Zur Frage der nichtwestlichen Perzeption des Ukrainekonflikts
Übersicht
1. Vom „kategorischen Imperativ“ der „U.S. grand strategy“
2. Eine indische Sicht auf den Ukrainekonflikt
3. Regelbasiertes Ordnungsprinzip
Anmerkungen
„Ни раба, ни повелителя дружбе не надо.
Дружба любит равенство.“
(Freundschaft bedarf weder eines Sklaven noch
eines Herren. Freundschaft liebt Gleichheit.)
(Ivan A. Gončarov)
1. Vom „kategorischen Imperativ“ der „U.S. grand strategy“
Während ihres Auftritts in „Face The Nation“ von CBS nahm die ehem. US-Außenministerin Condoleezza Rice am Sonntag, dem 26. Februar 2023, u. a. Stellung zum Ukrainekonflikt. Mit Hinblick auf die Kritik der Republikaner über eine übermäßige Finanzierung der Ukraine meinte sie: In diesem Konflikt verteidigen wir nicht nur die ukrainische Unabhängigkeit, sondern in noch höherem Maße auch „ein regelbasiertes System“ (a rules based system). Diejenigen, die uns dazu auffordern, sich lieber auf den Indopazifik zu konzentrieren, „weil China wirklich unser Gegner ist“ (because China is really our adversary), warnte sie davor, die beiden Krisenherde voneinander isoliert zu betrachten.
Die chinesisch-russische Beziehung trage zwar einen vielleicht viel größeren strategischen Charakter, als wir dachten. Und diese Beziehung ziele in der Tat „auf das Herz“ der US-Hegemonie (the Chinese-Russian relationship is perhaps more strategic than many of us had thought. That it really is a relationship that is aimed at the heart of U.S. power in the world). Den Ukrainekonflikt müsse man aber in einem großen strategischen Zusammenhang (wörtlich: „in the largest strategic picture“) sehen, forderte Condoleezza Rice .
Bemerkenswert an dieser Äußerung ist zweierlei: Es gehe im Ukrainekrieg zum einen nicht so sehr um die ukrainische Unabhängigkeit als vielmehr um die Aufrechterhaltung „der regelbasierten Ordnung“ unter der Führung des US-Hegemonen und zum anderen um die offen zutage getretene Großmächterivalität zwischen den USA und der im Entstehen begriffenen chinesisch-russischen Allianz.
Im Kontext dieses „largest strategic picture“ müsse manjenehier und heute stattfindende geopolitische Rivalität vor Augen haben, die durch den Ukrainekrieg ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Das ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist aber, dass das von Condoleezza Rice repräsentierte US-Establishment nach wie vor an der ins Schwanken geratenen „regelbasierten Ordnung“ mit aller Macht festhält.
Und so spricht auch Condoleezza Rice ihr Glaubensbekenntnis aus, als sie am Ende Ihres Interviews pathetisch verkündet: Es sei kein unvermeidliches Schicksal, dass die Chinesen diesen Machtkampf gewinnen würden, weil ich an die amerikanische Demokratie, an die amerikanische Innovation und an die amerikanische Stärke glaube.
Dieses von Condoleezza Rice verkörperte unerschütterliche Credo des US-Establishments erklärt der amerikanische Militärhistoriker und emer. Prof. f. intern. Beziehungen, Andrew J. Bacevich, in seinem Artikel „The Reckoning That Wasn’t“ (Foreign Affairs, 28. Februar 2023) damit, dass die USA nicht von ihrer Hegemonie sein lassen wollen, und geht der Frage nach, „warum Amerika in falschen Träumen von Hegemonie gefangen bleibt“ (why America Remains Trapped by False Dreams of Hegemony).
Zwei Ereignisse der US-amerikanischen Geschichte prägten laut Bacevich maßgeblich die hegemonial induzierte Ausrichtung der US-Außenpolitik: der Sieg im Zweiten Weltkrieg und im „Kalten Krieg“. Diese Ereignisse seien im Kollektivbewusstsein („collective imagination“) der US-Amerikaner mittlerweile derart verankert, dass die globale Führung der USA (U.S. global leadership), die von der überlegenen militärischen Macht (superior military power) abgefedert wird, zum „kategorischen Imperativ“ (a categorical imperative) der US-Außenpolitik geworden sei.
Diesem „kategorischen Imperativ“ erteilt Bacevich freilich eine klare Absage. Der Sieg über Nazideutschland hat sich nicht so sehr als Bestätigung oder Vorbote vom „U.S. global leadership“ als vielmehr als „Quelle von Illusionen“ (source of illusions) erwiesen. Der kostspielige und gesellschaftszerreissende Vietnamkrieg demolierte schließlich diese Illusionen.
Und die Freude über den „Kollaps des Kommunismus“ Ende der 1980er-Jahre war ebenfalls von kurzer Dauer. Der erfolglose „Krieg gegen den Terror“ nach 9/11 entlarvte einmal mehr die vermeintliche „U.S. military supremacy“. Dessen ungeachtet klammere sich das außenpolitische US-Establishment nach wie vor an den Mythos, „dass die Welt mehr amerikanische Militärmacht braucht“ (that what the world needs is more American military power).
