Verlag OntoPrax Berlin

Dreißig Jahre US-Russlandpolitik

Zwischen Ideologie und Expansion

Übersicht

1. Eine US-Bestandaufnahme der russisch-amerikanischen Beziehungen
2. Geostrategische Dysfunktionalität der US-Russlandpolitik
3. Von der Weltherrschaftspolitik zur hegemonialen Weltmachtpolitik?
4. Die Nato-Expansion und Russlands „Strategic Dept“

Anmerkungen

„Expansion is everything. I would annex the planets
if I could.“
(Cecil Rhodos)1

1. Eine US-Bestandaufnahme der russisch-amerikanischen Beziehungen

Vor knapp vier Jahren haben Eugene Rumer und Richard Sokolsky (senior fellows des Carnegie Endowment for International Peace) eine umfangreiche Studie „Thirty Years of U. S. Policy Toward Russia: Can The Vicious Circle Be Broken?“2 vorgelegt. Die Studie ist heute aktueller denn je. Auch heute stellt sich die Frage: Wie kann der Teufelskreis in den russisch-amerikanischen Beziehungen durchbrochen werden? Und kann er überhaupt durchbrochen werden?

Die Autoren der Studie haben zwei grundlegenden Leitideen: eine ideologische und eine sicherheitspolitische – identifiziert, welche die US-Russlandpolitik in den vergangenen dreißig Jahren maßgeblich geprägt haben:

  • Die USA weigerten sich Russland so, wie es ist, zu akzeptieren (a refusal to accept Russia for what it is) und versuchten sein politisches System zu reformieren. Der Kreml widersetzte sich dem Versuch, die US-amerikanischen Vorstellungen von Demokratie in und um Russland aufzuoktroyieren zu lassen, weil er darin eine Bedrohung der inneren Stabilität Russlands sah.
  • Die USA beharrten darauf, dass die Nato die einzig legitime Sicherheitsorganisation in Europa und Eurasien sei, und betrieben folglich eine Expansionspolitik der euro-atlantischen Sicherheitsarchitektur im eurasischen Raum, was in Moskaus Augen als eine Bedrohung der russischen Sicherheit angesehen wurde (insistence that NATO is the only legitimate security organization for Europe and Eurasia and the extension of the Euro-Atlantic security architecture to the Eurasian space surrounding Russia, which in Moscow’s eyes represented a threat to Russian security).

Die US-Führung habe des Öfteren die eigenen Fähigkeiten überschätzt, den Lauf der Ereignisse in Russland und die Entscheidungen in Kreml zu beeinflussen. Ungeachtet der Proteste Moskaus beharrte Washington immer und immer wieder auf sein Recht und seine Verantwortung, Russland zu belehren (When Moscow pushed back, Washington reasserted its right and responsibility to teach Russia), wie es seine inneren Angelegenheiten zu managen hat, statt den russischen Bedenken Rechnung zu tragen.

Daraus zogen die Autoren den Schluss, dass weniger US-Druck auf Russland mehr gebracht hätte und die russisch-amerikanischen Beziehungen dadurch viel produktiver gestaltet werden könnten. Das Problem sei nur, dass das amerikanische Russlandbild derart negativ bzw. toxisch (Russia’s image is toxic) sei, dass selbst dort, wo sich die Interessen Washingtons und Moskaus überschneiden, kaum eine Zusammenarbeit möglich und denkbar sei.

Russland sei dessen ungeachtet für die USA ein außerordentlich wichtiges Land, diagnostizieren Rumer und Sokolsky . Die US-Führung müsse darum eine realistische Russlandpolitik entwickeln, selbst wenn diese Aufgabe alles anders als einfach sei. Denn die russische Führung sehe ihr Land als eine Großmacht, die ihren eigenen Weg selbst bestimmen wolle und könne. Und als Großmacht betreibe Russland seine eigene Geopolitik, die durch die folgenden Charakteristika gekennzeichnet seien:

  • Es akzeptiere nicht „American primacy“ und strebe eine Transformation der unipolaren in eine multipolare Weltordnung an.
  • Es lehne kategorisch „democracy promotion“ ab, hinter der sich ihrer Meinung nach nichts weiter als „regime change“ verberge. Im Gegensatz dazu bestehe es auf die eigenen „Einflusssphären“ (a sphere of influence) und verbiete sich jede amerikanische Einmischung.
  • Es schüre einen Antiamerikanismus zwecks einer Legitimierung der eigenen innerpolitischen Position.

Die entstandenen Spannungen zwischen Russland und den USA erklärt die Studie damit, dass sich in den USA „the post–Cold War consensus“ herausgebildet und dass dieser Konsens dreierlei postuliert habe:

(a) die US-Vormachtstellung in der unipolaren Weltordnung;
(b) die Ablehnung jedweder Einflusssphären und schließlich
(c) „commitment to democracy promotion“.

Um aus der entstandenen Sackgasse („impasse“) herauszukommen, hat die Studie folgende Vorschläge unterbreitet:

  • Die USA müssen Prioritäten setzen und sich in ihrer Beziehung zu Russland im Wesentlichen auf zwei Themen konzentrieren: „the nuclear relationship and strategic stability“;
  • Man sollte Russlands innenpolitische Angelegenheiten den Russen überlassen,
  • Man sollte die Nato-Osterweiterung anhalten und zur ureigenen Aufgabe der Allianz – „mission of collective defense“ – zurückkehren;
  • Man müsse der Ukraine und Georgien zu verstehen geben, dass sie ihre Außenpolitik nicht auf den Nato-Eintritt gründen sollten.
  • Eine Sanktionspolitik gegen Russland solle überdacht werden.

