Diplomatische Winkelzüge im Ukrainekonflikt
Übersicht
1. Lieber Krieg als Frieden?
2. Ein historischer Rekurs
3. „Der Niedergang der Diplomatie“
Anmerkungen
„Wo immer die vernünftigen Diplomaten hinkamen, bemühten sie sich …
um ihr eigentliches Ziel, den Frieden … Die alte Diplomatie diente
hauptsächlich der Pflege guter internationaler Beziehungen. Wenn
die scheiterte, … zog sie sich zurück; denn der Krieg war in den
meisten Fällen trotz und nicht wegen ihr gekommen.“
(Lord Vansittart, The Decline of Diplomacy, 1950)1
1. Lieber Krieg als Frieden
Kurz vor seinem Ableben 2023 vertrat Henry Kissinger die Auffassung, dass der achtzigjährige „Großmachtfrieden“ (great-power peace) seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wahrscheinlich kein ganzes Jahrhundert überdauern würde, schreiben Graham Allison und James A. Winnefeld, Jr. am 24. November 2025 in ihrer gemeinsamen Veröffentlichung „The End of the Longest Peace?“ (Das Ende des längsten Friedens?) in Foreign Affairs.
Besorgt stellen sie im Untertitel fest: „One of History’s Greatest Achievements Is Under Threat“ (Eine der größten Errungenschaften der Geschichte ist bedroht) und heben insbesondere fünf Gründe hervor, die zu einem „gewaltsamen Ende eines großen geopolitischen Zyklus“ (the violent end of a major geopolitical cycle) führen könnten, das einen „Großmachtkrieg“ (a great-power war) auslösen kann.
An erster Stelle dieser fünf Gründe steht „Amnesie“. Die Nachkriegsgenerationen haben keine Erfahrung mehr mit den verheerenden Folgen eines Krieges und sie besitzen darum „keine persönliche Erinnerung an die schrecklichen Kosten eines Großmachtkrieges“ (no personal memory of the horrible costs of a great-power war).
Diese überaus zutreffende Feststellung hat der US-Außenminister, Alexander M. Haig (1981-1982), bereits vor langer, langer Zeit getroffen, als er 1981 gesagt hat, dass er für Leonid Breschnews Gesundheit bete, „weil das nächste Gespann sowjetischer Führer aus Männern bestehen werde, >die Krieg nie kennengelernt haben und für die Stalingrad ein Filmtitel<“2 sei.
„Deshalb glaubt der Minister“, kommentierte die US-Journalistin, Flora Lewis (1922-2002), Haigs Äußerung, „dass sie die Vereinigten Staaten unbekümmerter herausfordern werden, und zwar so lange, >bis wir wieder stark genug sind<.“
„Solche Ansichten“, meinte sie weiter, „erklären viel vom Unterschied in der gegenwärtigen Haltung der Amerikaner und der Europäer. Europas Sicherheit hängt von der Stärke der USA ab, aber die Europäer wissen auch, dass es auf amerikanischem Boden seit dem Bürgerkrieg (1861-65) keinen Krieg gegeben hat. … Für alle Europäer ist die Kriegsfrage eine Frage des Überlebens und nicht nur der Überlegenheit. … selbst die neuen Generationen leiden noch unter den tiefgreifenden Verheerungen der beiden Weltkriege. Es gibt so etwas wie ein Gedächtnis der Gesellschaft und das ist dauerhafter als die Spanne eines Lebens.“3
Dieses vor 44 Jahren stattgefundene Fernduell zwischen Haig und Lewis ist längst vergessen. Nur der Sachverhalt bleibt aktuell. Wer hat nun aus heutiger Sicht recht: Lewis´ Verweis auf ein langes „Gedächtnis der Gesellschaft“, das „dauerhafter als die Spanne eines Lebens“ sei, oder Haigs Sorge davor, dass die neuen Generationen, die einen Krieg nie erlebt haben und „für die Stalingrad ein Filmtitel“ sei, die Welt in Brand setzen könnten?