Bacevichs Kritik ist zwar nicht von der Hand zu weisen, aber ergänzungsbedürftig. Geopolitisch und geoökonomisch gesehen, war die US-Außenpolitik alles andere als erfolglos. Der US-Geostrategie der 1990er-Jahre ist es immerhin gelungen, den postsowjetischen Raum geoökonomisch zu destabilisieren und das postsowjetische Russland zu deindustrialisieren sowie ökonomisch und monetär zu domestizieren. Bis heute sind die geoökonomischen Folgewirkungen der 1990er-Jahre in Russland deutlich zu spüren.1
Die Nato-Osterweiterungspolitik spricht ebenfalls für sich. Dass diese US-Expansionspolitik zur Zerrüttung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen geführt hat, ist die Kehrseite der US-Geostrategie, die billigend in Kauf genommen wurde. Die Spannungen zwischen Russland und dem Nato-Militärbündnis waren zudem absehbar, worauf immer und immer wieder hingewiesen wurde.2 Diese geo- und sicherheitspolitischen Spannungen entluden sich letztendlich – wie man heute weiß und sieht – auf ukrainischem Boden.
Auch die sog. „humanitären Interventionen“ und US-Invasionen in den Jahren 2001-2021 haben dazu wesentlich beigetragen, worauf Bacevich zu Recht hinweist.
Mit Verweis auf den Vorsitzenden der britischen Labour Party, Hugh Gaitskell , der die Suezkrise von 1956 als „einen Akt katastrophaler Torheit“, der „dem Prestige und dem Ruf unseres Landes irreparablen Schaden zufügte“, charakterisierte und dem britischen Premier Anthony Eden seinen Job kostete, meinte Bacevich : Die Suezkrise zwang die Briten anzuerkennen, dass ihr imperiales Projekt in eine Sackgasse geraten sei und die überkommene Methode, die schwächeren Völker auf Linie zu bringen, nicht mehr funktionieren würde.
Die vergangenen zwei Jahrzehnte der US-Interventions- und Invasionskriege hätten nach Bacevich als ein solches „Suez-Momentum“ fungieren können und müssen. Doch weit gefehlt! Das außenpolitische US-Establishment klammere sich weiterhin an den Mythos, dass die Welt mehr amerikanische Militärmacht brauche. Das Scheitern im Irak hinderte Washington nicht daran, seinen „good war“ in Afghanistan sogar zu intensivieren – ein Wahnsinnsakt, der 2021 in einem chaotischen und demütigenden Rückzug gipfelte.
Russlands Invasion in der Ukraine habe nun dieses Afghanistandebakel ebenso, wie den Irakkrieg vor zwanzig Jahren, schnell vergessen lassen, sodass die Biden-Administration die gleichen Fehler, die zu diesen Debakeln geführt haben, zu wiederholen scheine, indem sie glaube, der vermeintlichen „globalen Führungsrolle“ gerecht zu werden.
Während das US-Establishment immer noch von der glorreichen Vergangenheit träume und weiterhin an der „superior military power“ festhalte, wofür sie in den letzten zwanzig Jahren infolge der zahlreichen US-Militäraktionen nach Einschätzung des „Costs of War“-Projekts der Brown University seit 9/11 rund acht Billionen Dollar ausgegeben habe, vollziehe die nichtwestliche Welt einen tiefgreifenden Wandel, indem sie sich zunehmend vom Westen im Allgemeinen und den USA im Besonderen abwende.
Statt sich das „Suez-Momentum“ zu eigen zu machen und die tektonischen Machtverschiebungen im globalen Raum zu reflektieren, verstricke sich nach Bacevichs Auffassung die „U.S. grand strategy“ der Biden-Administration in Widersprüchen. Zum einen beharre Washington auf die Aufrechterhaltung „des Modells der militarisierten globalen US-Führungsrolle“ (model of militarized global leadership), auch wenn die Relevanz dieses Modells abnehme, die verfügbaren Ressourcen zu seiner Verwirklichung schwinden und die Aussichten, den privilegierten Platz des Landes in der internationalen Ordnung zu bewahren, sinken.
Zum anderen bestehe das außenpolitische US-Establishment darauf, dass es keine denkbare Alternative zur militärischen Führungsrolle der USA mit Verweis auf die russische Invasion in der Ukraine gebe. Die Biden-Administration erwecke damit den falschen Eindruck, als hätte der Ukrainekrieg die USA dazu geradezu genötigt, wieder einmal Weltgeschichte zu schreiben und die Menschheit gegen die Tyrannei anzuführen, um die Welt zu retten. Aber genau diese Hybris habe laut Bacevich das Land immer wieder in die Irre geführt. Und so wiederholt er unbewusst lediglich die Erkenntnis von Hugo von Hofmannsthal (1874-1929): „Eine Hybris ist auch hier: im Überspannen der Kräfte“3.
Getreu dem messianischen Sendungsbewusstsein verfasste die Biden-Administration die „National Security Strategy 2022“. In dieser „Strategie“ wird u. a. verkündet, dass der Bedarf an der amerikanischen Führerschaft in der Welt so groß wie nie zuvor sei. Wir befinden uns inmitten eines strategischen Wettbewerbs um die Weltordnung der Zukunft. Die USA werden mit unseren Werten führen, mit unseren Verbündeten und Partnern und mit all denen zusammenarbeiten, die unsere Interessen teilen. Wir werden unsere Zukunft nicht den Launen derer aussetzen, die unsere Vision einer freien, offenen, wohlhabenden und sicheren Welt nicht teilen usw.
„Diesen Wortsalat“ – kommentiert Bacevich spöttisch die Passage der „National Security Strategy 2022“ – biete für jeden etwas, kann aber nicht als Grundlage für eine kohärente Politik dienen. „Als Strategiestatement vermarktet, bezeugt es stattdessen die Abwesenheit von Strategie“ (Marketed as a statement of strategy, it instead testifies to the absence of strategy).
