Verlag OntoPrax Berlin

Die Tyrannei der Ideologie in der Außenpolitik

Zur Frage nach dem Wert der Diplomatie in der Gegenwart

Übersicht

1. Außenpolitik und Ideologie
2. Ideologie und Realpolitik

Anmerkungen

„The job of diplomacy is not to transcend geopolitics but to succeed at it.“
(A. Wess Mitchell)1

1. Außenpolitik und Ideologie

Die westliche Außenpolitik ist immer noch wie zu Zeiten des „Kalten Krieges“ entscheidend durch deren Ideologisierung geprägt. Damit ist ein Entscheidungsprozess verbunden, in dem die außenpolitischen Prämisse ideologisch sanktioniert werden. Was außenpolitisch gilt, wird ideologisch bestimmt.

Insofern ist Ideologie der Außenpolitik übergeordnet. Zwar existiert ein der Ideologie eigener Inhalt, der von der Außenpolitik unabhängig ist. Und die Außenpolitik muss sich ihrerseits im Gegensatz zur Ideologie stets, gewollt oder ungewollt, an der Macht des Faktischen orientieren, die naturgemäß im Widerspruch zu ideologischen Inhalten treten kann. Dieser Widerspruch führt aber dazu, dass die Außenpolitik von der Ideologie immer und immer wieder ausgebremst und zum Dauerproblem wird.

Dieses Dauerproblem besteht dabei nicht allein in der Bindung der Außenpolitik an die Ideologie, sondern in noch höheren Maß an einer unvermeidlichen Veränderbarkeit und Wandelbarkeit der Machtfaktizität. Die Ideologisierung der Außenpolitik im Verlauf und erst recht seit dem Ende des Ersten Weltkrieges hat das bis dahin vorherrschende, auf Staatsräson (Ratio Status) beruhende Verständnis von Außenpolitik von Grund auf verändert.

Die Außenpolitik des vorideologischen Zeitalters hing weder vom Inhalt noch in ihrer Geltung von der Ideologie ab. Die Außenpolitik erschöpfte sich zu jener Zeit nicht in der blinden Befolgung und Durchsetzung ideologischer Postulate, sondern sah ihre Aufgabe zuallererst in der Verwirklichung der sog. „Staatsräson“.

Die Staatsräson war ihrerseits untrennbar verbunden mit Arcana imperii – den „Geheimnisse(n) der Herrschaftsausübung“ oder der „verborgene(n) Seite der Macht.“ Das Arcanum ist im späten 16. und 17. Jahrhundert „ein Schlüsselwort der Epoche. Es taucht auf mit der Entstehung der Landeshoheit, mit dem Übergang von der Renaissance zum (politischen) Manierismus, mit dem Aufkommen des Tacitismus sowie mit der Überleitung der theologisch-kirchlichen Symbolik in die säkularisierte Welt der Politik um 1700.“2

Arcana und Staatsräson (Ratio Status) treten „in der politischen Sprache jener Zeit gemeinsam auf und vor allem fällt dabei stets der Name Machiavellis. … Mit Machiavelli beginnt traditionell die Neuzeit in der politischen Theorie. Er bildet eine Grenzmarke zwischen Mittelalter und Neuzeit … er ist der >Wegbahner des modernen kontinentalen Machtstaates< (G. Ritter).“3

Mit dem gesellschaftlichen Demokratisierungsprozess und dem Aufkommen des Zeitalters der Ideologien aller Couleur kam es zur Beerdigung der „Neuzeit“ im Ersten Weltkrieg. Arcana wurde zur vergessenen Formel der Machtausübung und an Stelle des Machtstaatsdenkens trat eine Außenpolitik, die, sich über die Ratio Status hinwegsetzend, ideologisierte und internationalisierte.

Diese ideologisierte Außenpolitik hat ihren Höhepunkt im „Kalten Krieg“ erlebt und setzt sich in abgeschwächter Form bis heute in der westlichen Hemisphäre fort ungeachtet des Untergangs des ideologischen Systemrivalen.

