Im Zeitalter der Moralisten und Weltverbesserer
Übersicht
1. Im Würgegriff des Informations- und Medienkrieges
2. Im Auftrag der Weltverbesserer
3. Expansion versus Sicherheit
Anmerkungen
„Die Logik von Wert und Unwert entfaltet ihre ganze
vernichtende Konsequenz und erzwingt immer
neue, immer tiefere Diskriminierungen,
Kriminalisierungen und Abwertungen
bis zur Vernichtung allen
lebensunwerten Lebens.“
(Carl Schmitt)1
1. Im Würgegriff des Informations- und Medienkrieges
„Totus mundus agit histrionem“: Alle Welt schauspielert, verkündete einst die Inschrift über dem Eingang des Globe Theaters in London, der Bühne Shakespeares. Was in der Welt des Barock, in welcher der schöne Schein zum Prinzip der Kunst erhoben wurde, die Klage der Moralisten war, das war der Stolz der Komödianten, kommentiert Richard Alewyn die Inschrift2. Und heute? Heute sind Moralisten und Komödianten im geopolitischen Schaukampf Zwillinge geworden. Sie praktizieren gemeinsam die Kunst der Tarnung und Täuschung, der gegenseitigen Verachtung und Geringschätzung. Willkommen im Klub der Moralisten, Komödianten und Weltverbesserer, Trickser und Täuscher, Selbstgerechten und Selbstverblendeten!
Sie und nur sie regieren heutzutage unsere von Krieg und Gewalt geschundene Welt: selbstgerecht, skrupellos und unverfroren. Wir leben im Zeitalter eines ununterbrochen geführten Informations- und Medienkrieges, welches die Dichtung zur Wirklichkeit erklärt, die Geheimdienste als absolut glaubhafte Informationsquelle verklärt, die Tarnung und Täuschung als hohe Kunst der Manipulation und Desinformation kultiviert, das Pharisäertum zur einzig wahren Religion stilisiert, die geopolitische Denunziation und Diffamierung zur Kunst „des Wahren, Schönen und Guten“ adelt und nicht zuletzt die bewaffnete Missionierung der sog. „universellen Werte“ im Namen der Weltverbesserung propagiert.
In dieser postfaktischen, medial inszenierten Welt sind wir bloß ahnungslose Zuschauer eines von sogenannten „Experten“ und selbsternannten Weltverbesserern weltweit komponierten geopolitischen Theaterstücks, in welchem allein die Nachrichten und Informationen kommuniziert und zur Verfügung gestellt werden, die im Sinne der geopolitischen Opportunität selektiert und von den etablierten Machtstrukturen aus innen-, außen- und weltpolitischen Gründen aussortiert werden. Das Ausschlaggebende ist hier nicht, dass dieser Selektionsprozess stattfindet, sondern wie und warum er stattfindet.
Es ist dabei unerheblich, dass selbst der Augenzeuge – wie Walter Lippmann bereits in seinem 1922 erschienenen Werk „Public Opinion“ zutreffend feststellte – kein unvoreingenommenes Bild mehr vom Geschehen hat, das er beobachtet. Denn „was er für seinen Bericht von einem Ereignis hält, ist zumeist in Wirklichkeit dessen Umwandlung.“3 Es versteht sich auch von selbst, dass jede „Wahrnehmung, auch wenn sich der Beobachter um noch so akribische Feststellung der >Tatsachen< bemüht, … immer schon eine Interpretation der Realität (ist).“4
Ausschlaggebender ist vielmehr das Problem der gleichgeschalteten Berichterstatter selbst, die – im Glauben nach bestem Wissen und Gewissen informiert zu haben – desinformieren. Denn „in Zeiten von sich zuspitzenden internationalen Konflikten (steigt) der Bedarf an schnellen und umfangreichen Informationen und die Notwendigkeit, schneller und umfangreicher zu informieren als die Konkurrenz, deutlich, so dass kaum Raum bleibt für eine Überprüfung der zugespielten Informationen … Wenn diese dann auch noch aus einer Quelle kommen, die allgemein als glaubwürdig gilt oder als solche eingestuft wird, entfällt die Notwendigkeit zur Hinterfragung meist völlig.“5