Graham Allison und James A. Winnefeld, Jr. schließen sich eher Haig als Lewis´ Auffassung an und warnen davor, die gegenwärtigen Spannungen zwischen den Großmächten zu unterschätzen. Nur wenige Menschen erkennen heute, schreiben sie, dass eine achtzig Jahre andauernde „Friedenszeit“ außergewöhnlich sei und dass ein Krieg, historisch gesehen, in jeder oder zwei Generationen die Norm war. Viele glauben heute, dass ein „Großmachtkrieg“ undenkbar sei, ohne erkennen zu können, dass die geo- und sicherheitspolitische Großwetterlage darauf zusteuert.
Die Kriegsgefahr ist allerdings heute noch viel größer, als Haig und Lewis nur ahnen konnten und Allison/Winnefeld, Jr. befürchten. Wenn man hört und sieht, was manche Repräsentantinnen der jungen Politikergeneration von sich geben, dann wird unsereinem angst und bange. „Lieber Krieg als Frieden“, ertönen allerorts die Stimmen aus Europa. Selbst aus einem so „friedlichen“ skandinavischen Land wie Dänemark ist die Kriegstrommel zu vernehmen.
So sagte die dänische Premierministerin, Mette Frederiksen (geb. 1977), stellvertretend für das EU-Establishment der TV-Sendung „21 Søndag“ am 23. Februar 2025: „Ich verstehe, wenn viele Menschen denken, dass eine friedliche Lösung oder ein Waffenstillstand eine gute Idee sei, aber wir laufen Gefahr, dass der Frieden in der Ukraine tatsächlich gefährlicher ist als der Krieg, der jetzt stattfindet.“
Mit ihrer Meinung steht sie in der EU nicht alleine da. Sie verkörpert die Mehrheitsstimmung des EU-Establishments. Diese kriegslüsterne junge Politikergeneration wird den Völkern Europas ahnungslos, wie sie ist, nur Krieg und Verderbnis bringen.
Galt zu Zeiten von Alexander M. Haig und Flora Lewis die Parole „Verhandlungen und Diplomatie sind besser als Krieg“, so lautet heute die Devise einer Mette Frederiksen: „Frieden ist gefährlicher als Krieg“?! Folgt man dieser perversen Logik, dann ist die Fortsetzung des Krieges besser als die Wiederherstellung des Friedens und Lebensvernichtung besser als Lebenserhaltung.
Wenn das so wäre, warum schickt Frederiksen ihre dänischen Staatsangehörigen nicht in den Krieg, damit diese sich „besser“ fühlen? Oder will sie sich vielleicht nicht mit einem „Frieden“ als einer bloßen Abwesenheit vom Krieg zufriedengeben? In einem solchen Zustand leben wir aber bereits seit achtzig Jahren; den „Kalten Krieg“ nennt man ihn.
Man könnte auch noch weiter in die Geschichte zurückblicken und eine bloße Abwesenheit vom Krieg als „Kriegsfrieden“ bezeichnen, wie Francesco S. Nitti (ehem. italienischer Ministerpräsident, 1919/20) es getan hat.
Das Gefühl der allgegenwärtigen Bedrohung und der Kriegsgefahr herrschte schon kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. In seinem 1925 erschienenen Werk „Der Friede“ stellt Nitti verbittert fest: „Es ist nicht wahr, dass wir dem Frieden entgegengehen. Nie gab es in Europa so viele Gründe für einen Krieg wie jetzt, nie haben die Ungerechtigkeiten und die nach dem Kriege begangenen Irrtümer solch gärenden Hass vorbereitet wie jetzt.“4
Und er fügt warnend hinzu: „Nach dem Kriegsbankrott erlebten wir den Bankrott des Friedens. Der gegenwärtige Frieden ist nur eine Täuschung. Er bereitet die Elemente neuer, noch schlimmerer Kriege vor“ (ebd., 71). Denn „die im Jahre 1919 vollzogenen Friedensschlüsse waren Kriegsfrieden … Die Besiegten glauben nicht an ihre Aufrechterhaltung und auch die Sieger trauen ihnen nicht. Das gegenwärtige Europa ist voller Hassgefühle“ (ebd. 72).