Henry Kissinger überzog einst diese Epoche der ideologisch geleiteten Außenpolitik mit Hohn und Spott, als er sarkastisch anmerkte: In den amerikanischen Eliten herrschte eine außenpolitische Stimmung vor, die entweder von der Theologie oder von der Psychiatrie vorgegeben wurde und folgerichtig „geopolitische Erwägungen ganz einfach ausschloss“. „Die Väter der >containment<-Politik – Acheson, Dulles und ihre Kollegen“ hatten „ihr Werk ausschließlich mittels theologischer Kategorien konzipiert.“

Diese ideologisierte bzw. „theologisierte“ Außenpolitik erforderte laut Kissinger eine neue, sich auf einer ganz anderen Grundlage fußende US-Außenpolitik. An die Stelle einer „totalen Konfrontation (im Sinne der >Theologen<)“ oder „totalen Versöhnung (wie die >Psychiater< forderten)“ sollte „das nationale Interesse als maßgebliches Kriterium für eine langfristige amerikanische Außenpolitik“ treten.4

Kissinger forderte mit anderen Worten genauso, wie Trump heute, nicht nur eine nationalstaatlich orientierte US-Außenpolitik, sondern sah in der ideologisierten Außenpolitik indirekt auch einen Rückfall in die theologisch-kirchlichen Zeiten vor der Neuzeit, die mit der von Machiavellis stammenden Lehre von der Ratio Status (Ragion di stato) eigentlich zu Ende gegangen zu sein schienen.

Die politische Entscheidung folgt nach Machiavelli nicht aus religiösen oder moralischen Prämissen, sondern „aus der Natur der Dinge“ (Principe, XXI), aus der „Verschiedenartigkeit der Verhältnisse“ (Principe, IV).4 Wer in der Außenpolitik den abstrakten Postulaten der Ideologie bzw. Theologie folgen will, statt konkrete (nationale) Eigeninteresse zu verfolgen, erleidet früher oder später Schiffbruch.

Politisches Handeln vollzog sich dabei fern von der Masse in „Geheimrat“ und „Kabinett“. „Die ersten systematischen >Geheimdienste< wurden aufgebaut und die Verschlüsselung von Nachrichten war nicht gelehrte Spielerei, sondern praktische Notwendigkeit“5 des sich überall in Europa durchgesetzten Absolutismus.

Und so blühte die Staatsräson als Legitimationsformel der Macht für die absolute Souveränität der durch den Fürsten verkörperten Staatsgewalt auf. Freilich wird die Lehre von der Staatsräson heutzutage scharf kritisiert. So sprach Ekkehart Krippendorff (1934-2018) von der „Pathologie der Staatsräson“4 und meinte: „Das Konzept der Staatsräson … ist das Produkt einer krankhaften politischen Intelligenz, eine Kopfgeburt, die uns nicht nur einen Dreißigjährigen, sondern einen mehr als 300jährigen Dauer-Kriegszustand als Außenpolitik eingebracht hat.“6

Krippendorffs Befürwortung einer „Demokratisierung“ der Außenpolitik hat indes keinen „Dauer-Kriegszustand“ beenden können, nachdem die Idee der Staatsräson den Ersten Weltkrieg nicht überdauerte, worauf er ja selber hingewiesen hat.

„Außenpolitik als Gegenstand öffentlicher Diskussion und Meinungsbildung“, schreibt Krippendorff, ist „eigentlich eine Errungenschaft der vom Ersten Weltkrieg aufgerüttelten >öffentlichen Meinungen< bzw. eine – zunächst von der sowjetischen Revolutionsregierung, die als ihre erste Tat alle Geheimdokumente zum Kriegsausbruch publizierte, und dann von Woodrow Wilson geforderte – Reaktion auf diese offensichtliche Katastrophe der Diplomatie.“7

Die Demokratisierung der Außenpolitik ging Hand in Hand mit deren Ideologisierung, die bis heute fortdauert. Sie hat den Krieg durch die öffentlichkeitswirksame Diplomatie nicht nur nicht eingehegt, sondern ihn in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem „totalen Krieg“ werden lassen und die Diplomatie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts durch die Abstraktheit ihrer von Abschreckungs-, Eskalations- und Konflikttheoremen abgeleiteten Fiktionalität ganz entwerten lassen.

