Verlag OntoPrax Berlin

Der Wahnsinn der Macht und die Macht des Wahnsinns

Zwischen dem „prekären Status quo“ und der entgrenzten Eskalation

Übersicht

1. Die „Wahnsinnigen in Machtpositionen“ und der „prekäre Status quo“
2. Die Macht des Wahnsinns und die „geopolitische Naivität“
3. „Der Mythos der liberalen Ordnung“

Anmerkungen

„Wenn der Verstand das logische Korsett ist, das die Realität abwehrt,
verbiegt und verstellt, das Zersprengen dieses Korsetts sie aber nicht
minder verstellt … – wie soll man dann kein toller Mensch werden?“1

1. Die „Wahnsinnigen in Machtpositionen“ und der „prekäre Status quo“

Der große britische Ökonom, John Maynard Keynes, hat einmal gesagt:

„Praktiker, die von jeglichem intellektuellen Einfluss völlig befreit zu sein glauben, sind meistens die Sklaven irgendeines verstorbenen Ökonomen. Wahnsinnige in Machtpositionen, die Stimmen in der Luft hören, destillieren ihren Wahnsinn aus dem Eifer irgendeines akademischen Schreiberlings von vor ein paar Jahren“ ( Practical men, who believe themselves to be quite exempt from any intellectual influence, are usually the slaves of some defunct economist. Madmen in authority, who hear voices in the air, are distilling their frenzy from some academic scribbler of a few years back).2

Dasselbe können wir heute paraphrasierend auch über die neue, in Amt und Würde gelangte EU-europäische Politikergeneration sagen, die losgelöst von fundierten Sachkenntnissen, außenpolitischer Kompetenz und diplomatischer Vorbildung und jedweder intellektuellen Redlichkeit nur noch Sklaven ihrer eigenen Vorurteile, Klischees und Wahnvorstellungen sind. Im Zustand einer maßlosen Selbstüberschätzung und mangelnden Bildung maßen sie sich an, ihrem mächtigen geopolitischen Rivalen Russland irgendetwas diktieren, drohen und/oder Ultimaten stellen zu können.

Sie ahnen nicht einmal, wie lächerlich und peinlich sie dabei aussehen. Das wäre aber halb so schlimm, wenn ihr Geisteszustand für den europäischen und Weltfrieden nicht so gefährlich wäre. Machtpositionen de jure bekleidet, merken sie gar nicht, dass sie de facto gar keine Macht besitzen. Diese Selbstüberschätzten sind Selbstdarsteller, die Rollenspiel mit Machtspiel verwechseln. Sie sind Rollenspieler, keine Machtspieler. Sie simulieren ein machtvolles Handeln, ohne dabei handlungsfähig zu sein, und suggerieren Verhandlungsbereitschaft, ohne verhandlungswillig zu sein.

Statt ernsthaft verhandeln zu wollen, stellen sie ultimativen Forderungen, wohl wissend, dass sie sie nie durchsetzen können. Die ständige Zurschaustellung des eigenen Egos dient allein der Eigenwerbung und ist keine Politik. Wir haben es heute mehr mit politischen Schauspielern als mit Politikern zu tun, die verantwortungsvoll handeln und sich Gefahren ihres eigenen außenpolitischen Handelns voll und ganz bewusst sind.

Solche Politiker sind Blender, keine Gestalter; Selbstdarsteller, keine Macher; Ideologen, keine Realpolitiker; außenpolitische Amateure, keine ernstzunehmenden Verhandler.

In seinen 1969 erschienenen Memoiren „Present at the Creation: My Years in the State Department“ beschrieb Dean Acheson, der Trumans wichtigster außenpolitischer Berater (1945-1947) und US-Außenminister (1949-1953) war, die Winkelzüge der US-Außenpolitik in Zeiten des ausgebrochenen „Kalten Krieges“ folgendermaßen: Die Aussicht, dass Europa „auf sowjetischen Druck“ unter sowjetische Kontrolle geraten würde, erforderte die „Schaffung von Stärke in der gesamten freien Welt“, die „den sowjetischen Führern durch erfolgreiche Eindämmung gezeigt hätte, dass sie nicht hoffen können, ihren Einfluss auf die ganze Welt auszudehnen“. Um den Kongress und die amerikanische Öffentlichkeit davon zu überzeugen, diese Vorgehensweise zu unterstützen, war es manchmal erforderlich, die US-Außenpolitik „klarer als Wahrheit“ (clearer than truth) zu vermitteln, räumte Acheson ein.3