Wenn Frederiksen und Co. nun beteuern, dass der Friede gefährlicher als Krieg sei, dann liegt das womöglich daran, dass sie ein russisches Friedensdiktat befürchten und sich damit nicht abfinden wollen. Das bedeutet aber nicht, dass man deswegen keinen Frieden anstreben und auf die Fortsetzung des Krieges setzen sollte.
Es ist zugegebenermaßen ein schwieriges Unterfangen, einen wie auch immer gearteten Frieden wiederherzustellen, solange die Kämpfe an- und fortdauern. Die Kriegsparteien verfolgen, wenn sie vom „Frieden“ sprechen, zudem ganz unterschiedliche Ziele und Machtinteressen.
Wenn diese Ziele nicht vollumfänglich realisiert werden können, heißt das dann: Lieber Krieg als Frieden? Oder vielleicht dann doch lieber Frieden selbst zu unzufriedenstellenden Bedingungen? Was wäre denn die Alternative? Eine totale Niederlage der Ukraine!
Die Frage, die sich für die sehr geschwächte, wenn auch (noch) nicht geschlagene Ukraine stellt, lautet: Wie kann der Preis einer absehbaren Niederlage bei den Friedensverhandlungen so gering wie möglich gehalten werden? Erschwerend kommt das mentale und reale Problem der Zuordnung hinzu.
Wenn man sich die ganze Kakofonie und Vielstimmigkeit in der Anti-Russland-Koalition zwischen dem Kiewer Regime, Europa und der Trump-Administration, die allesamt völlig unterschiedliche Verhandlungsziele und Machtinteressen verfolgen, vor Augen führt, so wird nicht ganz klar, wer auf welcher Seite mit wem und gegen wen überhaupt verhandelt.
Bei so viel Unstimmigkeit und Missstimmung können die Verhandlungen entweder ewig andauern oder scheitern, oder zu Gunsten Russlands ausgehen, indem es die unter sich zerstrittenen Gegner gegeneinander ausspielt.
Während das Kiewer Regime samt seiner europäischen Nato-Verbündeten realitätsferne Forderungen stellt, indem es als stark lädierte Kriegspartei mit der Unterstützung der EU-Kriegsfalken wie ein Sieger auftritt und Friedensbedingungen diktiert, was selbst die Trump-Administration in Rage bringt und fassungslos macht, kann sich Russland zurücklehnen und abwarten, wie die untereinander zerstrittene Gegenseite sich zerlegt und aus der Position der Stärke verhandeln.
Vor diesem Hintergrund erscheinen die stattfindenden Friedensverhandlungen ein Novum in der Geschichte der Diplomatie zu sein, bei denen eine unterlegene Kriegspartei die Niederlage nicht eingesteht und wie eine Siegerin auftritt, wohingegen die siegreiche Kriegspartei sich geschlagen geben soll und sich als Siegerin von der Besiegten die Friedensbedingungen diktieren lassen muss. Man darf auf den Ausgang dieses absurden Spektakels gespannt sein.
2. Ein historischer Rekurs
Angesichts der Komplexität und Schwierigkeit der Probleme bei der Kriegsbeendigung wundert es nicht, wenn der Friedensverhandlungsprozess sich lange hinziehen wird. Ein solcher Prozess ist nur dann erfolgreich, wenn ihm ein Interdependenzprinzip zugrunde liegt.
Dieses Prinzip basiert auf einem vitalen gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis in dem Sinne, dass die beteiligten Kriegsparteien die Vorteile auf keine andere Weise und mit keiner anderen Konstellation gewinnen können als durch die Einigung auf einen Modus Vivendi, der die beiderseitigen existentiellen Macht-, Lebens- und Überlebensinteressen respektiert und garantiert. Betrachtet man aber die unterschiedlichen Verhandlungstaktiken und -ziele der Kriegsparteien, so scheint eine Einigung weit und breit nicht in Sicht.
