrüstung oder gar nicht geben.
Dass diese These nicht ganz falsch ist, zeigt die Lehre, die wir aus der Geschichte der 1980er-Jahre ziehen können. Die von Michail Gorbačov eingeleitete Perestrojka hat eine Verständigung zwischen Ost und West gebracht, die ihrerseits über Abrüstung statt Aufrüstung und Abschreckung zur friedlichen Beilegung des Ost-West-Konflikts geführt hat.
Dass es in den 1990er-Jahren nicht gelungen ist, diesen erfolgreichen und vielversprechenden Ansatz weiterzuentwickeln und eine geo- und sicherheitspolitische Verständigung zwischen Russland und den Nato-Staaten zu erzielen sowie eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur aufzubauen, dafür trägt die Nato-Osterweiterungspolitik eine direkte Verantwortung.
Die von Egon Bahr 1994 geforderte „neue Ostpolitik“13 hatte nicht den Hauch einer Chance auf ihre Realisierbarkeit in Anbetracht dessen, dass die Clinton-Administration im gleichen Jahr 1994 die fatale Entscheidung für die Nato-Expansionspolitik getroffen und Bahrs zutreffende Erkenntnis zunichtegemacht hat:
Der Kern der europäischen Stabilität ist … weniger die Frage des Verhältnisses Russlands zur Nato, sondern die gesicherte Stabilität der russischen Grenzen. Die garantierte Stabilität der russischen Grenzen ist die beste Sicherheitsgarantie für alle Staaten zwischen Nato und Russland. Verteidigung vor Russland oder Sicherheit mit Russland – das wird die Alternative.“14
Diese Alternative wurde nie in Angriff genommen und stand nie zur Diskussion. Für dieses Versagen trägt der „Westen“ die Hauptverantwortung und wir zahlen dafür heute mit dem Krieg in der Ukraine einen hohen, sehr hohen Preis.
Anmerkungen
1. Senghaas, D., Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit (1969). Frankfurt
31981, 289.
2. Protokoll der Ministerratssitzung vom 4. September 1934. Zitiert nach Dallin, A., Deutsche Herrschaft in
Russland 1941 – 1945. Düsseldorf 1981, 21.
3. Zitiert nach Dallin (wie Anm. 2), 22.
4. Hillgruber, A., Das Russlandbild der führenden deutschen Militärs vor Beginn des Angriffs auf die
Sowjetunion, in: des., Die Zerstörung Europas. Beiträge zur Weltkriegsepoche 1914-1945. Berlin 1988, 256-
272 (256).
5. Zitiert nach Dallin (wie Anm. 2), 64.
6. Zitiert nach Geiss, I., Studien über Geschichte und Geschichtswissenschaft. Frankfurt 1972, 46.
7. Das Gegensatzpaar „Friedensgesellschaft“ versus „Rüstungsgesellschaft“ stammt von Dieter Senghaas (wie
Anm. 1), 147.
8. Geis, A., Die Zivilmacht Deutschland und die Enttabuisierung des Militärischen. HSFK- Standpunkt Nr.
2/2005; siehe dazu auch Silnizki, M., Von Friedenspolitik zur Kriegspolitik. Die Militarisierung der
deutschen Außenpolitik. 9. November 2024, www.ontopraxiologie.de.
9. Karsten Voigt, in: Das Parlament vom20./27.12.1996; zitiert nach Geis (wie Anm. 8).
10. Senghaas (wie Anm. 1), 173 ff.
11. Kissinger, H., Kernwaffen und auswärtige Politik. München 1959; zitiert nach Senghaas (wie Anm. 1), 177.
12. Senghaas (wie Anm. 1), 178.
13. Näheres dazu Silnizki, M., Verteidigung vor Russland“ statt „Sicherheit mit Russland“? Im Zangengriff
zwischen „Sendungsideologie“ und Machtpolitik. 14. April 2024, www.ontopraxiologie.de.
14. Zitiert nach Silnizki (wie Anm. 13).