Diese Entwicklung hat Jean-Paul Sartre bereits in den 1950er-Jahren vorweggenommen, als er schrieb:

„Das Denken und die Politik von heute führen uns zum Massaker, weil sie abstrakt sind. Man hat die Welt zweigeteilt und jede Hälfte hat Angst vor der anderen. Jeder handelt seitdem, ohne die Absichten und die Beschlüsse des Nachbarn von gegenüber zu kennen; man stellt Mutmaßungen an, man glaubt nicht, was gesagt wird, man deutet die Verhaltensweisen nach seinen Vermutungen darüber, was der Gegner tun wird, und passt sie dem an. Von daher ist nur eine einzige Position möglich, die durch eine jahrtausendalte Dummheit zusammengefasst wird: Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor – der Triumpf der Abstraktion.“8

Nichts hat sich seitdem im Wesentlichen geändert. Nach wie vor beäugen wir Russland misstrauisch, haben Angst vor ihm oder tun so, als hätten wir Angst; unterstellen ihm Absichten, uns eher heute als morgen zu überfallen, obschon es dazu gar keine Anzeichen gibt, und malen uns in einer geradezu pathologischen Obsession eine abstrakte russische Gefahr aus.

Dieser „Triumpf der Abstraktion“ entwertet die Diplomatie, macht sie überflüssig und erhöht dadurch erst recht die Gefahr des Krieges. Die Zerstörung der Staatsräson und einer öffentlichkeitscheuen und stillen Diplomatie und deren Substituierung durch Ideologien aller Couleur hat die Kriegsgefahr nicht beseitigt, sondern ganz im Gegenteil im höchsten Maß gesteigert.

2. Ideologie und Realpolitik

Ideologie duldet keine Diplomatie. Sie ist ihrer Natur nach abstrakt und in ihrer Abstraktheit absolut. Sie will diktieren, nicht diskutieren, befehlen, nicht verhandeln. Sie führt Monolog (Selbstgespräch), kein Dialog (Zwiegespräch). Darum kennt Ideologie die einzige Logik des Handelns, ihre eigene, und ist in ihrem Absolutheitsanspruch gegenüber den Andersdenkenden intolerant und unnachgiebig.

Hoch lebe Intoleranz im Namen der Toleranz, will Ideologie uns sagen. Die herrschende Ideologie ist eine Ideologie der „Toleranz“ der Mehrheit, wogegen Herbert Marcuse in den 1960er-Jahren mit seiner „repressiven Toleranz“ opponierte.9 Sie war eine Kampfansage an die „Toleranz“ der Mehrheit in Zeiten des Vietnamkrieges:

„Toleranz wird auf politische Maßnahmen, Bedingungen und Verhaltensweisen ausgedehnt, die nicht toleriert werden sollten, weil sie die Chancen, ein Dasein ohne Furcht und Elend herbeizuführen, behindern, wo nicht zerstören.“10

Das Aufbegehren der „repressiven Toleranz“ war ein Aufbegehren gegen „die Tyrannei der Mehrheit“, wie Marcuse es ausdrückte. Die Mehrheit sei tyrannisch, weil sie „ein Dasein ohne Furcht und Elend“ behindert und dadurch verstellt und anschließend zerstört. Die Verstellung führt zur „systematischen Verdummung“ der Menschen und zur „Freisetzung von unmenschlicher zerstörender Gewalt in Vietnam,“ empört sich Marcuse.11

Diese Freisetzung der Unmenschlichkeit führt zu Tod und Vernichtung im Namen der „Toleranz“ der Mehrheit. Ideologie, die ihrem Selbstverständnis nach keine Diplomatie duldet und im Namen der „Toleranz“ intolerant ist, vernichtet! Ideologie ohne Diplomatie tötet!

Wie der „tolle Mensch“ bei Nietzsche auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: „Ich suche Gott! Ich suche Gott! … Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder!“12, so tötet auch die Außenpolitik, die der Diplomatie das Wort redet, aber den Krieg schürt, den Frieden, den sie als „Diktatfrieden“ verunglimpft und verdammt.