Die Vorschläge – betont die Studie – garantieren zwar keine grundlegenden Veränderungen der russisch-amerikanischen Beziehungen. Dafür sollte der Kreml seinerseits die Außenpolitik fundamental ändern. Es ergibt aber keinen Sinn für die USA immer wieder ein und dieselbe Russlandpolitik zu verfolgen, in der Hoffnung doch irgendwann ein anderes Ergebnis erzielen zu können.

Mit Verweis auf einen einflussreichen amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr kommen Rumer/Sokolsky getreu der realistischen Schule der internationalen Beziehungen ernüchternd zu dem Schluss: „Sometimes it is best to find “proximate solutions to insoluble problems.” Diese durchaus realistische Bestandaufnahme der russisch-amerikanischen Beziehungen in den vergangenen dreißig Jahren und darauf gegründeten begrüßenswerten Vorschläge zur Verbesserung der russisch-amerikanischen Beziehungen fanden schon 2019 kein Gehör und werden heute in den Kriegsjahren 2022/23 erst recht ignoriert.

Die Frage ist nur: Was folgt aus dieser realistischen Analyse der dreißigjährigen russisch-amerikanischen Beziehungen für die künftigen Verhältnisse zwischen Russland und den USA vor dem Hintergrund der auf dem ukrainischen Boden stattfindenden militärischen Konfrontation und der sich daraus ergebenden geo- und sicherheitspolitischen Konsequenzen?

2. Geostrategische Dysfunktionalität der US-Russlandpolitik

Nach dem Ende des „Kalten Krieges“ sei laut Rumer/Sokolsky die Nato-Expansion zum „Hauptinstrument der US-Sicherheitspolitik in Europa und Eurasien“ (principal instrument of U.S. security policy in Europe and Eurasia) geworden. Sie spiegele das US-Engagement für die Einheit, Freiheit, Demokratie und den Frieden in Europa wider. In der Nato-Allianz sahen die USA „das Vehikel des Transformationsprozesses auf dem europäischen Kontinent nach dem Ende des Kalten Krieges“ (the vehicle of the continent’s post–Cold War transformation).

Diese amerikazentrierte Interpretation dessen, was im postsowjetischen Raum der 1990er-Jahre passiert ist, ist sehr aufschlussreich, zeigt sie doch die fehlenden Kenntnisse des außenpolitischen Establishments über den Transformationsprozess im Russland der 1990er-Jahre. Dass das US-Engagement in Europa der Freiheit, Demokratie und Frieden dienen soll, ist eine gängige ideologische Legitimierung der US-Außen- und Geopolitik. Dass die Nato-Allianz „das Vehikel“ der Transformation auch im postsowjetischen Raum bzw. „Eurasien“ war, ist allerdings nur bedingt zustimmungsfähig, behauptet sie doch nicht mehr und nicht weniger, als dass die Nato-Expansion erforderlich wäre, um den Transformationsprozess in Eurasien militärisch abzufedern.

Diese Deutung der ökonomischen und politischen Transformation des postsowjetischen Russlands der 1990er-Jahre und danach ist einerseits nicht nur ahistorisch, sondern geradezu auch abwegig. Vor dem Hintergrund der tatsächlich geoökonomisch stattgefundenen Entwicklungen und geopolitischen Lehren und Doktrinen der 1990er-Jahre ist sie aber andererseits alles anderes als gegenstandslos.

Insbesondere vom Standpunkt der „imperialen Geostrategie“ Brzezinskis 3 ist die Deutung durchaus nachvollziehbar. So ahistorisch sie auch sein mag, so kann man ihr darüber hinaus allein schon in Anbetracht der sog. „Schocktherapie“ im Stil des IWF eine gewisse Berechtigung nicht absprechen.4

Die geopolitische und geoökonomische Gemengelage war also in Theorie und Praxis viel komplexer und verworrener, als dass man sie nur monokausal erklären kann. Dieser Art von „post–Cold War transformation“ lagen in der Tat nicht nur marktwirtschaftliche Reformen, sondern auch und insbesondere geoökonomische, geopolitische und sogar auch geokulturelle Kolonisation des eurasischen Raumes zugrunde. Eine so verstandene „post–Cold War transformation“ hatte vor allem in der Ukraine aus US-amerikanischer Sicht einen durschlagenden Erfolg. Den USA ist es nämlich tatsächlich gelungen, die Ukraine (insbesondere nach 2014) in die US-amerikanische Einflusssphäre voll und ganz zu „integrieren“.

Dass diese „Integration“ sich als Pyrrhussieg erweisen sollte und letztendlich zum blutigen Konflikt zwischen Russland und den USA auf dem ukrainischen Boden auch geführt hat, zeigt eben das ganze geostrategische Dilemma der US-Russlandpolitik, in deren Mittelpunkt die Nato-Expansion stand. Zu Ende gedacht, sollte die Nato-Expansionspolitik die Kulmination einer geoökonomischen, geopolitischen und geokulturellen Entwicklung sein, die zur Domestizierung des postsowjetischen Raumes geführt hätte, was lediglich im Falle der Ukraine zumindest de facto auch geklappt hat.5 Es wäre dann nur folgerichtig, dass am Ende dieses Prozesses die Aufnahme der Ukraine in die Nato-Allianz auch de jure hätte stattfinden müssen.