Nun holt Bacevich in seiner Studie die Ideen von George F. Kennan aus der Mottenkiste der Geschichte, um seine Konzeption der „U.S. grand strategy“ für das 21. Jahrhundert zu entwerfen. Dabei ignoriert er den Umstand, dass Kennan in einer ganz anderen Epoche lebte und vergleicht damit das Unvergleichbare. Kennan lebte und wirkte in Zeiten des ideologischen Systemwettbewerbs und kämpfte erbittert gegen einen ideologischen Feind.
Im Gegensatz zum ideologischen Systemwettbewerb der bipolaren Weltordnung leben wir heute in einer ganz anderen Welt – in einer Welt der geopolitischen Großmächterivalität. Zwar versucht Joe Biden die „schönen“ alten Zeiten des „Kalten Krieges“ zu reanimieren und die ausgebrochene geopolitische Rivalität zu ideologisieren. Dieser Reanimierung der ideologischen Leiche erteilt Bacevich zu Recht eine klare Absage.
An Stelle des ideologischen Systemwettbewerbs zwischen Kapitalismus und Kommunismus tritt nach Biden ein pseudo-ideologischer Gegensatz: Demokratie contra Autokratie , ohne dass sich der alte Haudegen des „Kalten Krieges“ und all die ihm folgenden Claqueuren der verfassungshistorischen Bedeutung des Begriffs Autokratie überhaupt im Klaren sind. Ebenso wenig ist ersichtlich, seit wann das kommunistische Land wie China zu einer Autokratie geworden ist.
Allein diese Gleichsetzung von Kommunismus und Autokratie zeigt, wie absurd diese gekünstelte Gegenüberstellung Demokratie contra Autokratie ist. Die mechanische Übertragung des US-Kampfes gegen die Sowjetideologie zurzeit des „Kalten Krieges“ auf die Großmächterivalität der Gegenwart verschleiert nach Bacevich nur den US-Anspruch auf die Aufrechterhaltung der „American hegemony“. „Bidens häufiges Insistieren darauf“ – schreibt Bacevich weiter -, „dass das Schicksal der Menschheit vom Ausgang eines kosmischen Kampfes zwischen Demokratie und Autokratie abhängt (Biden’s frequent insistence that the fate of humankind hinges on the outcome of a cosmic struggle between democracy and autocracy)“, camoufliert das Bestreben der Biden-Administration, die militärische Vorherrschaft der USA (U.S. military supremacy) aufrechtzuerhalten bzw. auszubauen.
Was hätte George F. Kennan stattdessen gemacht? 1948 schlug Kennan nach Bacevichs Angaben eine US-Strategie vor, die darauf abzielt, „auf alle Sentimentalität und Tagesträume zu verzichten“ (to dispense with all sentimentality and day-dreaming) und sich „auf unsere unmittelbaren nationalen Ziele“ (on our immediate national objective) zu konzentrieren. Das Land könne sich „den Luxus des Altruismus und der weltweiten Wohltätigkeit“ (the luxury of altruism and world-benefaction) nicht leisten.
Dieser von Kennan befürworteten isolationistischen Ausrichtung der US-Außenpolitik haben alle US-Nachkriegsadministrationen zu Recht eine klare Absage erteilt. Der „Kalte Krieg“ tobte und in Zeiten des ideologischen Systemwettbewerbs gab es keinen Platz für den traditionellen US-Isolationismus der Vorkriegszeit, zumal die USA nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges endgültig zur Welt- und Supermacht aufgestiegen sind. Sie konnten sich aus ideologischen und geopolitischen Erwägungen eine isolationistische US-Außenpolitik nicht mehr leisten.
Auf die Gegenwart bezogen, meint Bacevich freilich, sei nicht die aus der damaligen Zeit geborene Analyse, sondern Kennans Spirit das Gebot der Stunde: „Realismus, Nüchternheit und eine Wertschätzung von Machbarkeitsgrenzen, zusammen mit einer Betonung auf Zielstrebigkeit, Disziplin und das, was Kennan >Ökonomie der Anstrengung< nannte“ (realism, sobriety, and an appreciation of limits, along with an emphasis on purposefulness, discipline, and what Kennan called >economy of effort<).
Eine solche „Realpolitik“ empfiehlt Bacevich nun auch der Biden-Administration in Zeiten der ausgebrochenen Großmächterivalität, in denen die unipolare Weltordnung auf dem Rückzug und die multipolare auf dem Vormarsch sei. Wörtlich schreibt er: „1948 befürchtete Kennan, dass die Amerikaner >den romantischen und universalistischen Konzepten< erliegen könnten, die während des jüngsten Krieges entstanden waren. Er hatte Recht, sich Sorgen zu machen“ (In 1948, Kennan feared that Americans might succumb to >the romantic and universalistic concepts< that had sprouted during the recent war. He was right to worry).
Getreu Kennans Geist stellt Bacevich sodann klar: Bringen die USA ihr Haus nicht in Ordnung, können sie ihre globale Führungsrolle vergessen, vom imaginären Wettbewerb zwischen Demokratie und Autokratie (imaginary competition pitting democracy against autocracy) ganz zu schweigen. Washington müsse dringend dem Rat folgen, den Kennan 1948 gab und den das US-Establishment stets ignorierte: Vermeiden Sie die unnötigen Kriege und transformieren Sie das US-Militär in eine Truppe, die das amerikanische Volk schütze, anstatt als „Instrument der globalen Machtprojektion zu dienen“ (to reconfigure the U.S. military into a force designed to protect the American people rather than to serve as an instrument of global power projection).