Die „Wahrheit“ musste mit anderen Worten zurechtgestutzt werden. Die sowjetische Expansions- bzw. Welteroberungspolitik gehörte nämlich zu jenen „zentralen Mythen des Kalten Krieges, die durch die konkrete sowjetische Westeuropapolitik nicht zu belegen sind.“4

Dass Stalin von Anfang an das Ziel verfolgte, Osteuropa zu „sowjetisieren“, bestreitet auch der ehem. sowjetische Diplomat, Georgij M. Kornienko (1925-2006), entschieden in seinen 1995 erschienenen Memoiren „Der Kalte Krieg“5.

Diese zurechtgestützte „Wahrheit“ ist auch heute, wie zu Zeiten des „Kalten Krieges“, allgegenwärtig. Verglichen mit der gegenwärtigen Konfrontation, die von den „Wahnsinnigen in Machtpositionen“ (madmen in authority) geführt wird, war hingegen der „lange Friede“ (long peace) des „Kalten Krieges“ (John Lewis Gaddis) ein „Paradies“.

Die „Ordnung des Kalten Krieges“ (cold war order) beruhte auf einer „Machtbalance“ (balance of power), die es den beiden Supermächten ermöglichte, den „prekären Status quo“ (precarious status quo), wie John F. Kennedy es nach der Kubakrise von 1962 formulierte, aufrechtzuerhalten, schreibt der US-amerikanische Politikwissenschaftler, Graham T. Allison (geb. 1940) 2018 in seiner kenntnisreichen Studie6.

Der „lange Friede“ hat in dem Augenblick sein jähes Ende gefunden, als der „prekäre Status quo“ infolge des Untergangs der Sowjetunion zerstört wurde. „In den ersten 17 Jahren dieses Jahrhunderts“ sei „der selbsternannte Führer der liberalen Ordnung (the self-proclaimed leader of the liberal order) in zwei Länder einmarschiert“, habe „Luftangriffe und Razzien von Spezialeinheiten durchführt, um Hunderte von Menschen zu töten, die er einseitig für Terroristen hielt, und Dutzende andere einer >außerordentlichen Überstellung< unterwarf, die oft sowohl dem Völkerecht als auch dem nationalen Recht widersprach“, schreibt Allison 2018.

Die „drei Neins“ (three noes) haben seiner Meinung nach den „prekären Status quo“ des „Kalten Krieges“ garantiert: „kein Einsatz von Atomwaffen, keine offenkündige Tötung der Soldaten des jeweils anderen und keine militärische Intervention in die anerkannte Einflusssphäre des anderen“ (no use of nuclear weapons, no overt killing of each other’s soldiers, and no military intervention in the other’s recognized sphere of influence).

Diese drei Bedingungen des „prekären Status quo“ wurden nicht erst seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine in Frage gestellt. Schon früh wurde die Anerkennung der Einflusssphären von der Clinton-Administration mit ihrer Entscheidung für die Nato-Osterweiterungspolitik in der Mitte der 1990er-Jahre verworfen.

Und mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine wurden die zwei „Neins“ des „Kalten Krieges“ lädiert. Mit der Unterstützung der Nato-Söldner und der Nato-Militärberater wird der Grundsatz der Nichttötung der Soldaten des geopolitischen Rivalen nivelliert.

Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums vom 15. April 2025 wurden seit Beginn der Invasion der ukrainischen Streitkräfte in die Region Kursk insgesamt 4.781 ausländische Söldner eliminiert. Die meisten von ihnen, die auf der ukrainischen Seite kämpften und getötet wurden, stammen aus Nato-Ländern, darunter 1.963 Personen aus Polen, 208 aus Frankreich, 197 aus Deutschland, 156 aus Großbritannien und 89 aus den USA.

Vom 24. Februar 2022 bis zum 14. März 2024 sind insgesamt 13.387 ausländische Söldner in die Ukraine eingetroffen, von denen die Vernichtung von 5.962 ausländischen Söldnern nach dem Bericht des russischen Verteidigungsministeriums bestätigt wurde.