Wie Nietzsches „toller Mensch“, der auf den Markt lief und schrie: „Wir haben Gott getötet “, schreit unsereiner heutzutage, der die EU-Außenpolitik empört zurückweist: „Wir haben den Frieden getötet, weil wir die Diplomatie getötet haben! Wir alle sind seine Mörder“.

Warum haben wir aber den Frieden getötet? Weil wir Diplomatie durch Ideologie substituiert haben? Als Friedrich August von Holstein (1837-1909) 1861 Attaché bei der deutschen Gesandtschaft in Petersburg wurde, stellte Bismarck ihn dem alten Reichskanzler Karl R. von Nesselrode (1780-1862) als einen „Diplomaten der Zukunft“ vor, worauf dieser antwortete: „In Zukunft wird es keine Diplomaten und keine Diplomatie mehr geben.“13

Es ist nicht überliefert, warum der 81jährige Reichskanzler zu einer solchen erstaunlichen und zukunftweisenden Äußerung gekommen ist. Heute wissen wir es: Weil wir Diplomatie durch Ideologie substituiert haben! Heute haben wir in Europa Außenpolitik ohne Außenpolitiker14 und Diplomatie ohne Diplomaten.

Wenn wir lauter Ideologen um uns herumlaufen sehen, die stets Frieden predigen, aber Krieg gutheißen, wozu brauchen wir dann Außenpolitiker und Diplomaten? Wozu brauchen wir Außenpolitik und Diplomatie, fragt unsereiner, wenn wir, wie der BND-Chef, Bruno Kahl, lieber auf Krieg als auf Frieden setzen?

Ein frühes Kriegsende in der Ukraine könne es, versicherte Kahl uns „glaubhaft“ am 8. März 2025 in einem Interview gegenüber der Deutschen Welle, Russland ermöglichen, seine geopolitischen Interessen verstärkt gegen Europa zu richten. Wenn der Krieg früher zum Stillstand komme, als 2029 oder 2030, sei Russland dann noch früher in der Lage, mit seinen technischen, materiellen und personellen Mitteln eine Drohkulisse gegen Europa aufzubauen.

Lieber Krieg als „Diktatfrieden“, ertönt die Parole aus den Machtkorridoren der Berliner Republik. Wozu dann Diplomatie? Selbst Ideologie bleibt auf der Strecke. Denn Kahl argumentiert ja nicht ideologisch, sondern realpolitisch.

Es geht ihm nicht etwa um die Verteidigung und Rettung von Demokratie und Menschenrechten, wie die übliche Rhetorik der Eurokraten und der EU-Eliten bei der Unterstützung der Ukraine in ihrem „gerechten Kampf“ gegen die „russische Aggression“ stets suggeriert, sondern um die eigennützigen Sicherheitsinteressen Deutschlands und Europas.

Bereits am 23. Februar 2025 brachte die dänische Premierministerin, Mette Frederiksen, im Fernsehprogramm „21 Søndag“ ihr Misstrauen gegenüber Putin zum Ausdruck und beteuerte, dass „wir Gefahr laufen, dass der Frieden in der Ukraine tatsächlich gefährlicher ist als der Krieg, der jetzt stattfindet.“

Lieber Krieg als Frieden! Die transatlantische Gemeinschaft spielt die einen Slawen gegen die anderen aus und hetzt sie in einem auf ukrainischem Boden stattfindenden Proxykrieg gegen- und aufeinander auf, um den ewigen geopolitischen Rivalen dauerhaft zu schwächen.

Bis jetzt gelingt ihr das freilich nur mit einem ziemlich mäßigen Erfolg und deswegen tut die Kriegspartei alles, um den Krieg in die Länge zu ziehen. Das Problem ist nur: Die Bevölkerung in der Ukraine ist mittlerweile vom Krieg müde geworden und will nicht mehr weiterkämpfen. Zwar sitzt in Kiew eine willfährige, von den Nato-Staaten völlig abhängige Marionettenregierung, die lieb und gern das eigene Volk in diesem Krieg im Namen von Demokratie und Menschenrechten „bis zum letzten Ukrainer“ (Boris Johnson) verheizt.