„Die Chimäre von einem weiteren militärischen Triumph“ – resümiert Bacevich – könne nicht beheben, woran die USA krankt. Ein weiterer Missbrauch der US-Macht, der zu den Markenzeichen unserer Zeit geworden sei, sei nicht mehr tolerabel (to tolerate the further misuse of American power … that have become the hallmarks of our time).
Dass diese bemerkenswerten Erkenntnisse von Andrew J. Bacevich zur Richtschnur der „U.S. grand strategy“ werden, darf bezweifelt werden. Zu sehr ist das außenpolitische US-Establishment immer noch vom messianischen Sendungsbewusstsein ergriffen. Zu tief verankert ist die Überzeugung der Biden-Administration von der globalen Führungsrolle der USA und zu wenig reflektiert sie die zunehmende Skepsis des „Globalen Südens“ über Amerikas globale Führungsrolle in der Welt. Von „American hegemony“ als „Markenzeichen unserer Zeit“ kann wahrlich keine Rede mehr sein. Und der Ukrainekonflikt ist der beste Beweis dafür.
2. Eine indische Sicht auf den Ukrainekonflikt
Während der Westen – in der eigenen selbstgeschaffenen medialen Blase verbleibend – Selbstgespräche unter Gleichgesinnten führt, einen unerklärten Krieg gegen Russland vorantreibt und sich immer tiefer im Morast des Ukrainekonflikts verstrickt, brodelt es im sog. „Globalen Süden“ bzw. in der Welt des Nichtwestens. Für den Nichtwesten geht es im Ukrainekrieg nach Meinung von Shivshankar Menon (ehem. indischer Nationale Sicherheitsberater) „um die Zukunft Europas, nicht um die Zukunft der Weltordnung“ (the war in Ukraine is about the future of Europe, not the future of the world order).
In seinem Artikel „Out of Alignment. What the War in Ukraine Has Revealed About Non-Western Powers“ (Foreign Affairs, 9. Februar 2023) beklagt er die Großmächterivalität zwischen dem Westen bzw. den USA, China und Russland, die infolge des Ukrainekonflikts von den drängendsten Problemen unserer Zeit ablenkt, und stellt fest: Im Gegensatz zu vielen westlichen Experten (many Western analysts), die den Ukrainekrieg als „a turning point in geopolitics“ betrachten, sei die Stimmung jenseits des Westens ganz anders.
Der Globale Süden habe sich neutral verhalten. Zwar respektiere er nach wie vor – beteuert Menon – den westlichen Sanktionskrieg weitgehend und bewege sich gezwungenermaßen in einem Weltordnungssystem, das nicht mehr viel Vertrauen in seine Sicherheits- und Wirtschaftsstrukturen genießt. Der Ukrainekrieg trug aber aus seiner Sicht wenig bis gar nichts dazu bei, „die Weltordnung neu zu definieren“ (redefine the world order).
Vielmehr habe der Ukrainekonflikt die Weltordnung in zweierlei Hinsicht erodieren lassen. Infolge der russischen Invasion haben alle Großmächte zum einen an Macht und Prestige (all the great powers in both power and prestige) eingebüßt und ihre Machtstellung geschwächt. Am deutlichsten sei diese Schwächung in Russland, am wenigstens in den USA zu beobachten. Europa befinde sich irgendwo dazwischen. Für die EU-Europäer habe der Ukrainekrieg ihre Fähigkeiten erheblich limitiert, eine bedeutende globale Rolle zu spielen (to play a broader global role), da sie sich auf absehbare Zeit mit sich selbst bzw. mit der europäischen Sicherheitsordnung beschäftigen werden.
Nun ja, die EU-Europäer beschäftigen sich bereits seit Jahrzehnten überwiegend mit sich selbst. Und was die geo- und sicherheitspolitische Rolle Europas im globalen Raum angeht, so war sie im Grunde seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges weit und breit nicht zu sehen.
Zutreffend merkt der Inder freilich an: So sehr der Ukrainekrieg die Beziehungen zwischen den Großmächten („relations between the major powers“) depravierte, so tiefgreifend seien die Auswirkungen einer schwächelnden Weltordnung („a weakening world order“) auf die Länder des „Globalen Südens“. Die Folge dieser Entwicklung sei die Suche nach Alternativen zu der gegenwärtigen westlich dominierten Welt. Im Gegensatz zum Ost-West-Konflikt sei „ein klarer dritter Weg“ (a clear third way) nicht in Sicht, da keine bipolare Ordnung mehr existiere.
Bei allem Gerede vom Systemwettbewerb zwischen Demokratie und Autokratie gebe es keine zwei voneinander abgeschotteten Wirtschaftssysteme wie zurzeit des „Kalten Krieges“. Die wirtschaftliche Interdependenz zwischen China und den USA und die Realität einer globalisierten Weltwirtschaft lasse praktisch keine Bipolarität zu. Stattdessen finde eine Rivalität nicht etwa zwischen zwei Supermächten, sondern zwischen den mehreren global agierenden Machtzentren statt.
Schon jetzt können wir davon ausgehen, dass der Ukrainekrieg einen Zerfallsprozess der unipolaren Welt beschleunigt habe, an deren Stelle zum einem eine Multipolarisierung der Weltordnung trete, begleitet zum anderen von einer zunehmenden Großmächterivalität. Zum dritten führe diese Rivalität dazu, dass der „Globale Süden“ sich von der bestehenden unipolaren Weltordnung immer mehr distanziere und seine eigenen unabhängigen Lösungen suche.