Mit der tonnenweisen Waffenlieferung an die Ukraine wurden vermutlich tausende und abertausende russische Militärangehörigen getötet. Kurzum: Zwei von „drei Neins“, die den „prekären Status quo“ des „Kalten Krieges“ garantierten, gelten heute nicht mehr. Sollte auch der „Einsatz von Atomwaffen“ als die letzte, noch bestehende unabdingbare Bedingung für den europäischen und Weltfrieden entfallen, dann würden all jene „Wahnsinnigen in Machtpositionen“ (madmen in authority) das erreichen, was sie zwar nie angestrebt, wohl aber provoziert haben.

2. Die Macht des Wahnsinns und die „geopolitische Naivität“

Die EU-Machteliten scheinen immer mehr von der Macht des Wahnsinns ergriffen zu sein. Dieses Phänomen zeigt sich an solchen Äußerungen wie der der ehem. litauischen Präsidentin, Dalia Grybauskaite (2009-2019), die sich am 12. Mai 2025 dazu hinreißen lassen zu behaupten: „Nukleare Abschreckung war nach dem Zweiten Weltkrieg während des Kalten Krieges wirksam, heute aber nicht mehr. Kein Schutzschirm wird helfen, denn heute gibt es völlig andere Waffen, die Art des Krieges ist völlig anders. Atomwaffen machen niemandem mehr Angst.“

Bereits am 1. April 2024 beteuerte Einars Repše (lettischer Ex-Premier (2002-2004), Verteidigungs- und Finanzminister (2004/5 u. 2009/10) in der Sendung „Offenes Gespräch“ des lettischen Radiosenders Radio 4, dass die nukleare Gefahr die Welt nicht bedrohe. „Der ängstliche Putin wird sein Leben nicht riskieren.“

Die Repräsentanten der baltischen „Supermächte“ Litauen und Lettland, deren Bevölkerungszahl gerademal jeweils 2,8 bzw. 1,8 Millionen beträgt, sind für ihre „flotten“ Sprüche und ihr forsches, in Raserei verfallendes Drauflosdenken bekannt. Hinter den breiten Schultern Amerikas versteckt, lässt sich der russische Bär unbekümmert und unbestraft kitzeln, bis die Bärenpfote sie erdrückt, ohne dass die „amerikanischen Freunde“ ihnen helfen werden.

Diese Macht des Wahnsinns macht heutzutage in ganz Europa Schule. Man erinnert sich nur an die Äußerung des Oppositionsführers, Friedrich Merz, der am 16. Oktober 2024 in einer Bundestagsdebatte theatral Putin allen Ernstes ein Ultimatum stellte und ihn aufforderte: Wenn dieser nicht innerhalb von 24 Stunden aufhöre, die Zivilbevölkerung in der Ukraine zu bombardieren, „dann müssen aus der Bundesrepublik Deutschland auch Taurus-Marschflugkörper geliefert werden“, um die Nachschubwege des „Regimes“ zu zerstören.

Ob der Bundeskanzler Merz – Kanzler eines militärisch verzwergten Deutschlands – auch heute der nuklearen Supermacht Russland solche Ultimaten stellen wird, bleibt abzuwarten.

Die EU-Machteliten verfallen derart in ihre antirussische Raserei, dass sie ihren Verstand, der, geo- und sicherheitspolitisch gesehen, schon immer eine „Mangelware“ war, endgültig zu verlieren drohen. „Wie soll man dann kein toller Mensch werden?“

Der Wahnsinn, von dem sie ergriffen sind, setzt eine verstellte Realitätswahrnehmung voraus, die ihre von Inkompetenz, Unbildung und Hochmut abgeleitete imaginäre „Realität“ mit der geo- und sicherheitspolitischen Wirklichkeit verwechselt.

Auf dem harten Boden der Geo- und Sicherheitspolitik gelandet, bestehen sie unerbittlich auf die Realisierbarkeit ihrer realitätsfernen Forderungen und kommen nicht umhin, zwischen der ihnen entglittenen und darum unverfügbaren Macht des Faktischen und ihren unerfüllbaren Wunschvorstellungen zu wählen, um halbwegs handlungsfähig zu bleiben.

Der versteinerte Glaube an die Machtbarkeit des Unerfüllbaren verunmöglicht aber eine derartige Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit und zieht sie derart in seinen Bann, dass sie stattdessen folgenlos verbal provozieren und in blindwütiger Raserei um sich schlagen. Was bleibt, ist eine rhetorische Eskalation, die Entscheidungs- und Handlungsbereitschaft simuliert, um die eigene geo- und sicherheitspolitische Ohnmacht zu verschleiern.