Das bedeutet aber, dass den Manipulationen und/oder gezielt gestreuten (geheimdienstlichen) „Informationen“ nicht nur der Öffentlichkeit, sondern auch der Berichterstatter und nicht zuletzt der zu politischen Entscheidungen befugten und auf Medien angewiesenen Machtelite Tür und Tor geöffnet sind. In Kriegs- und Krisensituationen kommt noch hinzu, dass es im Interesse von Militärs, Kriegsparteien oder Kriegs- und Krisenprofiteuren ist, „solche Überprüfungen zu verhindern, die ihnen selbst schaden könnten.“6
Genau diese Entwicklung beobachten wir heutzutage bei der Berichtserstattung über den Krieg in der Ukraine. Die bedrückenden Bilder des Krieges sollen uns wohl eine bestimmte „Realität“ vermitteln, die uns dazu verleiten sollte, diese mediale „Realität“ im Sinne der Meinungsmacher und Nachrichtendeuter zu interpretieren, damit wir so denken und urteilen, wie sie denken und urteilen, und genauso (vor)verurteilen, wie es uns suggeriert wird, zu (vor)verurteilen. Wahrheitsfindung spielt dabei keine Rolle, wichtig ist allein der Glaube daran, was uns mittels der zugespielten Bilder und deren Deutung suggeriert und vorgedacht wird.
Eine solche Berichterstattung erfüllt eine dreifache Funktion:
(1) Sie dient zur Mobilisierung der eigenen Bevölkerung in Zeiten des Krieges, die dazu verleiten sollte, sich zum einen hinter der Regierungspolitik in Zeiten der Not zu scharen bzw. die Außenpolitik kritik- und bedingungslos zu akzeptieren und zum anderen in „schicksalshaften“ Zeiten der Nation zu Opfern und Entbehrungen bereit und gewillt sein. Denn die eingeleitete Sanktionspolitik gegen den „Aggressor“ verlangt ja von uns eine „freiwillige“ Opferbereitschaft und die damit verbundenen Entbehrungen und Selbstverzicht, aber auch Inkaufnahme selbst einer wirtschaftlichen Rezession – wenn nicht gar – Depression, die auf uns zukommen könnte.
(2) Der Medienkrieg dient ferner dazu, die geschlossenen Reihen des geopolitischen Rivalen zu sprengen und Aufruhr in dessen Innenraum der Macht zu provozieren bzw. auszulösen.
(3) Schlussendlich bezweckt der Informations- und Medienkrieg die Weltöffentlichkeit zu mobilisieren und gegen den „Aggressor“ in Stellung zu bringen, damit seine Vorgehensweise geopolitisch und geomoralisch delegitimiert und er zur Umkehr bewegt wird.
Jede geopolitische Konfrontation schafft sich selbst ihre Feindbilder, welche in der Öffentlichkeit medial verbreitet und stets reproduziert werden, bis sie in der öffentlichen Meinung festverankert werden – so fest, dass kein anderes Bild mehr vorgestellt werden kann. Das Feindbild entwickelt eine besonders virulente Form der Aggressivität, die jedwede Kompromisse ausschließt. Der geopolitische Rivale müsse vielmehr moralisch an den Pranger und ökonomisch unter Quarantäne gestellt werden, bis das Aggressionsvirus, das er in sich trägt, ausgerottet ist.
Der Aggressor werde dabei selbstverständlich medial vorverurteilt und ihm jede Grausamkeit und jede verabscheuungswürdige Schandtat unterstellt, die anhand der zugespielten grausamen Fernsehbilder derart „evident“ seien, dass sie keines weiteren Beweises mehr bedürfen. Da sind alle Informations- und Medienkrieger unserer Zeit in ihrem Element und jedes Mittel ist ihnen recht in einem anscheinend nie enden wollenden Kampf um „Recht“ und „Gerechtigkeit“, in welchem die Meinungsmacher und Bilderdeuter die stattgefundenen Ereignisse im Sinne des Mainstreams derart deuten und auslegen, dass der geopolitische Rivale moralisch entmenschlicht, außenpolitisch an den Pranger gestellt und weltpolitisch delegitimiert wird.