Dieser indischen Analyse stimmte selbst Fiona Hill zu. Bei aller Verdammung von „Putins Regime“ und „Putins brutal geführtem Krieg“ gestehen sie und ihre britische Co-Autorin Angela Stent in ihrem emotional verfassten Aufsatz „The Kremlin’s Grand Delusions. What the War in Ukraine Has Revealed About Putin’s Regime“ (Foreign Affairs, 15. Februar 2023) ein: „Nur 34 Länder haben seit Kriegsbeginn Sanktionen gegen Russland verhängt. Russland hat immer noch Einfluss in seiner unmittelbaren Nachbarschaft … Russland baut weiterhin Beziehungen in Afrika, Asien, Lateinamerika und dem Nahen Osten auf. China hat sich zusammen mit Indien und anderen Schlüsselstaaten des Globalen Südens bei der Abstimmung zugunsten der Ukraine bei den Vereinten Nationen der Stimme enthalten, obwohl ihre Führer gelegentlich Bestürzung und Unmut über Moskaus Verhalten zum Ausdruck gebracht haben. Der Handel zwischen Russland und diesen Ländern hat seit Beginn des Konflikts zum Teil dramatisch zugenommen. In ähnlicher Weise bieten 87 Länder russischen Bürgern immer noch visumfreie Einreise an, darunter Argentinien, Ägypten, Israel, Mexiko, Thailand, die Türkei und Venezuela. Russische Narrative über den Krieg haben im globalen Süden an Zugkraft gewonnen, wo Putin oft mehr Einfluss zu haben scheint als der Westen – und sicherlich mehr als die Ukraine hat.“
Und Ryan McMaken (Herausgeber, Mises.org) stellte neuerlich in seinem Beitrag „One Year Later in Ukraine: Washington and NATO Got It Very Wrong“ (2. März 2023) nüchtern fest: Tatsache sei, dass trotz aller Bemühungen der USA und der Nato den Nichtwesten an ihre Seite zu ziehen, dieser Teil der Welt gar nicht daran interessiert sei, Opfer zu bringen, um die US-Geopolitik in der Ukraine zu unterstützen. Der Nichtwesten betrachtet vielmehr das US-Gerede über die Achtung der staatlichen Souveränität als pure Heuchelei. Der Ukrainekonflikt bleibe für ihn ein regionaler Konflikt (the war in Ukraine remains a regional conflict).
Dass die radikalen geopolitischen Machtverschiebungen zu Lasten des Westens gehen, ist nicht mehr zu übersehen und diese Entwicklung geht aus der nachfolgenden Analyse noch deutlicher hervor.
3. Regelbasiertes Ordnungsprinzip
Von der Münchener Sicherheitskonferenz zurückgekehrt, berichtet Stephen M. Walt (Foreign Policy-Kolumnist und Prof. f. intern. Beziehungen an der Harvard University) in seinem Aufsatz „The Conversation About Ukraine Is Cracking Apart“ (28. Februar 2023) über den frappierenden Unterschied in der Perzeption des Ukrainekonflikts zwischen der „Trans-Atlantic Community“ und den Konferenzteilnehmern aus „dem Globalen Süden“ (the global south).
„Die eingefleischten Transatlantiker“ betrachteten den Ukrainekrieg nicht nur als das wichtigste geopolitische Problem der Gegenwart und als „den Dreh- und Angelpunkt des 21. Jahrhunderts“, der „weitreichende globale Auswirkungen“ (Kamala Harris ) habe, sondern auch und insbesondere als Gefahr für „die Zukunft der gesamten regelbasierten Ordnung“ (the future of the entire rules-based order) und sogar für „die Zukunft der Freiheit selbst“ (even the future of freedom itself).
Die unipolare Weltordnung sei in Gefahr ! Die regelbasierte Ordnung sei in Gefahr ! Freiheit sei in Gefahr ! Der Alarmismus der Transatlantiker war – glaubt man Walts Berichten – mit Händen zu greifen. Woher kommt diese Weltuntergangsstimmung? Sieht man von Galizien (polnisch Galicja, ukrainisch Галичина) ab, so war die Ukraine nie ein Teil des Westens, wohl aber seit Jahrhunderten ein Teil des ostslawischen Raumes.
Die Gründe für den Alarmismus sind eher geopolitischer Natur und hat mit dem Ukrainekonflikt nur mittelbar etwas zu tun. Ganz bewusst hat die Biden-Administration einen „regionaler Konflikt“ (Ryan McMaken ) geopolitisiert4, um Russland in die Schranken zu weisen bzw. geoökonomisch und geopolitisch zu schwächen.
Einige „American and European speakers“ wetteiferten geradezu darum – berichtet Walt -, wer „Churchills Rede“ halten könne. Sie bestanden darauf, dass es keine Alternative zum Sieg gebe, wiesen jedwedes Eskalationsrisiko von sich und forderten die ukrainischen Unterstützer auf, Kiew alles zu geben, damit es siege.
Und jetzt? Ist der Westen nicht mehr seiner Sache sicher? Rutscht er immer mehr und immer tiefer in den Morast des Ukrainekrieges, ohne einen Ausweg daraus zu sehen?
Wie auch immer, eine ganz andere Stimmung herrschte hingegen bei den Konferenzteilnehmern aus dem „Globalen Süden“. Niemand verteidigte zwar Russland oder Putin, die nichtwestlichen Länder (wie Indien, Brasilien oder Saudi-Arabien) lehnten aber gleichzeitig den westlichen Sanktionskrieg ab, was die scharfe Kritik eines Transatlantikers auslöste: „This conference is not about moral ambiguity“.