„Wie soll man dann kein toller Mensch werden?“ Denn dieser Geisteszustand macht die Macht rasend und aggressiv und jede konstruktive Problemlösung infolge der Ignoranz der Unerfüllbarkeit der selbstgesteckten Ziele unmöglich, wodurch die Macht sich selbst demontiert, demoralisiert, desavouiert und letztendlich machtlos bzw. handlungsunfähig wird.

Die Eurokraten haben sich schon längst in ihrem Russenhass verrannt, befinden sich in einer geo- und sicherheitspolitischen Sackgasse und wissen nicht, wie sie ohne Gesichtsverlust daraus herauskommen.

Was die EU-Machteliten eigentlich tun sollten, hat freilich einer der erfahrensten singapurischen Diplomaten, Kishore Mahbubani (geb. 1948), zuletzt in seinem am 26. März 2025 veröffentlichten Beitrag „Europe Needs a Complete Strategic Reboot“ (Europa braucht einen kompletten strategischen Neustart) in Foreign Policy deutlich gemacht.

In seiner neuen Veröffentlichung hat er freilich dem widersprochen, was er in einem anderen, ein Monat zuvor am 18. Februar 2025 erschienenen Artikel „It’s Time for Europe to Do the Unthinkable“ (Es ist Zeit für Europa, das Undenkbare zu tun) in Foreign Policy empfohlen hat: „Brussels has slavishly followed Washington for too long—and forgotten how to advance its own geopolitical interests“ (Brüssel ist Washington zu lange sklavisch gefolgt und hat vergessen, wie es seine eigenen geopolitischen Interessen vorantreiben kann).

Jetzt empfiehlt er nun genau das Gegenteil: Die EU-Europäer wären geopolitisch gut beraten, schreibt Mahbubani am 26. März, hätten sie Trumps Entscheidung, mit Putin zu verhandeln, sich zu eigen gemacht und mit Putin sofort die eigenen Gespräche geführt. „In der Geopolitik ist es immer klug, seine Optionen zu erweitern“ (In geopolitics, it’s always wise to increase your options), belehrt er die Europäer und schreibt anschließend:

„Der doktrinäre Ansatz spiegelt den wichtigsten geopolitischen Fehler wider, den Europa … begeht: Es weigert sich, die harte Realität zu akzeptieren, dass für Europa die Zeit gekommen ist, einige schmerzhafte Kehrtwenden gegenüber früheren Annahmen und Realitäten zu machen und >undenkbare< Optionen in Betracht zu ziehen“ (This doctrinaire approach reflects the most important geopolitical mistake that Europe is making …: It refuses to accept the hard reality that the time has come for Europe to make some painful U-turns from past assumptions and realities and consider “unthinkable” options).

Des Weiteren wirft Mahbubani den EU-Europäern die „geopolitische Naivität“ (geopolitical naivete) mit Verweis auf „eine Kardinalregel der Geopolitik“ (a cardinal rule of geopolitics) vor: „Plant nie gegen die Best-Case-Szenarien, sondern immer gegen die Worst-Case-Szenarien“ (Never plan against best-case scenarios; always plan against worst-case scenarios).

Genau das ist aber eingetreten, was Europa nicht auf seiner Rechnung hatte – das Worst-Case-Szenario: Die EU-Machteliten haben sich verkalkuliert, indem sie den Eindruck erweckt haben, dass die EU-Völker sich trotz Europas Involvierung im Ukrainekonflikt und den EU-Sanktionen gegen Russland, die die EU-Volkswirtschaften hunderte Milliarden Euro gekostet haben, weder um ihren Wohlstand noch um ihren Sozialstaat besorgt sein müssten.

Jetzt stecken die EU-Staats- und Regierungschefs fest „in einem geopolitischen Schlamassel“ (in a geopolitical mess), weil sie sich einreden, dass Trump ihnen in den Rücken gefallen ist. Sie verwechseln Biden mit Trump und hören offenbar nicht zu, was Trump stets behauptet, dass der Ukrainekrieg „Bidens Krieg“ sei, und fragt: Warum sollten wir Amerikaner für die reichen EU-Europäer Opfer bringen? Im Gegensatz dazu waren die Eurokraten der EU-Bevölkerung gegenüber sich nie ehrlich.