Dass es dazu nicht gekommen ist, ist allein dem entschiedenen Widerstand Russlands geschuldet, der seit dem 24. Februar 2022 in einen blutigen Krieg ausartete. Hätten die US-Geostrategen die jahrhundertelange Tradition der russischen Geopolitik besser gekannt, hätten sie mit einer solchen Entwicklung rechnen müssen und manche namhaften US-amerikanischen Russlandkenner haben auch damit gerechnet.6

Geht man nun von den zwei aufgestellten Postulaten der Studie aus, dass nämlich (a) die Nato-Expansion „the principal instrument of U.S. security policy in Europe and Eurasia“ und (b) die Nato an und für sich „the vehicle of the continent’s post–Cold War transformation“ sei, so muss die nachfolgende Feststellung, dass „NATO’s expansion has not necessarily been directed against Russia,“ umso mehr irritieren.

Wozu braucht man dann die Nato als eine militärische Allianz, wenn sie nicht als „principal instrument“ und „vehicle“ zur Eindämmung („containment“) und Abschreckung eines potentiellen geopolitischen Rivalen dienen sollte? Dass ein solcher potentieller geopolitischer Rivale nur Russland auf dem eurasischen Kontinent sein könnte, hat Paul D. Wolfowitz bekanntlich bereits im Jahr 1992 vorausgeahnt. In seinem 1992 konzipierten Präventivstrategiepapier „Defense Planning Guidance“ setzte Wolfowitz darum zum Ziel der amerikanischen Geopolitik, „den Aufstieg neuer Rivalen überall zu verhindern – also das Emporkommen der Staaten, die Washington feindlich gesinnt seien, und den Aufstieg demokratischer US-Verbündeter wie Deutschland und Japan.“7

Nun wissen wir heute, dass weder Deutschland noch Japan, wohl aber Russland eine Bedrohung für die US-Hegemonialstellung in Europa geworden ist. Dass der US-Hegemon den Aufstieg der neuen geopolitischen und geoökonomischen Rivalen nicht verhindern konnte, müssen sich die Geostrategen in Washington dieses Versagen freilich vor allem sich selbst ankreiden. Die Gründe sind nicht schwer zu erkennen: Sie liegen in einer katastrophalen Fehleinschätzung des möglichen geopolitischen Wiederaufstiegs Russlands und einer fulminanten ökonomischen Entwicklung Chinas. Eine eigene ideologische, ökonomische, monetäre und militärische Selbstüberschätzung und eine maßlose Unterschätzung der geopolitischen Rivalen standen hier im Wege.

Einer derartigen Fehleinschätzung unterlag nicht nur Obama , der Russland als „Regionalmacht“ verspottete, sondern auch kein geringerer als das Urgestein der US-Geostrategie Zbigniew Brzezinski . Dass der Zusammenbruch des Sowjetimperiums „ein Machtvakuum“ bzw. „geopolitisches Vakuum“ hinterließ, das von den USA geostrategisch gefüllt werden musste, dafür plädierte Brzezinski dezidiert noch im Jahre 1997 in seinem Werk „The Grand Chessboard. American Primacy and Its Geostrategic Imperative“. Zustimmend zitiert er Harold Mackinders berühmten „Herzland“-Syllogismus:

„Wer über Osteuropa herrscht, beherrscht das Herzland.
Wer über das Herzland herrscht, beherrscht die Weltinsel.
Wer über die Weltinsel herrscht, beherrscht die Welt.“8

Im Sinne dieses „Herzland“-Syllogismus stellt Brzezinski seine eigenen „drei großen Imperative imperialer Geostrategie“ auf, indem er Mackinders Conclusio: „Wer über die Weltinsel herrscht, beherrscht die Welt“ zur US-Geostrategie der Weltherrschaft umdefiniert und „entsprechend dem Doppelinteresse Amerikas an einer kurzfristigen Bewahrung seiner einzigartigen globalen Machtposition und an deren langfristiger Umwandlung in eine zunehmend institutionalisierte weltweite Zusammenarbeit“ umformuliert:

  • Die Stärkung der Vasallenabhängigkeit von der US-Sicherheitspolitik;
  • Die Gewährleistung der Fügsamkeit der tributpflichtigen Staaten;
  • Die Bündnisverhinderung der „Barbarenvölker“.9

Lässt man die vergangenen fünfundzwanzig Jahre (1997-2022) Revue passieren, so kann man feststellen, dass Brzezinskis „drei große Imperative“ nicht zu einem durschlagenden Erfolg bei der Aufrechterhaltung der seit dem Ende der Bipolarität entstandenen „einzigartigen globalen Machtposition“ Amerikas geführt haben.10

Brzezinskis „imperialer Geostrategie“ folgend, erweist sich die Nato nicht so sehr als „the vehicle of the transformation“ als vielmehr als das Vehikel der US-Hegemonialpolitik in Europa und Eurasien. Demgegenüber beharren Rumer/Sokolsky auf die ideologisch fundierten Postulate der Nato- Expansionspolitik, indem sie im Gegensatz zu Brzezinskis „imperialer Geostrategie“ die Nato- Expansion ideologisch zu legitimieren versuchen: „Die Nato war und bleibt eine auf den gemeinsamen demokratischen Werten basierte Allianz“ (NATO was and remains an alliance based on shared democratic values).