In einem solchen medialen Lebens- und Machtumfeld regiert nicht so sehr ein gesunder Menschenverstand als vielmehr geopolitisch motivierte Inszenierungen, begleitet von Vorurteilen und Vorverurteilungen, die unseren Geist vernebeln, uns geistig verwirren und unser Denkvermögen allein auf ein Tagesereignis reduzieren, dessen Erkenntnisgewinn nicht über einen Tag hinaus reicht, ohne dass wir uns unserer Geistesverarmung bewusst sind. Damit steigt aber automatisch die Neigung zu psychologisierenden, moralisierenden, selbstgerechten und simplifizierenden Gedankengängen, die eher Geistesverwirrung stiften als eine Geisteshaltung fördern.
Die Geistesverarmung fördert in Verbindung mit der Halb- und Unbildung und durch Massenmedien unterstützt ein manipuliertes Bewusstsein und macht ein system- und medienkonformes Denken unausweichlich. Es soll uns allein und ausschließlich dazu befähigen, im Sinne der Systemkonformität die uns zurechtgemachten Informationen zu verarbeiten.
Der Systemkonformismus ist allerdings janusköpfig: Er beschützt und verführt zugleich, gibt uns Halt, macht aber gleichzeitig haltungslos, formt unser Selbstbewusstsein, macht es aber zugleich abhängig und fremdbestimmt. Die Systemkonformität ist befreiend und unterwerfend zugleich, weil sie die Selbstbestimmung und das Selbstbewusstsein fördert, gleichzeitig aber ein systemkonformes Verhalten als Gegenleistung zurückfordert. Und so korrumpiert das System unsere Lebens- und Geisteshaltung, ohne dass wir dessen bewusst sind. Gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst sind wir stets im Schlepptau des Informationskrieges der medialen Manipulation ausgesetzt, deren Wirkmächtigkeit wir oft nicht einmal annährend erkennen (können). In dieser „heilen“ Welt der schwindelerregenden, aberwitzigen Informationsvergewaltigung, verzehrenden Berichtserstattung, karikierenden und persiflierenden Scheinerkenntnisse der Meinungsmacher und Nachrichteninterpreten ist alles erlaubt und gestattet, ausgenommen die Urteilskraft, die uns dazu befähigen sollte, auch gegen die Mainstream-Medien urteilen zu können bzw. gegen den medialen Strom schwimmen zu dürfen. Da möchte man mit Goethe am liebsten immer wieder und immer lauter in die Menge rufen:
„Ursprünglich eignen Sinn Lass dir nicht rauben! Woran die Menge glaubt, Ist leicht zu glauben. Natürlich mit Verstand Sei du beflissen; Was der Gescheite weiß, Ist schwer zu wissen.“
2. Im Auftrag der Weltverbesserer
Sieht man einen Augenblick von der medialen „Realität“ und Virtualität des Informationskrieges ab und wendet man sich der brutalen geopolitischen Realität zu, so stellt man sehr bald fest, welche Weltunordnung die Weltverbesserer in den vergangenen zwei Jahrzehnten geschaffen haben. Auf einen Nenner gebracht, kann man sie wie folgt charakterisieren: Sie kamen, zerstörten und gingen, und zwar zweiundzwanzig Jahre lang (1999-2021): Der Kosovo-Krieg, die Afghanistan- und Irak-Invasion sowie Libyen- und Syrien-Interventionen hinterließen nur noch verbrannte Erde. Und heute belehren sie die verdutzte Öffentlichkeit mit Verweis auf den Krieg in der Ukraine, was der Wert des Menschenlebens, Menschenrechte und insbesondere die Achtung des humanitären Völkerrechts bedeutet. Das nennt sich eine geopolitische Obszönität oder – vornehmer ausgedrückt – ein geopolitisches Absurdistan, dessen Gewaltmoral7 zur Staatskunst erhoben wurde.