Eine solch theatrale Empörung habe die Teilnehmer aus dem „Globalen Süden“ gar nicht beeindruckt. Ganz im Gegenteil: Der westliche Verweis auf „die regelbasierte Ordnung“ (the rules-based order) und das westliche Beharren auf das Völkerrecht wiesen sie als „reine Heuchelei“ (rank hypocrisy) zurück und waren vor allem darüber verärgert, dass sich der Westen „den Globalen Süden“ moralisch zu belehren anmaßt.
Wer habe denn – entgegneten sie empört –, die meisten Regeln, welche die „Westmächte“ ja selber aufgestellt haben, am meisten gebrochen, wann immer es ihnen passte (not only do Western powers make most of the rules, but they are also perfectly willing to violate these rules whenever it suits them).
Es überrascht nicht – kommentiert Stephen Walt diesen nichtwestlichen Kontrapunkt -, dass die Vertreter des „Globalen Südens“ schnell die illegale US-Invasion im Irak 2003 zur Sprache brachten, um anschließend zu fragen: „Wo war damals die regelbasierte Ordnung“ (where was the rules-based order then)? „Solche eklatanten Doppelstandards machen das (selbstgerechte) westliche Moralgehabe schwer erträglich“ (Such blatant double standards make Western moral posturing hard to swallow), stellt Walt ernüchternd fest.
Der Bericht von Stephen Walt ist aus zweierlei Gründen aufschlussreich. Zum einen bestätigt er eine seit Langem sich abzeichnende und sich infolge des Ukrainekrieges vertiefende geopolitische Spaltung zwischen dem Westen und dem Nichtwesten bzw. dem „Globalen Süden“. Zum anderen liegt hier ein Missverständnis vor, wenn Stephen Walt mit Bezug auf den „Globalen Süden“ – auf die „regelbasierte Ordnung“ verweisend – von „Doppelstandards“ und „Doppelmoral“ spricht.
Zwar weist der „Globale Süden“ zutreffend darauf hin, dass der Westen, der die meisten Regeln selber aufstellt, diese auch am meisten bricht, wann immer es ihm passt. Von welcher Art des „Regelbruchs“ ist aber hier eigentlich die Rede? Vom Standpunkt des UN-Völkerrechts ist dem Vorwurf kaum etwas entgegenzusetzen. Aus der Perspektive der „regelbasierten Ordnung“ ist allerdings der Vorwurf des Regelbruchs an die Adresse des Westens gegenstandslos.
Was wir seit dem Ende der Bipolarität beobachten, ist das Vorhandensein von zwei parallellaufenden Ordnungssysteme, die sich zwar überlappen und aufeinander angewiesen sind, nicht desto weniger aber zwei voneinander unabhängigen Ordnungsprinzipien und Machtzentren innehaben. Die beiden verhalten sich zueinander wie ein Friedenssicherungs- zu einem Friedensschaffungssystem.
Das eine beruht auf dem höchsten Ordnungsprinzip der UN-Charta – dem Prinzip der kollektiven Friedenssicherung . Es ist ein völkerrechtlich legitimiertes und geopolitisch induziertes Machtverteilungsprinzip der kollektiven Friedenssicherung. Das andere beruht hingegen auf einem regelbasierten Ordnungsprinzip , dessen einzige „Regel“ im sich selbst legitimierenden Machtwillen des Suzeräns besteht, den Weltfrieden durch seine eigenmächtige Friedenschaffungsfunktion nach Belieben gewährleisten zu können.
So ein Friedensschaffungssystem ist seinem Selbstverständnis nach ideologisch fundiert und nicht rechtlich legitimiert, geopolitisch und nicht völkerrechtlich sanktioniert. Die ideologische Quintessenz der Friedensschaffungsfunktion der „regelbasierten Ordnung“ hat der Vorsitzende des Beratungsausschusses beim US-Verteidigungsministerium, Richard Perle , bereits 2002 mit aller kaum zu übertreffenden Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, als er seine „tiefe Besorgnis“ darüber geäußert hat, dass den Vereinten Nationen das Recht zugesprochen werde, über Krieg und Frieden zu entscheiden, wo doch diese Berechtigung mit größerer Legitimation der Nato als der Gemeinschaft demokratischer Staaten zustünde (International Harald Tribune, 28.11.2002, S. 4).
Richard Perle lieferte damit die ideologische Rechtfertigung für die Transformation des Systems der kollektiven Friedenssicherung der UN-Charta in das Friedensschaffungssystem der von den USA dominierten unipolaren Weltordnung, die auf dem Gewaltmonopol des US-Suzeräns und nicht auf dem des UN-Weltsicherheitsrates beruht.
Die Protagonisten nennen dieses von den USA favorisierte Weltordnungssystem die „regelbasierte Ordnung“. Diese sog. „regelbasierte Ordnung“ beruht auf einer Umdeutung des UN-Rechts der kollektiven Friedenssicherung in ein von den USA monopolisiertes Friedensschaffungssystem, welches das Recht in Anspruch nimmt, über Krieg und Frieden eigenmächtig zu entscheiden. Und es war der verstorbene Soziologe Karl Otto Hondrich (1937-2007), der bereits 2003 das Selbstermächtigungsrecht der noch nicht so genannten „regelbasierten Ordnung“ mit Nachdruck befürwortete. Er nannte sie „Weltgewaltordnung“.