Der französische Diplomat und Schriftsteller, François de Callières (1645-1717), schrieb 1716: „Die Kunst der Verhandlung … ist so bedeutsam, dass das Schicksal selbst der mächtigsten Staaten oft davon abhängt, wie gut oder wie schlecht die Verhandlungen geführt werden und wie fähig der mit den Verhandlungen beauftragte Diplomat ist.“5
Heute stehen nicht so sehr die mächtigsten Staaten zur Disposition als vielmehr die Glaubwürdigkeit eines militärischen Bündnisses, deren Anführer fest daran glauben, dass es das mächtigste Bündnis aller Zeiten sei.
Um den Glauben an die eigene Unbesiegbarkeit geht es auch in den Verhandlungen zur Beilegung des Ukrainekonflikts. Das Problem dieser Verhandlungen ist, dass an ihnen viele Parteien mit völlig unterschiedlichen Machtinteressen, Zielsetzungen und Verhandlungstaktiken beteiligt sind.
Verhandlungstaktik der ukrainischen und europäischen Seite, die gemeinsam als eine Einheit auftritt, könnte man als eine Vernebelungstaktik charakterisieren, die eine Friedensbereitschaft signalisiert und einen Friedenswillen suggeriert, tatsächlich aber die Verhandlungen zwischen Russland und den USA torpediert und auf die Fortsetzung des Krieges setzt, solange die ukrainisch-europäischen Forderungen, die jenseits jeder Realität sind, nicht erfüllt werden.
Man könnte diese Verhandlungstaktik auch als die Kunst der Verschlagenheit bezeichnen, die viel Nebelschau betreibt und Sand in die Augen sowohl der Russen als auch der US-Amerikaner zu streuen versucht.
Das stiftet zwangsläufig mehr Verwirrung als Klarheit, wozu auch gestreute Mediengerüchte und Desinformationen gehören. Ihr Ziel ist klar: Sie soll den Gegner verwirren, zermürben und gefügig machen. Mit einer solchen Verhandlungstaktik stößt man freilich bei Russen auf Granit.
Bei einem solch altgedienten und erfahrenen Diplomaten wie dem russischen Außenminister, Sergej Lawrow, ist eine derartige Nebelschau von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Lawrow ist ein zu harter Brocken, um mit ihm Schlitten zu fahren.
Verhandlungen mit den Russen waren immer schon ein schwieriges Unterfangen. Und sie werden noch dadurch verkompliziert, dass die Russen selbstbewusst aus der Position der Stärke verhandeln, zugleich aber ein tiefes Misstrauen zu >ihren< „westlichen Partnern“ hegen, da sie sich des Öfteren im Falle der Nato-Osterweiterung belogen und betrogen fühlen.
Darum lassen sie sich nicht von den taktischen Winkelzügen der Ukrainer und Europäer blenden. Russland beherrscht wie keine andere Großmacht die Kunst der Diplomatie, die im Land einen hohen Stellenwert genießt. Bereits das Zarenreich hatte der Diplomatie einen viel höheren Stellenwert eingeräumt als alle anderen Instrumente der Außenpolitik wie Krieg und Propaganda.
„1856 wurden die Russen in Paris mit einem Problem konfrontiert, dem sich jede im Krieg geschlagene Macht gegenübersieht: Wie kann der Preis der Niederlage so gering wie möglich gehalten werden? Seine Lösung war, obwohl wirkungsvoll, nicht gerade bestürzend originell. Die Russen waren sich der unterschiedlichen Auffassungen und Pläne im Lager ihre Feinde am Ende des enttäuschenden Krimkrieges bewusst, und sie entschlossen sich zu dem Versuch, einen Keil zwischen die Verbündeten zu treiben und vor allem Frankreich auf ihre Seite zu ziehen.
Dieser Zweck bestimmte schon die Zusammensetzung der Delegation. … das Haupt der Delegation … war Fürst Orlow, ein Soldat und Grandseigneur, von dem man erwarten konnte, dass er sich bei den französischen Militärs und ihrem Kaiser beliebt machte. Orlows spezielle Instruktion lautete, >dem Kaiser Gefühle der Freundschaft zu zeigen, die russischen Interessen seiner Fürsorge anzuvertrauen und ihm die Position eines Schiedsrichters zu verschaffen<.