Und so sehen wir die ganze Tragik der US-Russlandpolitik. Denn weder Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ noch die ideologisch geleitete Nato-Expansionspolitik waren zielführend. Der „imperialen Geostrategie“ ist es nicht gelungen, das „Bündnis“ der „Barbarenvölker“ zu verhindern. Und die ideologisch fundierte Nato-Expansion konterkarierte wiederum Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ und brachte die US-geostrategische Offensive in Eurasien zum Fall.

Bis heute orientiert sich die US-Russlandpolitik an dieser verfehlten Strategie, ohne deren Scheitern analysieren, geschweige begreifen zu wollen. Denn indem die Ideologie die Geopolitik wie zu Zeiten des Ost-West-Konflikts priorisiert, unterminiert sie automatisch zumindest Brzezinskis dritte „große Imperative imperialer Geostrategie“: Die Bündnisverhinderung der „Barbarenvölker“. Kissinger hat uns Anfang der 1970er-Jahre gezeigt, dass es auch anderes gehen kann.

Offenbar blendet das gegenwärtige US-Establishment die eigene erfolgsreiche Geschichte der US-Außenpolitik aus Übermut und/oder Ignoranz aus. Der Auslöser der ideologisch fundierten US- Russlandpolitik war Clinton . In seiner 1994 gehaltenen Rede „State of the Union“ formulierte er das ideologische Motto seiner Außen- und Sicherheitspolitik: „democracies do not attack each other.“11

Daraus wurde der Schluss gezogen, dass die Demokratisierung der neuen Nato-Mitglieder die Sicherheit in Europa stärken würde. Und so wurde die Nato – schlussfolgerten Rumer/Sokolsky – „zum Instrument der Förderung der Demokratie“ (NATO became an instrument of democracy promotion).

Dass diese ideologische Leitidee: „democracies do not attack each other“ nicht nur Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ konterkarierte, sondern auch die US-Außenpolitik militarisierte bzw. „die Enttabuisierung des Militärischen“ (Lothar Brock ) auslöste, will die US-Außen- und Geopolitik bis heute nicht wahrhaben.

Es war ein tiefsinniger, aber viel zu früh verstorbener deutscher Gelehrter, Herbert Dittgen (1956-2007), der bereits im Jahr 1996 geradezu prophetisch darauf hingewiesen hat, dass die „Gefahr von militärischen Kreuzzügen im Namen der Demokratie unübersehbar“ sei,12 sollte der Westen seine ideologischen Postulate von Demokratie und Menschenrechten gegenüber den nichtwestlichen Kultur- und Machträumen kompromisslos durchsetzen wollen. Und so ist es, wie Dittgen vorausgesehen hat, auch gekommen.

Wenn man die ideologischen Postulate in der Außenpolitik priorisiert bzw. zu priorisieren vorgibt und zur Richtschnur der Geo- und Sicherheitspolitik stilisiert, dann, ja dann bekommen wir das, was wir heute in der Ukraine haben: den blutigen Konflikt. Die doppelte Zielsetzung des Nato-Bündnisses („the alliance’s dual purpose“): „as a defense organization and instrument of democracy promotion“ ist zum Verhängnis bzw. „a major irritant in the United States’ relations with Russia“ nach dem Ende des Ost-West-Konflikts geworden.

Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts befindet sich die Nato ja selber in einem dramatischen Transformationsprozess: Aus einem defensiven Bündnis ist eine offensive Allianz geworden. Diese Entwicklung ging Hand in Hand mit einer Transformation der USA von einer liberalen Alternative zum Sowjetkommunismus (zurzeit des Ost-West-Konflikts) zu einem weltbeherrschenden Hegemonen.

Vom Liberalismus zum Hegemonismus ! So könnte man diesen Wandel der US-Außen- und Weltpolitik in den vergangenen dreißig Jahren charakterisieren.

Solange die USA die Nato immer noch als „the only legitimate and viable security manager for Europe and Eurasia, and its expansion … the only sensible policy for the entire region“ (Rumer/Sokolsky ) betrachten, wird es keinen Frieden in Europa geben. Und solange die EU-Europäer das nicht begreifen, wird die Gefahr eines Übergreifens des Ukrainekonflikts auf die anderen Regionen Europas akut bleiben. Ob eine solche Zukunftsperspektive im Interesse der EU-Europäer liegt?

3. Von der Weltherrschaftspolitik zur hegemonialen Weltmachtpolitik?

Die Nato-Expansion und die Verbreitung der Demokratie in Russland waren nach Rumers/Sokolskys Auffassung „the quintessential manifestation of the broader U.S. global strategy since the end of World War II.“ und sie haben die US-Russlandpolitik wesentlich geprägt. Diese US-Russlandpolitik würde selbst dann fortgesetzt, als mit der Krim-Eingliederung in die Russländische Föderation im Jahr 2014 „the end of the post–Cold War era“ besiegelt wurde.

„Gab es überhaupt eine Chance eine solche Entwicklung zu vermeiden?“ Um diese Frage beantworten zu können, betrachtet die Studie die US-amerikanische Russlandpolitik im Zusammenhang mit der „U.S. Grand Strategy“. Zur Unterstützung ihrer Analyse zitieren die Autoren Stephen Walts „The Hell of Good Intentions: America’s Foreign Policy Elite and the Decline of U.S. Primacy (New York: Farrar, Straus and Giroux, 2018, 54, 62). Der Politikwissenschaftler der Harvard University ist der Überzeugung, dass die US-Außenpolitik seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf „a grand strategy of >liberal hegemony<“ zurückzuführen sei. Das Ziel dieser sog. „liberalen Hegemonie“ sei

(1) eine Aufrechterhaltung der militärischen Überlegenheit der USA („preserving US primacy, especially in the military sphere“);
(2) eine Erweiterung der US-Einflussphäre („expanding the US sphere of influence“) und
(3) eine Propagierung der liberalen Normen von Demokratie und Menschenrechten („promoting liberal norms of democracy and human rights“).