Der Ukraine fehlen aber Soldaten, die für die „gerechte Sache“ kämpfen wollen und können. Zudem gibt es viel zu viel Opfer in diesem brutalen und sinnlosen Gemetzel der Slawen untereinander.

Zwar versucht die Trump-Administration den Krieg einzuhegen, die europäische Kriegspartei will aber davon nichts wissen. Ideologisch verbrämt und machtpolitisch verärgert, wollen die EU-Europäer das Scheitern ihrer sich längst als gescheitert herausgestellten Kriegspolitik nicht noch vertraglich beglaubigen lassen.

Und so sind sie auf der Suche nach der ideologischen und/oder völkerrechtlichen Verklärung ihres kriegspolitischen Versagens. Statt ihre ideologisch verbrämte und gescheiterte Kriegspolitik realpolitisch zu überwinden, wie es die neugewählte US-Administration mittlerweile auch versuchen zu tun,15 verbleiben die EU-Europäer nach wie vor in den ideologischen Schützengräben des „Kalten Krieges“.

Im Gegensatz zur EU-Weigerung, den Krieg auf diplomatischem Weg einzuhegen, ist Russlands Verhandlungsposition, die zuletzt von dem russischen Außenminister, Sergej Lawrow, erneut wiederholt wurde, glasklar.

Am 28. April 2025 hat er der brasilianischen Zeitung „O Globo“ ein Interview gegeben, in dem er Europa (allen voran Deutschland, Frankreich und England) „der Ideologie des Militarismus“ bezichtigte und erneut die Bedingungen für die Beendigung des Krieges und den Abschluss eines möglichen Friedensvertrages deutlich gemacht.

Es gehe laut Lawrow in erster Linie nicht um die Ukraine, sondern um die Neuordnung der gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur. „Selenskyjs Regime“ mangele es am politischen Willen zum Frieden und zeige den Unwillen, den Krieg zu beenden, der von russlandfeindlichen Kreisen in einer Reihe der EU- Ländern, wie Frankreich, Deutschland und Großbritannien, unterstützt werde.

In diesem Kontext bezichtigt Lawrow die Ukraine nicht mehr und nicht weniger als der „Rassengesetzgebung“, indem er betont, dass „die Grundsätze der UN-Charta in ihrer Gesamtheit“ gelten müssen und dass „das Prinzip der Souveränität und territorialen Integrität von Staaten nicht isoliert vom Recht der Völker auf Selbstbestimmung und dem Schutz der Menschenrechte ungeachtet ihrer Sprache, Rasse, ihres Geschlechts und ihrer Religion betrachtet werden können.“

Vehement fordert Lawrow dabei „die Folgen der Herrschaft des Neonaziregimes in Kiew zu überwinden, das infolge des Putsches im Februar 2014 entstanden ist. Dazu gehören seine Maßnahmen zur gesetzlichen und physischen Auslöschung alles Russischen: Sprache, Medien, Kultur, Traditionen, kanonische Orthodoxie“ (преодоление последствий правления сформировавшегося в результате путча в феврале 2014 года неонацистского режима в Киеве, включая его действия по законодательному и физическому истреблению всего русского – языка, СМИ, культуры, традиций, канонического православия).

Nicht Territorien, sondern die „Rassengesetze“, die „alles Russische“ (всё русское) auslöschen wollen, sei nach Lawrow zentral für eine friedliche Regelung des Ukrainekonflikts. Ferner wiederholt er Russlands Forderung nach „Nichtbeitritt Kiews zur Nato“ und beharrt auf die „Bestätigung seines neutralen und blockfreien Status gemäß der Erklärung der staatlichen Souveränität der Ukraine von 1991“.

Die beiden Bedingungen zu einer endgültigen Beilegung der Ukrainekrise seien nicht verhandelbar. Unverhandelbar sei auch die internationale Anerkennung der Krim, Sewastopol, der Volksrepublik Donezk und Luhansk sowie der Regionen Cherson und Saporischschja.