Um Napoleon III. seine Angelegenheit nahezubringen, hatte Orlow von Beginn der Verhandlungen einige sorgfältig vorbereitete Auftritte in der Öffentlichkeit und er erregte dabei genug Aufsehen und Popularität, um den Kaiser, der stets auf öffentliche Stimmungen reagierte, zu beeindrucken.
Nachdem das getan war, umschmeichelte der Fürst den Kaiser, bis dieser eine solche Sympathie für Russland empfand, dass eine Verringerung der Kriegskosten erreicht und die Basis für das wichtigste Ereignis dieser Konferenz gelegt werden konnte: eine französisch-russische Entente, die bis 1863 andauerte.“6
Im Gegensatz zum Zarenreich sah sich der junge Sowjetstaat in den ersten zehn Jahren seines Bestehens der Gefahr völliger diplomatischer Isolierung gegenüber. Er entzog sich dieser Gefahr, indem er England dazu brachte, in Verhandlungen über Handelsabkommen einzutreten, führte Verhandlungen mit Afghanistan, dem Mittleren Osten und Polen und nicht zuletzt Geheimverhandlungen mit Deutschland, die am 16. April 1922 in Rapallo zum Vertragsabschluss führte und am 24. April 1926 im Freundschaftsvertrag von Berlin bestätigt wurde.
„Erreicht wurden diese Erfolge zum überwiegenden Teil durch geduldige Verhandlungen und geschickte Anwendung der Methoden der klassischen Diplomatie, vor allem der Kunst, die Meinungsverschiedenheiten der anderen Mächte gegeneinander auszuspielen oder ihre Begierden und ihre Ängste herauszufordern. In der Anwendung der traditionellen Kunst des Feilschens erwiesen sich die sowjetischen Unterhändler zu dieser Zeit und später ihren Partnern – manchmal zu deren Überraschung – als ebenbürtig. Durch die sorgfältige Vorbereitung ihres Standpunktes noch vor Beginn der Verhandlungen … und durch taktisches Geschick … konnten sie oft in verwirrender Überlegenheit auftretten.“7
Über Molotows Gespräche in Berlin im November 1940 schreibt Paul Schmidt (Dolmetscher der deutschen Außenminister von Stresemann bis Ribbentrop, später auch von Hitler): „Auch in seiner Argumentation und Sprechweise hatte Molotow etwas mathematisch Präzises und unbeirrbar Logisches. Bei seiner diplomatischen Mathematik verzichtete er auf schmückende Wendungen und wandte sich wiederholt, als wenn er vor einer Klasse stünde, mit leichtem Tadel gegen die weit ausschweifenden und vagen Allgemeinheiten Ribbentrops und später Hitlers.“8
Bereits diese historische Skizze der russisch-sowjetischen Diplomatie zeigt, dass Russland heute auf eine reiche diplomatische Tradition zurückgreifen kann und sich verhandlungstaktisch und -strategisch einem Instrumentarium bedient, das in der Vergangenheit erfolgreich angewandt wurde und sich bewährt hat.
Unter Leitung eines altgedienten und erfahrenen Fuchses wie Sergej Lawrow, der Molotows „diplomatischer Mathematik“ mehr als ebenbürtig ist, wird die russische Diplomatie heute alles tun, um
die angestrebten Kriegsziele lieber auf diplomatischem Wege zu erreichen und den Kriegshandlungen vorzuziehen. Andernfalls wird der Krieg unvermindert weitergehen.
3. „Der Niedergang der Diplomatie“
Im Gegensatz zu Russland hat die Ukraine keine diplomatische Tradition. Sie war nie eine imperiale Macht und ihr Staatswesen ist gerademal 33 Jahre alt. Was die EU-Europäer angeht, so haben sie in den vergangenen dreißig Jahren die klassische Diplomatie verlernt. Seit dem Untergang des Sowjetreiches gebärden sie sich im Zeitalter der Unipolarität und im Schatten der US-Hegemonie als eine „globale Macht“, die es gewöhnt ist, statt zu verhandeln, zu diktieren.