Mit dieser dreifachen Zielsetzung erweist sich diese ideologisch inspirierte „liberale Hegemonie“ als nichts anderes als eine Fortsetzung des „Kalten Krieges“ mit anderen Mitteln. Von einer solchen „U.S. Grand Strategy“ meinte Henry Kissinger noch zurzeit des „Ost-West-Konflikts“: Sie wurde entweder von „Theologen“ oder „Psychiatern“ konzipiert.13

Wenn also diese „U.S. Grand Strategy“ einerseits – als „liberale Hegemonie“ konzipiert – ideologisch bestimmt ist, dann ist die These von „the end of the post–Cold War era“ unzutreffend, weil „the Cold War“ im Grunde nie aufgehört hat zu existieren.14 Andererseits camoufliert die ideologisch geleitete „U.S. Grand Strategy“ eine expansive Ausrichtung der US-Russlandpolitik, die mit der inmitten des Zweiten Weltkrieges stammenden „One World“-Vision der US-amerikanischen Führungselite nicht zu verwechseln ist. „A grand strategy of >liberal hegemony<“ kann darum – wie Stephen Walt behauptet – ursprünglich nicht ohne weiteres auf das Ende des Zweiten Weltkrieges zurückgeführt werden.

Die „One World“-Vision ist ein ganz anderes Konzept als das der „U.S. Grand Strategy“ im Gewande der „liberalen Hegemonie“. Diese Vision wurde vom US-Kriegsminister Henry L. Stimson (1940-1945) in seiner Rede vom 9. Juli 1941 am prägnantesten formuliert, als er die Auffassung vertrat, dass die Welt heute zu klein für zwei einander entgegengesetzte Systeme sei. Dieser Vision lag die Idee der Kooperation statt Destruktion, Entspannung statt Konfrontation, Deeskalation statt Expansion zugrunde und sie war darum eher liberal und ideologiefrei denn hegemonial fundiert. Im Gegensatz dazu ist die „U.S. Grand Strategy of >liberal hegemony<“ im Grunde nicht liberal , sondern hegemonial .

Der Ausdruck „liberale Hegemonie“ ist bereits an und für sich contradictio in adjecto . Eine Außenpolitik kann entweder liberal oder hegemonial , aber eben nicht liberal-hegemonial sein. Liberalität verträgt keine Hegemonie und Hegemonie negiert jedwede Liberalität, weil die eine unterwirft, was die andere befreit. Wie >Unterwerfung<, >Befreiung< und >Freiheit< Hand in Hand gehen sollten, haben die sog. „liberalen Hegemonisten“ bzw. „liberalen Internationalisten“ bis heute nicht erklären können.

Darum empörte sich Ingeborg Maus bereits 1999 über diese „U.S. Grand Strategy“. Mit ihrem universalistischen Anspruch auf eine gleichförmig und uniform organisierte Weltgemeinschaft gefährde die US-Hegemonialordnung ihrer Meinung nach „das Kontinuum von Menschenrechten und Volkssouveränität nach zwei Richtungen hin“: „Die je gesellschaftsspezifische der universalistischen Menschenrechtsprinzipien und die Fähigkeit zu demokratischer Selbstorganisation würden gleichermaßen durch die globalen Zentralinstanzen usurpiert. … Die Institutionalisierung einer Weltpolitik bedeutete die endgültige Isolierung und Zerstörung der Menschenrechte. Globale Instanzen könnten in jeder Gesellschaft dieser Welt ihre Lesart von Menschenrechten gegen die dort vorherrschenden Lesarten militärisch durchzusetzen. Auch hier würde die gesamte Weltbevölkerung zum bloßen >Material< der Menschenrechtsverwirklichung.“15

Der „U.S. Grand Strategy“ der „liberalen Hegemonie“ geht es darum nicht so sehr um Demokratie und Menschenrechte als vielmehr um eine hegemoniale Weltmachtpolitik , die nichts anderes als eine Neuauflage des europäischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts im US-amerikanischen Gewand ist.

Erst mit dem Zeitalter des europäischen Imperialismus (1884-1914) ist – glaubte Hannah Arendt zu wissen – „so etwas wie Weltpolitik“ entstanden, ohne welche der imperialistische Anspruch auf Weltherrschaft „keinen Sinn gehabt hätte“.16

Diese sog. „Weltpolitik“ müsste eigentlich Weltherrschaftspolitik heißen, die später nahtlos in eine Geopolitik überging. Der vom Schweden Johan Rudolf Kjellén (1864-1922) um die Jahrhundertwende zum ersten Mal verwendete Begriff Geopolitik spiegelt adäquater jene Expansionspolitik des europäischen Imperialismus wider, die der Alldeutsche und Nationalliberale, Prof. Ernst Hasse , in seinem Werk „Deutsche Politik“ (1908) als „etwas Krankhaftes, etwas Größenwahnsinniges“ bezeichnete.17

Die europäische Machtstaatspolitik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts reflektierend, schreibt Hasse : „Wenn man bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts vom europäischen Gleichgewicht sprach, so wird man für diesen Begriff heute einen neuen Ausdruck finden müssen, indem man etwa von der Gleichberechtigung der Weltmächte spricht. Eine Verkennung dieser Gleichberechtigung finden wir in dem Bestreben von Weltmächten sich zu Mächten von noch größerer Macht zu entwickeln. … Man meint Weltmächte, die eine Herrschaft über die ganze bewohnte Erde oder über einen oder mehrere Erdteile in Anspruch nehmen, Weltherrschaft“ (ebd.).