Mit seinen zwei Artikeln „Auf dem Weg zu einer Weltgewaltordnung“ (NZZ 22.03.2003, S. 50) und „Die ordnende Gewalt“ (Der Spiegel 25/2003) löste er vor dem Hintergrund des am 20. März 2003 ausgebrochenen Irakkrieges eine heftige Debatte aus, die angesichts des Ukrainekrieges aktueller denn je ist. Indem er den Krieg als die „Hoch-Zeit der Moral“ charakterisierte und damit Moral als eine modale Form der Gewalt – sozusagen als Gewaltmoral – apostrophierte, legitimierte er gleichzeitig den von den USA eigenmächtig sanktionierten Irakkrieg und damit die parallel zu der UN-Rechtsordnung entstandene US-dominierte „Weltgewaltordnung“.
Zwar haben die USA kein „Weltgewaltmonopol“ – beteuerte Hondrich -, „wohl aber führen sie, in Gestalt der NATO, ein Weltgewaltkartell an.“ Darum befindet sich die Nachkriegsordnung seiner Prognose zufolge „auf dem Weg zu einer Weltgewaltordnung“, indem er am Ende seines Artikels in der NZZ euphorisch und zustimmend resümiert: „Die Welt ist US-hegemonial verfasst, weil es eine Ordnung ohne Gewalt nicht gibt; weil es eine Gewaltordnung ohne Hegemonie nicht gibt, und weil es keinen anderen Hegemonen gibt, der die Vielfalt, die Widersprüche und die Träume der Welt so sehr in sich vereint wie die Vereinigten Staaten. Wer von ihrer Hegemonie nichts wissen will, der kann die Hoffnung auf Weltfrieden begraben.“
In Anbetracht dieses von Hondrich formulierten transatlantischen Credos ist es allzu verständlich, wenn die Transatlantiker fassungslos und entsetzt auf den Kriegsausbruch in der Ukraine reagierten, sahen sie doch, wie „die Träume der Welt“ – ihre Träume – platzen und „die Hoffnung auf Weltfrieden“ – ihren Weltfrieden – zu Grabe getragen wurde.
Schlimmer noch: Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine hat Russland nicht so sehr die UN-Völkerrechtsordnung, als vielmehr die vom „Weltgewaltkartell“ angeführte „regelbasierte Ordnung“ in Frage gestellt, deren hervorstechendes Merkmal das freie Ermessen des Suzeräns ist. Dieses freie Ermessen bedeutet aber, dass die „regelbasierte Ordnung“ im Grunde keine Regeln kennt, sondern sich allein an der eigenen Selbstermächtigung orientiert. Der Selbstermächtigende sucht wiederum die Rechtsauslegung der UN-Ordnung derart flexibel zu handhaben, dass er nicht einmal der Selbstbindung an die eigene Rechtsauslegung unterworfen werden möchte.
Die „regelbasierte Ordnung“ erweist sich dadurch als eine sich selbst legitimierende Ordnung, die das UN-Recht nach Belieben auslegt. Die Selbstlegitimation führt wiederum dazu, dass die vom US-Hegemon vorangetriebene Entwicklung neuer Verhaltensnormen und Spielregeln in den internationalen Beziehungen eine universale Geltung zu Lasten der UN-basierten Rechtsordnung beansprucht, „ohne sich jedoch in gleicher Weise auf die Schaffung von Verfahrensregeln für die Umsetzung dieser Normen im Rahmen des UN-Systems einzulassen“5. Das ist aber nichts anderes als die typische Vorgehensweise einer Hegemonialmacht, welche die anderen Staaten und Nationen dazu verpflichtet, sich an Verträgen und Vereinbarungen genauso, wie an Verhaltensnormen und Spielregeln zu halten, ohne sich selbst daran binden zu lassen.
Die ganze Empörung und Fassungslosigkeit der Transatlantiker ist darum, wie gesagt, mehr als verständlich, fühlen sie sich doch in ihrer Selbstherrlichkeit und Machtvollkommenheit bedroht. Nicht die Welt geht zugrunde, sondern ihre unipolare Weltordnung und ihr „regelbasiertes“ Ordnungsgefüge erlebt einen selbst von ihnen nicht mehr zu leugnenden Erosionsprozess.
Russland hat sich ihrer Meinung nach angemaßt, ohne ihre Zustimmung eigenmächtig über Krieg und Frieden zu entscheiden. Das war der eigentliche „Sündenfall“ und der Verstoß gegen ihre „regelbasierte Ordnung“, die so nie passieren durfte.
Dass der „Globale Süden“ dem Westen „Doppelstandards“ und „Doppelmoral“ vorwirft, ist dem Umstand geschuldet, dass er den Doppelcharakter und die Parallelität der beiden de facto mit-, neben- und gegen einander existierenden Ordnungssysteme verkennt und die selbst- und eigenständig bestehende „regelbasierte Ordnung“ irrtümlich mit der UN-Nachkriegsordnung vermengt. Diese Verkennung führt aber gleichzeitig dazu, dass der „Globale Süden“ auch den ideologischen Hintergrund der geopolitischen Großmächterivalität ignoriert.
Deutet man nun diese geopolitische Gemengelage als eine ungleichzeitige, ungleichwertige, kurz: „ungleiche Entwicklung“, die „für internationale Machtdisparitäten“ steht, weil sie auf einer „zivilisatorischen Differenz … zwischen liberalen Gesellschaften, >ordentlichen Mitgliedern einer vernünftigen Gemeinschaft wohlgeordneter Völker< und >outlaw-Staaten<“ beruht6, dann erinnert diese auf einer „zivilisatorischen Differenz“ beruhende Entwicklung vollends an die „ehrwürdige“ Unterscheidung zwischen „Herrenrasse“ und „Untertanenrasse“, über welche Herrschaft ausgeübt werden soll und darf.