Der Kosovo-Krieg offenbarte zum ersten Mal und mit aller Deutlichkeit die Folgen des Untergangs des Sowjetimperiums. Er war die Geburtsstunde einer neuen, vom US-Hegemon geführten hegemonialen Weltordnung. Die ganze Tragweite des Transformationsprozesses von der Nachkriegsordnung in eine hegemoniale Weltordnung ging zunächst verborgen vor sich, bis die nachfolgenden, militärischen Interventionen und Invasionen ihn sichtbar werden lassen. Mit dem Kosovo-Krieg demonstrierte die NATO „eindrucksvoll“ ihr neues Machtinstrument der sog. „humanitären Intervention“, das sich allerdings als ziemlich diffizil erwies.
Es lieferte eine Legitimationsgrundlage für den eigenmächtigen, vom Weltsicherheitsrat nicht sanktionierten, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der NATO gegen die Volksrepublik Jugoslawien, legte aber gleichzeitig ein Fundament für einen Erosionsprozess der gerade im Entstehen begriffenen hegemonialen Weltordnung.
Das neue Hegemonialsystem zeichnete sich dadurch aus, dass es sich selbst im Namen der Menschenrechte legitimierte, das Gewaltverbot der UN-Charta umdefinierte und das UN-Recht ins NATO-„Völkerrecht“ transformierte. Auf der Grundlage dieser Neulegitimation, Umdefinition und Transformation entstand ein hegemoniales Weltordnungssystem mit noch mehr Gewalt und Zerstörung, begleitet von zunehmenden Spannungen zwischen dem US-Hegemon und seinen geopolitischen Rivalen China und Russland.
Mit dem Kosovo-Krieg etablierte der US-Hegemon eine hegemoniale Interventionspraxis unter Umgehung des UN-Rechts und machte die vom Völkerrecht geächteten Angriffskriege wieder salonfähig. Was aber die Salon-Menschenrechtler betraf, so kümmerten sich diese Herrschaften weniger um konkrete menschliche Schicksale als vielmehr um abstrakte, blutleere „Ideale“ zwecks Befriedigung ihres pseudomoralischen Gewissens.
Mit dem Kosovo-Krieg wurde die UN-Nachkriegsordnung endgültig zu Grabe getragen, indem das höchste Prinzip der UN-Charta, die kollektive Friedenssicherung, de facto auf die „Friedensschaffung“ durch die vom US-Hegemon dominierte Hegemonialordnung überging. Es war nur folgerichtig vom Vorsitzenden des Beratungsausschusses beim US-Verteidigungsministerium Richard Perle 2002 seine „tiefe Besorgnis“ darüber zu erklären, dass den Vereinten Nationen das Recht zugesprochen werde, über Krieg und Frieden zu entscheiden, wo doch diese Berechtigung mit größerer Legitimation der NATO als der Gemeinschaft demokratischer Staaten zustünde (International Harald Tribune, 28.11.2002, S. 4).8
Die Folgen der Transformation des Systems der kollektiven Friedenssicherung der UN-Charta in das System der US-amerikanischen „Friedensschaffung“ sind zahlreiche militärische Interventionen und US-Invasionen in Afghanistan, Irak, Libyen, Jemen, Somalia, Syrien und nicht zuletzt ein fortwährender Drohnenkrieg überall und zu jeder Zeit in den vergangenen zwanzig Jahren. Die Opferzahlen der US-Interventionen und Invasionen nach dem 11. September 2001 wurden zwar offiziell weder erfasst noch veröffentlicht. Und vieles wurde auf der US-amerikanischen Seite entweder vorsätzlich vertuscht oder nicht protokolliert oder es gab einfach kein Interesse an Aufklärung (warum auch?). Manche Untersuchungen beziffern die Opferzahl aber auf mehrere Millionen.
