Verlag OntoPrax Berlin

Die westliche Tragödie

Zwischen Universalismus und Hegemonismus

Übersicht

1. Die letzte Zufluchtsstelle des Universalismus
2. Geopolitischer Pluralismus statt ideologischer Uniformität

Anmerkungen

„Hochmut kommt vor dem Fall“

1. Die letzte Zufluchtsstelle des Universalismus

„Nachdem das neunzehnte Jahrhundert alle Universalismen entleert hatte“, schreibt Hermann Heller 1929, „blieb ihre letzte Zufluchtsstelle das marxistische >Reich der Freiheit<. Die endgültige Lösung jener Spannungen zwischen Wollen und Sollen, zwischen historischer Wirklichkeit und absolutem Sein hatte mit Hegel begonnen und schon bei ihm damit geendet, dass eine historische Relativität, der Staat, verabsolutiert wurde.“1

Hellers Feststellung aus dem Jahr 1929 ist heute nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Was sich heute verabsolutiert hat, ist weder Hegels Staatsbegriff noch das marxistische „Reich der Freiheit“, sondern das westliche „Reich der Demokratie“.

Nach dem Untergang des Weltkommunismus und – damit einhergehend – dem Ende des marxistischen „Reichs der Freiheit“ vor vierunddreißig Jahren blieb das westliche „Reich der Demokratie“ die letzte Zufluchtsstelle des Universalismus, der zur Religion unserer Zeit geworden ist.

Diejenigen, die diesen letzten und nicht hinterfragbaren Universalismus in Frage stellen, werden zum absoluten Feind der Menschheit erklärt und stigmatisiert. Seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine findet sich indes das vom US-Hegemon angeführte westliche „Reich der Demokratie“ „urplötzlich“ im Sterbebett und verbringt dort qualvoll die letzten Tage seiner Existenz.

Das ist die erbarmungslose Rache des Schicksals für jene blutigen Taten und Untaten, die die unipolare Weltordnung unter Führung des US-Hegemonen im Namen von Humanität, Menschenrechte und Rechtsstaat seit dem Ende des Ost-West-Konflikts verübt hat. Statt Humanität und Menschlichkeit erlebte der globale Raum in den vergangenen drei Jahrzehnten Elend, Gewalt und Vernichtung, deren Flammen nunmehr auf den Osten Europas überschwappten, dort seit mehr als drei Jahren wüten und mittlerweile auch ganz Europa bedrohen.

Es war – wie man heute weiß – eine gefährliche, ja friedensgefährdende Illusion zu glauben, dass sich das „Reich der Demokratie“ – losgelöst von seinem eigenen kulturellen Umfeld und außerhalb seines Kulturkreises weltweit erfolgreich implementieren lässt.

Nicht von ungefähr sprach ein gewisser Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte“, indem er das Ende einer Epoche mit dem Beginn einer neuen „zeitlosen Zeit“ des westlichen Universalismus verwechselte, in der die Vorherrschaft der westlichen Hemisphäre auf Dauer unangefochten fortbestehen sollte und die westlichen Demokratien für die nächsten fünfhundert Jahre ihre Weltdominanz aufrechterhalten würden. Das war sicherlich eine religiös anmutende, vom Glauben an den ungebrochen bestehenden Weltmachtanspruch des Westens inspirierte Selbstverblendung.

So hatte der von diesem Glauben ergriffene Vormarsch der Demokratie den Charakter eines unausweichlichen Fatums. Wer ihn fördert und wer ihm widerstrebt, ist ein blindes Werkzeug in der Hand einer vom US-Hegemon und seinen europäischen Satelliten gesteuerten „göttlichen“ Mission, die die Geschicke des globalen Raumes zu lenken bestimmt. Die Unmöglichkeit, diesen Vormarsch aufzuhalten, ermöglicht wiederum die Voraussagbarkeit ihrer künftigen Entwicklung.