Rassenideologisch gewendet, dürfte diese „Erkenntnis“ wohl heißen: Die völkerrechtliche Deutungshoheit und die Schaffung neuer Spielregeln der internationalen Beziehungen obliegt ausschließlich der „regelbasierten Ordnung“ der >zivilisierten< „Gemeinschaft wohlgeordneter Völker“, die allein befugt ist, die „Herrschaft über Untertanenrassen“ (Lord Cromer ) auszuüben.
Es geht – anders formuliert – nicht um „Doppelstandards“ oder „Doppelmoral“, sondern um den geopolitischen Rassismus 7 als Geisteshaltung der „regelbasierten Ordnung“. Ob der „Globale Süden“ bzw. der Nichtwesten sich dessen überhaupt bewusst ist, sei dahingestellt. Die Vermutung liegt nahe, dass er womöglich unreflektiert diesen Sachverhalt vor Augen hat und sich darum nicht von Russland abwenden will und kann.
Genau in diesem Sinne diagnostizierte der Chefredakteur der renommierten russischen außenpolitischen Zeitschrift „Russland in der globalen Politik“, Fedor Lukjanov , bereits in seinem am 2. Juli 2022 veröffentlichten Artikel „Warum es dem Westen nicht gelingt, den Rest der Welt für die Konfrontation mit Russland zu gewinnen“8 u. a.: Die Reaktion der nichtwestlichen Weltmehrheit zeige, wie gereizt sie auf den Westen reagiere. Der Westen werde als Hegemon mit einer langen kolonialen Vergangenheit wahrgenommen, der immer seine Macht missbraucht habe. Und jetzt versuche er seine Sanktionspolitik allen anderen, deren Interessen tangiert werden, aufzuzwingen. Eine Schadenfreude über die Amerikaner, die mit einem heftigen Widerstand gegen ihre Russlandpolitik konfrontiert werden, überkompensiert also bei weiten die Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Vorgehensweise Moskaus. Mit anderen Worten, der Unwille des Nichtwestens, sich der westlichen Sanktionspolitik gegen Russland anzuschließen, erkläre sich nicht so sehr mit einer Sympathie für Russland als vielmehr mit einer Antipathie gegen den Westen.
Diese Entwicklung, die Lukjanov nach eigener Bekundung selbst überrascht hat, könne in der nichtwestlichen Welt tendenziell prorussisch werden. Und genau diese Tendenz mache den Westen seiner Meinung nach stutzig und besorgt. Der Ukrainekrieg hat – wie man sieht – die zentrifugalen Kräfte der Weltgemeinschaft freigesetzt und die geopolitische Spaltung zwischen dem Westen und dem Nichtwesten bzw. dem „Globalen Süden“ vertieft bzw. bloßgestellt.
Und so ermahnte George D. O’Neill Jr . neuerlich in seinem Beitrag „Death of a Myth“ für „The American Conservative“ (9. März 2023) das US-Establishment: „Die Amerikaner müssen sich der Realität der post-unipolaren Welt stellen, bevor es zu spät ist“ (Americans need to wake up to the realities of a post-unipolar world before it`s to late). Denn wir erleben den Todeskampf der unipolaren Hegemonie der Vereinigten Staaten über weite Teile der Welt (We are experiencing the death throes of the United States’ unipolar hegemony over large parts of world).
Und Stephen M. Walt stellte in seinem neuen Artikel „America Is Too Scared of the Multipolar World“ (Foreign Policy, 7. März 2023) lapidar fest: „Die Biden-Administration strebt eine unipolare Ordnung an, die es nicht mehr gibt“ (The Biden administration is striving for a unipolar order that no longer exists). Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
Anmerkungen
1. Vgl. Silnizki, M., Geoökonomie der Transformation in Russland. Gajdar und die Folgen. Berlin 2020.
2. Vgl. Silnizki, M., George Kennan und die US-Russlandpolitik der 1990er-Jahre. Stellungnahme zu Costigliolas „Kennan’s Warning on Ukraine“. 7. Februar 2023, www.ontopraxiologie.de; ders., Fluch oder Segen. Zur Diskussion über die NATO-Osterweiterung. 26. April 2022, www.ontopraxiologie.de.
3. Zitiert nach Hildebrandt, W., Kulturelles Erbe und Selbstverständnis als Klammer der Deutschen, in: ders., Versuche gegen die Kälte. Schriften zu Literatur und Zeitgeistforschung. München 1987, 249-268 (250).
4. Vgl. Silnizki, M., Das friedlose Europa. Zum Scheitern der europäischen Sicherheitsordnung. 16. März 2022, www.ontopraxiologie.de.
5. Brock, L., Universalismus, politische Heterogenität und ungleiche Entwicklung: Internationale Kontexte der Gewaltanwendung von Demokratien gegenüber Nichtdemokratien, in: Geis u. a. (Hrsg.), Schattenseiten des Demokratischen Friedens. Frankfurt/New York 2007, 45-68 (66).
6. Brock (wie Anm. 5), 66 f.
7. Silnizki, M., Russlandbild in Vergangenheit und Gegenwart. Vom biologischen zum geopolitischen Rassismus? 5. Oktober 2022, www.ontoptraxiologie.de.
8. Лукьянов, Ф., Почему Западу не удаётся вовлечь остальной мир в противостояние с Россией. Реакция большинства на планете иллюстрирует раздражение Западом в целом. In: Россия в глобальной политике. 2. Juli 2022. 3.