Allein im Irak wird die Opferzahl auf „etwa 2,4 Millionen Menschen“ geschätzt. Die anderen Schätzungen belaufen sich „lediglich“ auf ca. 600.000 oder noch weniger auf maximal 150.000 (bis Anfang 2008).9
In Afghanistan „liegt die Zahl der seit 2001 auf beiden Seiten getöteten Afghanen bei etwa 875.000, minimal 640.000 und maximal 1,4 Millionen.“10 In Kombination mit Pakistan schätzt Nicolas J. S. Davies „bis zum Frühjahr 2018 auf etwa 1,2 Millionen getöteter Afghanen und Pakistanis durch die US-Invasion in Afghanistan seit 2001.“11
Wer also die UN-Weltordnung in den vergangenen zwanzig Jahren in eine „Weltgewaltordnung“ (Karl Otto Hondrich)12 verwandelt hat, kann sich darüber nicht beklagen, dass auch die anderen Großmächte dasselbe tun. Offenbar kann der brutale Kriegsgott Ares, der selbst von seinem Vater Zeus verachtet wurde, nicht allein vom „allmächtigen“ US-Hegemon monopolisiert werden. Offenbar macht die Großmacht Russland den USA das Weltgewaltmonopol streitig und vereinnahmt den Kriegsgott ohne Rücksicht auf Verluste für sich. Die US-hegemoniale „Weltgewaltordnung“ transformiert sich gerade vor unseren Augen in eine multipolare Weltgewaltordnung und bekommt eine neue blutrünstige Fratze und keine(r) weiß, wohin das noch führen wird.
3. Expansion versus Sicherheit
Was die Bilder des Krieges in der Ukraine allerdings vermissen lassen, sind die Hintergründe und Ursachen dieses Gewaltausbruchs. Wie konnte es überhaupt zu dieser „Magie der Gewalt“ (Christoph V. Albrecht)13 kommen? Und was steckt dahinter? Auf diese Frage hat das Urgestein der amerikanischen Russlandforschung George F. Kennan bereits vor einem Vierteljahrhundert eine präzise Antwort gegeben, als er die Clinton-Administration nachdrücklich vor der NATO-Expansion gen Osten warnte: „Eine Ausweitung der NATO wäre der verhängnisvollste Fehler amerikanischer Politik nach dem Ende des Kalten Krieges.“14 Kennans Warnung aus dem Jahr 1997 ist heute vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine eine brutale geopolitische Realität geworden. Heute rächt sich die Machtarroganz, mit welcher die Clinton-Administration diese Warnung ignorierte und ihr keine Beachtung schenkte.
Zu euphorisiert waren die US-amerikanischen und europäischen Machteliten jener Zeit von der „siegreichen“ Beendigung des „Kalten Krieges“. Entsprungen vor allem aus einem unausrottbaren Glauben an die moralische Ausschließlichkeit und axiologische Überlegenheit der eigenen Zivilisation und an die universelle Geltung und Gültigkeit des eigenen Wertekanons, dem Russland bedingungslos zu folgen habe und in dessen Namen „Demokratie“, „Menschenrechte“ und „Rechtsstaat“ aufoktroyiert werden sollte. Der Westen suchte mit seiner Expansionspolitik bereits seit Jahren seine Sicherheitsstrukturen zu erweitern und bewegte sich damit die ganze Zeit auf den sicherheitspolitischen Abgrund zu.
Diese Oktroyierungsideologie, bei welcher der universelle Geltungsanspruch auf deren Verwirklichung der geopolitischen Realität so weit vorauseilte, dass sie meistens „wie bloße Luftspiegelungen über dem Boden zu schweben“15 schien, hat angesichts des kulturellen Selbstverständnisses Russlands versagt und ist vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine sicherheits- und geopolitisch gescheitert.