Ein solch anmaßendes Gebaren zeigt sich geradezu paradigmatisch in den stattfindenden Verhandlungen zur Beilegung des Ukrainekrieges. Die EU-Diplomatie hat gar nicht vor, mit Russland zu verhandeln. Ganz im Gegenteil: Sie bildet sich als Interessenvertreterin einer Kriegspartei, die auf dem besten Wege ist, Krieg zu verlieren, ein, die Friedensbedingungen diktieren zu können.
Eine verkehrte Welt: Die Unterstützerin der unterlegenen Kriegspartei diktiert einer Siegermacht in spe die Bedingungen des Friedens. Wahnsinn mit Ansage! Das ist keine Diplomatie, sondern ein Sandkastenspiel! Die EU-Entscheider führen Selbstgespräche unter Gleichgesinnten, statt mit der gegnerischen Kriegspartei zu verhandeln, und halten die Ergebnisse ihrer Selbstgespräche für eine „diplomatische“ Glanzleistung, ohne mit Russland verhandeln zu wollen.
Selbst die Absicht mit dem „Aggressor“ zu verhandeln, halten sie einerseits für eine Zumutung. Sie fordern aber andererseits an den Verhandlungen teilzunehmen, die sie hinhalten und nicht ergebnisorientiert führen möchten.
„Ich habe in meinem Leben viele Konferenzen mitgemacht“, schreibt der britische Diplomat, Lord Vansittart (1881-1957) in seiner oben erwähnten Schrift „The Decline of Diplomacy“ (1950), „aber niemals begann ich ohne eine Hoffnung auf ein bald zu erreichendes Ergebnis. Das könnte heute niemand mehr von sich behaupten. Oft werden Ergebnisse gar nicht erwartet und oft sind sie sogar unerwünscht. Und die Verhandlungstechnik verkommt ebenso oft zu einem handfesten Streit.“
Eine verkehrte Welt! Das von der EU angestachelte Kiewer Regime hält sich für unbesiegbar in der Stunde der Niederlage und bildet sich ein, ihre Fantasievorstellungen vom Frieden durchsetzen zu können. Da haben sich beide, die Eurokraten unter Frau von der Leyen und das Kiewer Regime unter Selenskyj zusammengetan, um den Wahnsinn zur Verhandlungsmethode zu erheben!
Für sie ist Diplomatie nicht die Kunst des Machtbaren, sondern eine Waffe im nie enden wollenden Krieg gegen den „Aggressor“ und „Erzfeind“ aus dem Osten. Diplomatische Verhandlungen zielen hier nicht auf eine Verständigung und ein zufriedenstellendes Ergebnis ab, sondern auf die Behinderung des Friedensprozesses und die Fortsetzung des Krieges getreu der Devise „Frieden ist gefährlicher als Krieg“.
Die Konsequenz einer solchen Nichtdiplomatie wäre, zu Ende gedacht, eine Neuauflage des „totalen Krieges“, der auf Vernichtung des Feindes und nicht auf Verständigung mit ihm hinausläuft. Im nuklearen Zeitalter führt eine solche Pseudo-Diplomatie letztendlich zur Selbstvernichtung.
Der EU-Kriegspartei, die in den europäischen Korridoren der Macht die Szene beherrscht, und dem Kiewer Regime geht es in Wahrheit nicht um ernsthafte Verhandlungen, sondern um eine Verzögerung und Hinhaltetaktik, um Gespräche stets in der Schwebe zu halten und sie endlos führen zu können. Sie sprechen vom Frieden und denken an Krieg.
Eine derart „doppelzüngig geführte Verhandlung“ (wörtlich „negotiation by equivocation“), wie der britische Außenminister, Selwyn Lloyd (1955-1960), verbittert Gromykos Taktik während der Londoner Gespräche vom Juli 1959 bezeichnete9, ist mit Russland nicht zu machen und von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Eine Verhandlungstaktik, die nach dem Motto verfährt: „Ein Aggressor wie Russland, darf für seine Aggression nicht belohnt werden“ (Johann Wadephul auf dem Berliner Forum Außenpolitik der Körber-Stiftung am 15.11.2025), ist keine Diplomatie, sondern deren Abwesenheit.