Was Hesse hier reflektiert, ist eine Entwicklung der europäischen Großmächte zu den Weltmächten in der Blütezeit des europäischen Kolonialismus. Aus Angst, dass das Deutsche Reich sein Stück Kolonialkuchen von einer „Neuaufteilung der Erde“ nicht bekommt, fordert er die „Gleichberechtigung der Weltmächte“. So wie das „Europäische Mächtekonzert“ seit 1814 unter den Bedingungen des europäischen Gleichgewichts in Kontinentaleuropa erfolgreich funktionierte, so müsse genauso ein >Europäisches Weltkonzert< entstehen und nach dem Gleichberechtigungsprinzip auch bei der Verteilung des Kolonialkuchens funktionieren.

Denn sollte die „Gleichberechtigung der Weltmächte“ nicht funktionieren, dann steht im Grunde auch das „Europäische Mächtekonzert“ zur Disposition. Das ist eigentlich die geopolitische Dimension der weltweiten Expansionspolitik der europäischen Großmächte, die sich zur Weltherrschaftspolitik entwickelt und letztendlich zur Sprengung und Zerstörung des „europäischen Mächtekonzerts“ geführt hat.

Im Gegensatz zu Ernst Hasse , der lediglich von einem gleichberechtigten Platz für das Deutsche Reich unter der Kolonialsonne träumte und die künftigen Entwicklungen nicht vorwegnehmen konnte, wissen wir heute, dass diese europäische Weltherrschaftspolitik statt zu einem >Europäischen Weltkonzert< zum Ersten Weltkrieg geführt hat.

Ohne die Zukunft vorwegnehmen zu können, hatte Hasse dennoch eine böse Vorahnung, als er anschließend irritiert feststellte: „Ausdehnungsbestrebungen von diesem Umfange haben in der Tat etwas Krankhaftes, etwas Größenwahnsinniges und man dürfte deshalb wohl auch vom Größenwahnsinn … reden, vielleicht auch von dem eines Chamberlain“ (ebd.).

Hätte Hasse gewusst, dass sich hinter dieser europäischen Weltherrschaftspolitik keine psychopathologischen Phänomene, sondern eine knallharte geopolitische Logik der Expansion verbirgt, hätte er sicherlich ganz andere Schlüsse ziehen können. Seine weiteren Ausführungen zeigen dennoch, wie tiefsinnig und geradezu genial er die künftigen Entwicklungen vorweggenommen hat, ohne dessen bewusst zu sein, und wie aktuell seine nachfolgenden Überlegungen heute noch sind: „Auffälligerweise sind die Bestrebungen zur Ausrichtung von Weltreichen in den meisten Fällen verquickt gewesen mit den Bestrebungen zur Herstellung des sogenannten ewigen Friedens. Gewiss ist es rein äußerlich betrachtet richtig, dass da, wo Gegner nicht mehr bestehen, wo alles einem einzigen Wilen gehorcht, dass da Kriege nicht mehr geführt zu werden brauchen“ (ebd.).

Man hört in diesen vor mehr als hundert Jahre niedergeschriebenen Argumenten die heutigen Apologeten des „ewigen Friedens“ – die Kreuzritter der „liberalen Hegemonie“: Wo es keine Gegner gibt und „alles einem einzigen Wilen gehorcht“, gibt es keine Kriege, ergo: „democracies do not attack each other“ (Clinton ).

„Aber“ – wandte sich Hasse sogleich gegen diese Apologetik – „es war doch entweder ein Selbstbetrug oder eine Maske, wenn die Welteroberer die von ihnen entfachten Weltkriege mit dem Ziel des ewigen Friedens zu begründen oder zu entschuldigen trachteten. Denn der Gedankenfehler bestand eben darin, dass eine Weltherrschaft niemals wirklich und restlos aufgerichtet werden kann.“ „Jedenfalls“ – schlussfolgerte Hasse – „haben aber die Bemühungen, einen ewigen Frieden herzustellen, jedes Mal zu nahezu ewigen Kriegen geführt“ (ebd., 3 f.).

Nannte Hasse im Jahr 1908 den „ewigen Frieden“ als einen „Selbstbetrug oder eine Maske“, mit deren Hilfe „die Welteroberer … Weltkriege … zu begründen oder zu entschuldigen trachteten“, so sprechen die „liberalen Hegemonisten“ bzw. „Internationalisten“ heute von „promoting liberal norms of democracy and human rights“, mit deren Hilfe sie auch und nicht zuletzt ihre sog. „humanitären Interventionen“ zu legitimieren trachten.

Statt einer „Demokratie“ bekommen wir freilich noch mehr Tyrannei, noch mehr Kriege und noch mehr Vernichtung von Menschenleben. Und statt „Menschenrechte“ wird die gesamte Weltbevölkerung „zum bloßen >Material< der Menschenrechtsverwirklichung“ (Ingeborg Maus ).