Heute ernten wir, was wir vor einem Vierteljahrhundert gesät haben: eine Desavouierung, Gefährdung und Untergrabung der gesamteuropäischen Friedens- und Sicherheitsordnung. Die nicht enden wollende NATO-Osterweiterung hat heute Krieg und nicht mehr Sicherheit gebracht. Heute tobt Krieg in Europa und die NATO weist jede Verantwortung von sich: An allem sei allein der „Kriegsverbrecher“ Putin schuld. Diese wohlfeile Denunziation der russischen Führung hält keiner Kritik stand. Die NATO-Ostexpansion hatte in Verbindung mit dem Kosovo-Krieg ursprünglich und langfristig das Fundament zur Untergrabung der gesamteuropäischen Friedens- und Sicherheitsordnung gelegt.
In seinem jüngsten Buch „Made in Washington“ hat Bernd Greiner die längst verschüttete Erkenntnis erneut in Erinnerung gerufen, als er zutreffend feststellte, wie verheerend die beiden Ereignisse auf die russische Führung und vor allem die russischen Militärs gewirkt haben: „Erst die Osterweiterung der NATO, dann die Luftschläge gegen Serbien, der Nachhall dieser Ereignisse kann nicht hoch genug taxiert werden. Wut, Zorn und Verbitterung fanden in dem Slogan >heute Belgrad, morgen Moskau< ihren Niederschlag. Wer auch immer in Moskau damit hausieren ging und was auch immer damit gemeint war, ein Verdacht schwang in jedem Falle mit: Russland wird in die Zange genommen, für die USA sind wir überflüssig und sie behandeln uns wie Überflüssige.“16
„Wenn die USA Regeln nur befolgen“ – lautete ein anderer Vorwurf -, „solange sie ihren Interessen dienen, warum sollte sich dann Russland an Regeln halten?“17 Wie der Kriegsausbruch in der Ukraine zeigt, hat Russland nunmehr ebenfalls entschieden, nach langer Abstinenz sich an keine Regeln mehr zu halten. Offenbar bestand aus russischer Sicht sozusagen ein „Nachholbedarf“, um die vom US-Hegemon geschaffene „Weltgewaltordnung“18 zu komplettieren.
Das Ende des „Kalten Krieges“ hat in Osteuropa ein geopolitisches Vakuum hinterlassen, das von der NATO mit Verzögerung innerhalb eines knappen Jahrzehnts überwunden wurde. In Westeuropa blieb alles beim Alten. Es entstand ein sicherheitspolitisches Machtungleichgewicht zu Lasten der Nuklearmacht Russland. Diese Sicherheits- und damit eng verbunden geopolitische Machterosion Russlands in Europa konnte bei gleichzeitiger Beibehaltung des sowjetischen Nuklearpotenzials auf Dauer nicht gut gehen. Die NATO-Ostexpansion hat die bereits bestehende Machterosion Russlands nur noch potenziert und dadurch geostrategisch ein sicherheitspolitisches Dilemma ausgelöst, in dem sich Russland nicht zuletzt wegen ökonomischer Schwäche und technologischer Rückständigkeit gefangen war.
Russland stand vor dem folgenden Dilemma: Entweder büßt es seine Großmachtstellung ein und verkommt zu einer „Regionalmacht“ – wie Obama Russland einst verächtlich nannte – oder versucht – wenn nicht ökonomisch, so doch wenigstens – militärisch mit den USA und China gleichzuziehen. Die russische Führung entschied sich – was auch keine Überraschung war – für die zweite Option.
Überlebenswichtig war dabei – um das Ziel nur annährend erreichen zu können – die NATO-Ostexpansion mit welchen Mitteln auch immer zu stoppen. Da die USA nicht einmal im Traum daran dachten, den von der russischen Führung Mitte Dezember 2021 gestellten Sicherheitsforderungen entgegenzukommen, war eine militärische bzw. militär-technische Lösung des Konflikts zwischen Russland und dem Westen unausweichlich, zumal der Aufbau der NATO-Infrastruktur auf ukrainischem Territorium de facto im vollen Gange war, was der russischen Führung nicht verborgen blieb und sie seit langem beunruhigte.