All das stehe unter dem Vorbehalt der „Entmilitarisierung“ und „Entnazifizierung der Ukraine“, der Aufhebung von Sanktionen, Klagen, Haftbefehlen und der Rückgabe der in Europa „eingefrorenen“ russischen Vermögenswerte sowie der verlässlichen Garantien für die Sicherheit der Russländischen Föderation vor Bedrohungen durch die feindlichen Aktivitäten der Nato, der EU und ihrer einzelnen Mitgliedstaaten an unseren Westgrenzen.

Kurzum: Es geht um eine allumfassende Neuordnung der russisch-transatlantischen Beziehungen, wozu die Eurokraten und EU-Ideologen mit der EU-europäischen Kriegspartei an der Spitze nicht einmal im Ansatz bereit sind. Dessen ist sich Lawrow voll und ganz bewusst.

Die Europäische Union setze ihren Kurs einer umfassenden Unterstützung des Kiewer Regimes fort. Jedes andere Ergebnis als eine bedingungslose Kapitulation Moskaus werde in Brüssel als eine geopolitische Niederlage angesehen. Die Brüsseler Bürokratie mache mit anderen Worten den Versuch, ihren angeschlagenen Ruf zu retten, über das Interesse an einem gerechten und dauerhaften Frieden, unterstreicht Lawrow gegen Ende seines Interviews.

In den ideologischen Schützengräben des „Kalten Krieges“ verbleibend, will Europa weder Lawrows Friedensbedingungen noch einen realpolitischen Ansatz der Trump-Administration akzeptieren und verschließt sich jedem Neuanfang in den russisch-transatlantischen Beziehungen.

Ideologisch verrannt und realpolitisch handlungsunwillig, verkennen die EU-Europäer die Zeichen der Zeit. Sie müssen nur aufpassen, dass sie nicht zu spät kommen und dass der Friedensvertrag auch ohne sie beschlossen bzw. erzwungen werden kann.

„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Dieser Michail Gorbačov zugeschriebene Satz scheint heute aktueller denn je zu sein!

Anmerkungen

1. A. Wess Mitchell, The Return of Great-Power Diplomacy. How Strategic Dealmaking Can Fortify
American Power. Foreign Affairs, 22. April 2025.
2. Stolleis, M., Arcana imperii und Ratio status. Bemerkungen zur politischen Theorie des frühen 17.
Jahrhunderts. Göttingen 1980, 5.
3. Stolleis (wie Anm. 2), 7.
4. Kissinger, H., Die Vernunft der Nationen. Über das Wesen der Außenpolitik. Berlin 1994, 782, 788.
5. Krippendorff, E., Die Pathologie der Staatsraison, in: des., Staat und Krieg. Die historische Logik politischer
Vernunft. Frankfurt 1985, 16-38.
6. Krippendorff, E., Kritik der Außenpolitik. Frankfurt 2000, 36.
7. Krippendorff (wie Anm. 6), 122.
8. Sartre, J.-P., Krieg im Frieden 2. Reden – Polemiken – Stellungnahmen. 1952-1956. Reinbek 1982, 52. Zitiert
nach Krippendorff (wie Anm. 5), 30.
9. Marcuse, H., Repressive Toleranz, in: Wolff, R. P./Moore, B./Marcuse, H., Kritik der reinen Toleranz.
Suhrkamp 71970, 93-128.
10. Marcuse (wie Anm. 9), 94.
11. Marcuse (wie Anm. 9), 94 f.
12. Zitiert nach Türcke, C., Der tolle Mensch. Nietzsche und der Wahnsinn der Vernunft. Frankfurt 1989, 13 f.
13. Zitiert nach Oskar P. Trautmann, Die Sängerbrücke. Gedanken zur russischen Außenpolitik von 1870-1914.
Stuttgart 1941, 133.
14. Silnizki, M., Außenpolitik ohne Außenpolitiker. Zum Problem der Außenideologie in der Außenpolitik. 6.
Dezember 2021, www.ontopraxiologie.de.
15. Vgl. Mitchell (wie Anm. 1).

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