Diese „letzte Zufluchtsstelle“ des Universalismus hat freilich ihre besten Zeiten in den 1990er- und 2000er-Jahren längst hinter sich gelassen. Und man kann der von Hermann Heller gewonnenen Erkenntnis nur zustimmen, wenn er mit Verweis auf „die besten Geister des neunzehnten Jahrhunderts“ ermahnt, „gegen alle Universalismen misstrauisch“ zu sein. „Seitdem das historische Bewusstsein die Statik des Vernunftrechtes dynamisiert und seinen Normen Inhalt und Verpflichtungskraft geraubt hatte, bekamen die pathetischen Berufungen auf >das< Wahre, Schöne und Gute, auf die abstrakten, ewigen unveräußerlichen Rechte, einen hohlen und unechten Klang. Konkrete Willen werden nur durch konkretisierte Normen zum Handeln verpflichtet.“2

Dem axiologisch geleiteten westlichen Universalismus ist es im globalen Raum nicht einmal annährend gelungen, sich die anderen Kulturräume einer „unvergänglichen“, „ewigen“ Werttransfusion zu unterziehen und den konkreten (wertfremden) Willen durch konkretisierte Abstraktion zum konkreten Handeln zu bewegen.

Diese als „universal“ postulierte westliche Axiologie macht das Selbstverständlichste zum Allerfragwürdigsten, indem sie den im globalen Raum de facto existierenden Wertpluralismus negiert. Das Kardinaldogma des westlichen Universalismus ist seine alle kulturellen Grenzen sprengende säkularisierte Eschatologie, hinter der sich in Wahrheit ein unbändiger Machtwille zur Weltdominanz verbirgt und die zur einzig wahren Religion unserer Zeit erhoben wird.

Dieser westliche Universalismus strebt danach, „an das Ende der Geschichte in einen Zustand ohne Ende“ zu gelangen.3 Deswegen ist er in seinem Selbstverständnis absolut, intolerant und machtbesessen. In seinem axiologisch induzierten Lebens- und Machtsinn lebt dieser Universalismus „von der invertierten Religion eines diesseitigen Paradieses“4, dessen Heilsbotschaften in der angeblichen Befreiung der Menschheit von aller Unfreiheit und Tyrannei der Welt besteht.

Freilich endet dieses Befreiungspathos – wie die Geschichte uns lehrt – meistens in noch mehr Unfreiheit und Tyrannei.

2. Geopolitischer Pluralismus statt ideologischer Uniformität

Im Zeitalter weltumspannender Massenpropaganda und Desinformation, Massenvernichtungswaffen und Hyperschallsystemen, einer Vielzahl antagonistischer Kolosse, die sich unversöhnlich bis feindselig gegenüberstehen, ist eine weltweite Vorherrschaft eines wie auch immer gearteten Universalismus eine Utopie. Das ideologische Vakuum, das der im Sterbebett liegende westliche Universalismus hinterlässt, birgt in sich Gefahren und ungeahnte Chancen zugleich.

Der Rückzug des westlichen Universalismus auf seinen ursprünglichen „Standort“, an dessen Stelle im globalen Raum keine neue globale Ideologie mehr treten wird, ist unvermeidbar. Statt ideologischer Uniformität werden wir einen geopolitischen Pluralismus erleben.

Eins der ersten und grundlegenden Probleme der nicht zuletzt infolge des untergehenden westlichen Universalismus entstandenen Erosion der unipolaren Weltordnung wird es sein, das Abdriften des globalen Raumes in Chaos und Anarchie aufzuhalten. Ein nicht unerwarteter, sich nicht desto weniger aber überraschend rasch vollziehender Niedergang des Universalismus und des mit ihm eng verbundenen US-Hegemonismus, dem die militärische Macht und die auf Dollar basierte Weltwirtschaft zugrunde liegen, kann zur Überstürzung einer sich chaotisch gestaltenden Machtübergabe führen, die weder das Resultat eines im Voraus entworfenen Planes noch das Ergebnis eines hart erkämpften Sieges einer antiwestlichen „Freiheitsbewegung“ ist.