Der Krieg in der Ukraine war, so gesehen, aus russischer Sicht nur folgerichtig und geostrategisch unausweichlich. Offenbar war für die russische Führung jeder weitere Aufschub der Kriegshandlungen keine Option mehr, auch wenn sie eine friedlichere Lösung bevorzugt hätte, die ihr allerdings verbaut wurde.19 Es hat sich darum für die zweitbeste, eben militärische Lösung entschieden. Mit anderen Worten: Russland agiert militärisch eher aus der Position der Schwäche denn aus einer Position der Stärke, um einer weiteren Vertiefung des Machtungleichgewichts in Europa entgegenzuwirken, das sicherheitspolitische Risiko abzubauen und damit das Abgleiten in eine geopolitische Bedeutungslosigkeit Russlands zu verhindern.
Die nukleare Abschreckung funktioniert heute zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung als Prinzip der Konfliktbegrenzung in Europa wie zurzeit des „Kalten Krieges“ mangels Mächtegleichgewichts nicht mehr. Das geostrategische Ziel der russischen Führung ist daher dieses Gleichgewicht gezwungenermaßen mittels militärischer Aktion wiederherzustellen. Ob dieses Ziel erfolgreich sein wird, ist ungewiss. Es hängt im Wesentlichen von zwei Faktoren ab: dem Ausgang des Krieges in der Ukraine und des Wirtschaftskrieges zwischen dem Westen und Russland. Nur eins ist heute gewiss: Eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa bleibt auf der Strecke und ist bis auf weiteres nicht in Sicht.
Anmerkungen
1. Schmitt, C., Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen. 2. Aufl. Berlin 1963, 95.
2. Vgl. Alewyn, R., Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste. München 1985, 91.
3. Zitiert nach Schulz, W., Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Analyse der aktuellen Berichterstattung. 2. Aufl. Freiburg/München 1990, 9.
4. Schulz (wie Anm. 3), 9
5. Becker, J./Beham, M., Operation Balkan: Werbung für Krieg und Tod. Baden-Baden 2006, 18 ff.
6. Becker/Beham (wie Anm. 5), 21.
7. Zum Begriff siehe Silnizki, M., Im Würgegriff der Gewalt. Wider Apologie der „Weltgewaltordnung“. 30. März 2022, www.ontopraxiologie.de.
8. Zitiert nach Müller, H., Die Arroganz der Demokratien. Der „Demokratische Frieden“ und sein bleibendes Rätsel, in: Wissenschaft & Frieden 2 (2003).
9. Davies, Nicolas J. S., Die Blutspur der US-geführten Kriege seit 9/11: Afghanistan, Jemen, Libyen, Irak, Pakistan, Somalia, Syrien, in: Mies, U. (Hrsg.), Der tiefe Staat schlägt zu. Wie die westliche Welt Krisen erzeugt und Kriege vorbereitet. 2. Aufl. Wien 2019, 131-152 (132). Greiner, B., Made in Washington. Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben. München 2021, 195.
10. Davies (wie Anm. 9), 141.
11. Davies (wie Anm. 9), 142.
12. Hondrich, K. O., Auf dem Weg zu einer Weltgewaltordnung, in: NZZ 22.03.2003, S. 50; dazu Silnizki (wie Anm. 7).
13. Albrecht, Ch. V., Die Sachlogik des preußischen Generalstabs unter Moltke dem Älteren, in: Bahners, P./Roellecke, G. (Hg), Preußische Stile. Ein Staat als Kunststück. Stuttgart 2001, 364-379 (366).
14. Kennan, G. F., „A Fateful Error“, in: The New York Times, 5.2.1997, S. A23; zitiert nach Greiner (wie Anm. 9), 171.
15. Lüthy, H., In Gegenwart der Geschichte. Historische Essays. Köln Berlin 1967, 267.
16. Greiner (wie Anm. 9), 175.
17. Hill, W. H., No Place for Russia. European Security Institutions Since 1989, Columbia University Press 2018; zitiert nach Greiner (wie Anm. 9), 175.
18. Näheres dazu Silnizki (wie Anm. 7).
19. Näheres dazu Silnizki, M., Das friedlose Europa. Zum Scheitern der europäischen Sicherheitsordnung. 16. März 2022, www.ontopraxiologie.de.