4. Die Nato-Expansion und Russlands „Strategic Dept“

Das Zeitalter der unipolaren Weltordnung unter der Führung des US-Hegemonen dauerte genauso, wie das Zeitalter des europäischen Imperialismus (1884-1914), drei Jahrzehnte (1992-2022). Diese Epoche der europäischen und Weltgeschichte ist nunmehr mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine am 24. Februar 2022 zu Ende gegangen.

Die vergangenen dreißig Jahre haben sich als unfähig erwiesen, neue Regeln für die gesamteuropäische Sicherheitsordnung zu bilden. Die auf den USA als der europäischen Ordnungsmacht aufgebaute Sicherheitsordnung ist gescheitert, weil sie einen Krieg auf dem kontinentaleuropäischen Boden nicht verhindern konnte. Wie konnte es dazu überhaupt kommen? Der Grund liegt in einem – wenn nicht ausschließlichen, so doch entscheidenden – Grundprinzip der US-dominierten europäischen Sicherheitsarchitektur: in der Nato-Expansionspolitik .

In der trügerischen Ruhe und Sicherheit verweilend, glaubten die EU-Europäer Russlands Widerstand gegen die Nato-Osterweiterung aus Machtarroganz ignorieren zu können. Der schwelende Konflikt hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten derart hochgeschaukelt, dass er zum explosiven Gemisch von Drohung und Gegendrohung, Provokation und Gegenreaktion, Expansion und Eskalation geworden ist, bis er sich nun am 24. Februar 2022 in einem blutigen Ukrainekonflikt entlud.

„Unprovoziert“ nennt der Westen heute diesen Konflikt, wohl wissend, dass er selber derjenige war, der Russlands Sicherheitsinteressen stets ignorierte, die Konfrontation billigend in Kauf nahm und eine Eskalation kaltblütig provozierte. Offenbar haben die EU-Europäer ihre zwar „glorreiche“, nicht desto weniger aber gescheiterte Geschichte des „europäischen Imperialismus“ längst vergessen, sonst hätten sie die Folgewirkung der Nato-Expansionspolitik ernstgenommen.

Expansion war laut Hannah Arends zutreffender Diagnose „das neue Prinzip des Zeitalters, das alles in Bewegung brachte. Im Namen dieses Prinzips hat die europäische Menschheit sich in wenigen Jahrzehnten über die ganze Erde >ausgedehnt<.“18 Einer der markantesten Persönlichkeit – der Kolonialherr Cecil Rhodes (1853-1902) – hat diese Epoche der europäischen Weltherrschaftsgeschichte am eindrucksvollsten charakterisiert: Da „Ausdehnung alles ist, und da die Oberfläche der Welt beschränkt ist, muss es unsere Aufgabe sein, so viel von ihr zu nehmen, als wir irgend haben können.“19

Und genau diese Intention von Cecil Rhodes liegt der Nato-Expansionspolitik zugrunde. Die US-Hegemonialordnung erwies sich immer mehr als eine Neuauflage des Zeitalters des „europäischen Imperialismus“ und sie wird genauso glanzlos enden. Mit dem Ukrainekonflikt versucht der Westen nun sein eigenes imperiales Gehabe Russland vorzuwerfen. Nichts ist falscher als das!

Zu Recht weisen Rumer/Sokolsky daher darauf hin, dass es ein Fehler zu glauben wäre, dass Imperialismus und Revanchismus die einzigen Beweggründe der russischen Außenpolitik seien. Man darf auch die anderen Faktoren nicht ignorieren (It would be a mistake, however, to focus solely on imperialism and revanchism as the drivers of Russian foreign policy to the exclusion of other factors).

Aus der Kreml-Perspektive bedeute nämlich der Zerfall des Imperiums nicht nur ein Verlust an Status und Prestige, sondern auch und vor allem „der Verlust der strategischen Tiefe und Sicherheit“ (the loss of strategic depth and security). Nach dem Untergang der UdSSR verlaufe die westliche Grenze weniger als 500 km von Moskau. Russlands Bestreben – fügen Rumer/Sokolsky zutreffend hinzu -, „diese empfundene Verwundbarkeit“ (perceived vulnerability) zu kompensieren und zumindest teilweise „die strategische Tiefe“ (strategic dept) zurückzugewinnen, bestimmen im Wesentlichen die russische Außenpolitik (a major driver of Russian foreign policy).

Damit hat die Studie des Pudels Kern der russischen Außen- und Geopolitik getroffen. Nicht der Russland unterstellte „Imperialismus“ und „Revanchismus“, sondern die Rückgewinnung oder zumindest die Verstetigung eben dieser „Strategic Dept“ ist im Wesentlichen die Intention der russischen Geo- und Sicherheitspolitik. Dem steht zweifelsohne die Nato-Expansionspolitik im Wege.

Summa summarum stellt die Studie fest: Die russische Außenpolitik verfolgt drei voneinander untrennbare und aufeinander bezogene Ziele: die äußere Sicherheit, die innere Stabilität und die ökonomische Prosperität (physical security, domestic stability, and economic prosperity). Die Nichtrealisierung eines dieser Ziele bringe die schwerwiegenden Folgen für alle anderen mit sich.

Das alles überragende sicherheitspolitische Ziel der russischen Außenpolitik ist die Expansionspolitik der westlichen Allianz, die sich als „the only legitimate security organization for Europe and Eurasia“ gebärdet, um jeden Preis zu verhindern, weil sie Russlands nationale Sicherheit (Russian national security) und – man möchte hinzufügen – die Existenz Russlands bedrohe. Bei aller Erkenntnis dieses Sachverhaltes plädieren Rumer/Sokolsky dessen ungeachtet weiterhin für „NATO’s Open Door policy“ und folgerichtig für die grundsätzliche Fortsetzung der Nato-Expansionspolitik.