So würde eine „urplötzliche“ Machterosion der US-Hegemonie die Welt in Kalamitäten stürzen, die – ohne klare, verbindliche Strukturen und innere Zusammenhänge bestehend – zugleich zum geopolitisch umkämpften Schauplatz der zivilisatorischen und machtpolitischen Um- und Abwerbung führen und so ins Kreuzfeuer der rivalisierenden und korrumpierenden Wirtschafts-, Finanz- und Militärkonglomerate der neuformierten Mittel-, Groß- und Weltmächte geraten könnte.

Eine Rückkehr zur dollarbasierten Weltwirtschaft wird dann nicht mehr möglich sein, weil sie ihre auf Vertrauen und Sekurität gegründete Machtstellung im globalen Raum schon jetzt eingebüßt hat. Der Jahrhunderte andauernde Prozess zunächst der Europäisierung und dann der Verwestlichung des Erdballs wird endgültig der Vergangenheit angehören.

Der seit dem Ende des Ersten Weltkrieges begonnene langwierige Prozess der Umformatierung der Welt findet heute anscheinend seine Vollendung. Am Anfang der westlichen Tragödie stand die Selbstzerstörung Europas im Ersten Weltkrieg und an deren Ende steht die Selbstverblendung der westlichen Machteliten, die immer noch nicht wahrhaben wollen, dass der Niedergang der US-Hegemonie im globalen Raum unaufhaltsam geworden ist.

Ein ganzes von blutigen Kriegen und brutaler Gewalt ergriffenes Jahrhundert dauert bereits dieser Abdankungsprozess der westlichen Hemisphäre an. Die europäischen und US-amerikanischen Machteliten glauben, schnelle und glorreiche Kriege „spielen“ zu können, und kommen nicht umhin, grausame Kriege führen zu müssen.

Sie verhalten sich heute wie Kaiser Wilhelm, der „mehr das Kriegsspiel als wirklich den Krieg liebte,“ worauf der Schweizer Historiker, Herbert Lüthy, 1967 hingewiesen hat.

„Jene europäische Ordnung, die 1914 unterging, kannte keine andere Alternative zur Brachialgewalt als diese, und sie hatte diese Alternative ein Jahrhundert lang mit beachtlichem Erfolg in weit schwereren Krisen und an weit gewichtigeren Streitobjekten erprobt, als es der politische Kriminalfall von Sarajewo war. Diese Alternative ausschlagen hieß den Krieg wählen, und diese Wahl war >nicht Schicksal, sondern Wille<.“5

In dieser unheilvollen Tradition stehend, wählt Europa auch heute nach wie vor lieber den Krieg als dessen Einhegung und lieber die Konfrontation als Kompromiss. Der Hauptirrtum des westlichen Universalismus, hinter dem sich eben dieser unbändige Machtwille verbirgt, ist sein unerschütterlicher Glaube, dem globalen Raum immer noch eine Wertordnung oktroyieren zu können, die den nichtwestlichen Kulturräumen fremd ist, weil sie sich nicht aus der eigenen historischen Entwicklung ergibt, sondern auf den vom Westen vorgegebenen Lebens- und Machtstrukturen beruht, die unweigerlich zum Scheitern des Experiments führen musste und auch geführt hat.

Dieses Scheitern ist laut Lüthy ausgerechnet während des Prozesses der Entkolonisierung Afrikas deutlich und sichtbar geworden. „Das Fehlen breiter autochthoner Rekrutierungsschichten unternehmerischer und technischer Kader als autonomer Träger wirtschaftlicher Initiative verstärkt noch die Gefahren … der Unterentwicklung nach dem Vorbild der exotischen >Modernisierungsdespotien< des 19. Jahrhunderts, der seinerseits in einem eigentlichen Circulus vitiosus die Entfaltung selbsttätiger Aufbaukräfte im Keim erstickt und jene regierende politisch-ideologische Intelligenzschicht fast im leeren Raum agieren lässt, deren Parole die des Nkrumahschen Machtrausches ist: >Seek ye first the political kingdom, and all ohter things shall be added unto it<.“6