Sie lehnt a priori alles ab, was Russland fordert und führt allein zur Verhärtung der russischen Position, ohne die keine Beendigung des Krieges möglich ist. Aber genau darum geht es solchen Pseudo-Diplomaten wie Wadephul.
Solchen Nichtdiplomaten ist es gleichgültig, ob die Ukraine weiter zerstört wird und noch zehntausende Ukrainer in diesem Krieg ihr Leben verlieren. Es ist ja nicht Deutschland und Europa, das zerstört wird, und nicht EU-Europäer, die sterben. Viel wichtiger als die Rettung von Menschenleben sei ja das Prinzip des Nichtdiplomaten Wadephul: Der „Aggressor … darf für seine Aggression nicht belohnt werden“.
Bei solchen Prinzipienreitern ist offenbar die Binsenwahrheit noch nicht durchgedrungen, dass Russland sich militärisch nehmen kann, was es diplomatisch nicht bekommen wird. Und kein EU-Gipfeltreffen, keine Prinzipienreiterei à la Wadephul, Merz´ Schimpftiraden, Macrons Drohgebärden, Starmers Kriegstrommel oder von der Leyens militante Rhetorik werden daran irgendetwas ändern können.
Man muss sich schon mit weniger zufrieden geben und sich darüber freuen, dass wenigstens in den USA an den Schalthebeln der Macht ein Opportunist wie Donald Trump sitzt, der auch mit Diplomatie nichts am Hut hat, nicht desto weniger aber begriffen hat, dass er sich mit Putin lieber auf einem diplomatischen Wege einigt, statt eine totale militärische Niederlage der Ukraine und einen katastrophalen Gesichtsverlust der Nato-Allianz in Kauf zu nehmen.
„Alles fließt“ (Everything flows), zitiert Lord Vansittart am Ende seiner Schrift „The Decline of Diplomacy“ Heraklits Spruch und fährt fort: „Wir haben den Glauben an den automatischen Fortschritt verloren und die Diplomatie gehört … vorübergehend zu den Opfern … Sie mag in modernem Gewand wieder zu alter Stärke finden; tatsächlich ist sie unter zivilisierten Völkern nie in Vergessenheit geraten. … Sie wird (aber) niemals weltweite Akzeptanz erlangen, solange die neuen Barbaren das Sagen haben (it can never regain worldwide acceptance, so long as the New Barbarians hold sway).“
Mit „neuen Barbaren“ meinte Lord Vansittart inmitten des „Kalten Krieges“ die Sowjetkommunisten. Heute sind die sog. „zivilisierten Völker“ zu „New Barbarians“ aufgestiegen, die Diplomatie durch Schimpf- und Hasstiraden substituiert haben. Am Ende des Weges wird der Sieg und nicht Diplomatie den Krieg beenden. Denn „победа – враг войны“ (der Sieg ist der Feind des Krieges), sagte einst der große russische Generalissimus, Alexander W. Suworow (1730-1800).
Anmerkungen
1. Lord Vansittart, The Decline of Diplomacy, Foreign Affairs, 1. Januar 1950.
2. Zitiert Lewis, F., Wenn Europa an Krieg denkt, in: Willhelm Bittorf (Hg.), Nachrüstung. Der
Atomkrieg rückt näher. Hamburg 1981, 199-201 (199).
3. Lewis (wie Anm. 2), 199 f.
4. Nitti, F., Der Friede. Frankfurt 1925, 17.
5. Zitiert nach Craig, G. A., Krieg, Politik und Diplomatie. Wien/Hamburg 1968, 280.
6. Craig (wie Anm. 5), 301 f.
7. Craig (wie Anm. 5), 307.
8. Schmidt, P., Statist auf diplomatischer Bühne, 1923-1925, Bonn 1949, 516; zitiert nach Craig (wie Anm. 5),
307, FN 78.
9. Zitiert nach Craig (wie Anm. 9), 309, FN 84.