Diese kognitive Dissonanz ist umso erstaunlicher, wenn man den Schluss der Studie liest: Russland sei ein bedeutender Akteur auf der Weltbühne mit weitgehenden Ambitionen und signifikanten Möglichkeiten und seine Selbstaufgabe wäre in den 1990er-Jahren eher Ausnahme als Regel, sodass es den Verhandlungstisch zu Regulierung zahlreicher globaler Krisen und regionaler Konflikte nie räumen würde.

Diese Erkenntnis ist freilich nichts wert, solange das US-amerikanische außenpolitische Establishment eine historische Erfahrung mit dem Zeitalter des europäischen Imperialismus völlig ausblendet. Und diese Erfahrung lehrt uns, dass die Nato-Expansion und der damit eingehende Versuch, Russlands strategische Tiefe zu sprengen und Eurasien getreu Brzezinskis „imperialer Geostrategie“ zwecks einer dauerhaften Aufrechterhaltung der unipolaren Weltordnung unter der Führung des US-Hegemonen zu kolonialisieren, unweigerlich „die Gefahr der Tyrannis“ heraufbeschwört und die Gegenwehr auf den Plan ruft. „Dies wusste schon Robespierre, als er ausrief: >Périssent les colonies si elles nous en coutent l´honneur, la liberté<.“ 20

Dass die US-amerikanische Russlandpolitik aus Ignoranz oder Machtarroganz davon bis heute nichts wissen und hören will, zeigt nicht nur, wie gefährlich der gegenwärtig auf ukrainischem Boden ausgetragenen blutigen Konflikt zwischen Russland und den USA (und nur um diesen Konflikt geht es hier überhaupt), sondern weist auch auf den Mangel an Urteilskraft des außenpolitischen US-Establishments hin, der den Weltfrieden mit seiner Expansionspolitik gefährdet.

„Der Mangel an Urteilskraft“ ist bekanntlich „eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen“ (Immanuel Kant ). Wer nun glaubt, es kann nicht noch schlimmer werden, dem ist zu entgegnen: Es kann und es wird noch viel schlimmer werden, solange die gegenwärtigen US-Machteliten aus Mangel an geostrategische Weitsicht sich maßlos überschätzen.

Anmerkungen

1. Zitiert nach Arendt, H., Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München Zürich 1967, 218.
2. Rumer, E./Sokolsky, R., „Thirty Years of U. S. Policy Toward Russia: Can The Vicious Circle Be Broken?“ Carnegie Endowment for International Peace, 20. Juni 2019.
3. Näheres dazu Silnizki, M., Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ im Lichte der Gegenwart. Zum Scheitern Der US-amerikanischen Russlandpolitik. 9. November 2022, www.ontopraxiologie.de.
4. Vgl. Silnizki, M., Geoökonomie der Transformation in Russland. Gajdar und die Folgen. Berlin 2020, 14 ff.
5. Vgl. Silnizki, M., Ist die Ukraine ein Failed State? Eine verfassungshistorische und geopolitische Betrachtung. 7. September 2022, www.ontopraxiologie.de.
6. Vgl. Silnizki, M., Fluch oder Segen? Zur Diskussion über die NATO-Osterweiterung. 26. April 2022, www.ontopraxiologie.de; Silnizki, M., Putins Kontinentalmachtstrategie. Zur Ukrainepolitik als Anti Russlandpolitik. 25. Juli 2022, www.ontopraxiologie.de.
7. Zitiert nach Kubbig, B. W., Wolfowitz` Welt verstehen. Entwicklung und Profil eines „demokratischen Realisten“. HSFK 7 (2004).
8. Brzezinski, Z., Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft. Mit einem Vorwort von Hans-Dietrich Genscher. 2. Aufl. Frankfurt 1999, 63.
9. Brzezinski (wie Anm. 8), 65 f.
10. Näheres dazu Silnizki (wie Anm. 3).
11. Bill Clinton, “January 25, 1994: State of the Union Address,” Miller Center; zitiert nach Rumer/Sokolsky.
12. Dittgen, H., Das Dilemma der amerikanischen Außenpolitik: Auf der Suche nach einer neuen Strategie, in: Dittgen, H./Minkenberg, M. (Hrsg.), Das amerikanische Dilemma. Die Vereinigten Staaten nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Paderborn 1996, 291-317 (316).
13. Kissinger, H., Die Vernunft der Nationen. Über das Wesen der Außenpolitik. Berlin 1994, 784, 788.
14. Näheres dazu Silnizki, M., Gefangen im Gehäuse des „Kalten Krieges. Russland und die europäische Sicherheitsordnung. 23. November 2022, www.ontopraxiologie.de.
15. Maus, I., Der zerstörte Zusammenhang von Freiheitsrechten und Volkssouveränität in der aktuellen nationalstaatlichen und internationalen Politik (1999), in: ders., Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie. Berlin 2011, 359-374 (374).
16. Arendt (wie Anm. 1), 215.
17. Hasse, E., Deutsche Politik. Zweiter Band: Weltpolitik. Ernstes Heft: Weltpolitik, Imperialismus und Kolonialpolitik. München 1908, 3.
18. Arendt (wie Anm. 1), 218.
19. Zitiert nach Arendt (wie Anm. 1), 219.
20. Zitiert nach Arendt (wie Anm. 1), 221.

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