Diese Parole des ersten Präsidenten Ghanas, Kwame Nkrumah (1909-1972): „Trachtet zuerst nach dem politischen Reich, dann wird euch alles andere zufallen,“ worunter er laut der britischen Historikerin, Ama Biney (geb. 1960), „das Versprechen eines wirtschaftlichen Paradieses und Reichtums für das neue unabhängige Ghana“7 verstand, schien sich zunächst „während eines Jahrzehnts … großartig zu bewahrheiten“. Ihr Bankrott zeichnet sich aber dessen ungeachtet vor unseren Augen ab, stellte Lüthy 1967 ernüchtert fest.7

Wie auch immer man diese Entwicklung bewerten mag, das Ende der unipolaren Weltordnung hat den westlichen Universalismus, der die axiologische und kulturelle Vielfalt und Pluralität des globalen Raumes nach dem Ende des Ost-West-Konflikts überdeckte, aus den Angeln gehoben.

Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine beobachten wir eine geopolitische Emanzipation des Restes der Welt – des sog. „Globalen Südens“ – von der westlich dominierten Weltordnung. An Stelle des Universums tritt Pluriversum und an Stelle der Unipolarität der geopolitische Pluralismus.

Der Krieg in der Ukraine hat nun diesen geopolitischen Emanzipationsprozess, der seinen Ursprung in der Entkolonisierung der Welt genommen hat, nur noch beschleunigt und es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann er abgeschlossen wird.

Herbert Lüthy beschrieb den Beginn dieses Prozesses eindrucksvoll, wie folgt: „Vor uns taucht von neuem ein afrikanisches Afrika, ein labyrinthisches Indien, ein verbissen seinen Termitenhaufen wiederaufbauendes China, eine arabische Welt, die nach dem langen bleiernen Schlaf der türkischen Herrschaft und dem verworrenen Kranichzug der westlichen >Mandatsmächte< sich selber sucht, und sogar wie aus Grabestiefen aufsteigend ein >indigenistisches< Mexiko und ein von indianischen Albdrücken heimgesuchtes Amerika der Anden auf.“8

Dieser Sich-Selbst-Findungsprozess erreicht heute seinen vorläufigen Höhepunkt, der in der Entstehung, Ausbildung und Etablierung einer immer einflussreicher werdenden Organisation wie BRICS-Gruppe gipfelt. Die geopolitischen Entwicklungen der Gegenwart drehen sich schon lang nicht mehr um Europa als Mittelpunkt der Welt. Der Nichtwesten emanzipiert sich vor unseren Augen mit Riesenschritten auch von den USA, die immer mehr wie ein Koloss auf tönernen Füßen aussehen.

Die um den sog. „Westen“ zentrierte Epoche der Weltgeschichte neigt dem Ende zu. Der westliche Universalismus, der sich anmaßte, weltweit eine universale Zivilisation zu etablieren und zu repräsentieren, muss sich geschlagen geben und sich dem geopolitischen Pluralismus, der die Vielheit der Zivilisationen in sich einschließt, weichen. Und dieser Prozess ist unumkehrbar geworden.

Anmerkungen

1. Heller, H., Europa und der Faschismus. Berlin/Leipzig 1929, 12.
2. Heller (wie Anm. 1), 12 f.
3. Klingner, F., Römische Geisteswelt. München 1961, 310.
4. Heller (wie Anm. 1), 14.
5. Lüthy, H., In Gegenwart der Geschichte. Historische Essays. Köln Berlin 1967, 291, 298.
6. Lüthy (wie Anm. 5), 268.
7. Biney, A., The Political and Social Thought of Kwame Nkrumah. 2011.
8. Lüthy (wie Anm. 5), 268 f.

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