Zur Bestätigung seiner These ruft Mahbubani einen vom Ex-Präsidenten der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker (2014-2019), stammenden Spruch in Erinnerung: „Wir alle wissen, was zu tun ist. Wir wissen nur nicht, wie wir danach wiedergewählt werden.“

Den Spruch kommentiert er mit den Worten: Die europäischen Staats- und Regierungschefs schmunzeln, wenn sie ihn erwähnen. Denn er bestärkt sie in ihrer Überzeugung, klüger zu sein als ihr eigenes Volk. In Wirklichkeit entlarvt diese Aussage ihre Feigheit.

Der Vorwurf der Feigheit ist allerdings nur zum Teil berechtigt und trifft bestenfalls allein die EU-Innenpolitik. Nur in diesem Kontext ist die Feststellung richtig, dass die EU-Machteliten ihre Bevölkerung vor schwierigen Entscheidungen stellen müssen: Entweder wollen sie die Ukraine in ihrem Kampf gegen die russischen Invasoren weiter unterstützen, was Kürzungen von Sozialleistungen, Steuererhöhungen und die Einführung der Wehrpflicht einschließen könnte, oder sie schließen Kompromisse mit Russland und behalten ihren Lebensstil bei.

Das Letztere kommt freilich für die EU-Kriegsfalken nicht in Frage. Zu sehr sind sie in ihrem Russenhass verrannt und zu wenig sind sie bereit, von ihrer unerfüllten Forderung, Russland eine „strategische Niederlage“ zuzufügen, Abstand zu nehmen.

3. „Der Mythos der liberalen Ordnung“

Mahbubani verkennt allerdings die ideologische Dimension des Ukrainekonflikts, die die EU-Machteliten in Rage bringt und wahnsinnig macht. Graham Allison hat diese Dimension bereits 2018 in seiner oben zitierten Studie vortrefflich analysiert und vom „Mythos der liberalen Ordnung“ (The Myth of the Liberal Order) gesprochen.

Nach dem Untergang des Sowjetkommunismus rief der US-Präsident George H. W. Bush 1990 eine „neue Weltordnung“ aus und der US-Politologe Francis Fukuyama 1992 in seinem Bestseller „The End of History and the Last Man“ „das Ende der Geschichte“.

Das war die Geburtsstunde der sog. „unipolaren Weltordnung“ und der sie legitimierenden Universalideologie der „liberalen Demokratie“. Euphorisch und triumphal verkündete Fukuyama: „Was wir möglicherweise erleben, ist nicht nur das Ende des Kalten Krieges oder das Vergehen einer bestimmten Periode der Nachkriegsgeschichte, sondern das Ende der Geschichte als solche und das heißt: der Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit und die Universalisierung der westlichen liberalen Demokratie als die finale Form menschlicher Regierbarkeit (the end point of mankind’s ideological evolution and the universalization of Western liberal democracy as the final form of human government).“

Durchaus im Geiste von Fukuyamas „Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit“ proklamierte der bekannte Kolumnist der New York Times, Thomas Friedman, 1996 die sog. „Golden Arches Theory of Conflict Prevention“, die besagt, dass ein Land, wenn es wirtschaftlich soweit fortgeschritten sei, dass es eine ausreichend starke Mittelschicht habe, um eine McDonald’s-Kette zu unterhalten, zu einem „McDonald’s-Land“ werde und kein Interesse mehr daran habe, Kriege zu führen.

Die Geschichte der vergangenen dreißig Jahre hat uns allerdings vor Augen geführt, dass „das Ende der Geschichte“ nicht weniger, sondern mehr Kriege mit sich brachte.

Die universalideologische Vision von dem Ende „der ideologischen Evolution der Menschheit“ (mankind’s ideological evolution) und dem unumkehrbaren Vormarsch und der Ausbreitung der „westlichen liberalen Demokratie“ über die ganze Welt haben nach Allisons Meinung die „neokonservativen Kreuzritter“ (neoconservative crusaders) und die „liberalen Interventionisten“ (liberal interventionists) zusammengeführt.

Diese hegemoniale, als „liberal-demokratisch“ verklärte Universalideologie der Neocons und der „liberalen Interventionisten“ haben die USA in die ein Vierteljahrhundert andauernden Interventions- und Expansionskriege gestürzt, die mit dem Ausbruch des Ukrainekrieges abrupt beendet wurden und zum Absturz der Unipolarität geführt haben.

1999 bombardierte Bill Clinton Belgrad, um das Land zur „Befreiung“ des Kosovos zu zwingen. 2003 marschierte George W. Bush in den Irak ein, um Saddam Hussein zu stürzen. Als sich sein erklärter Invasionsgrund als Täuschung erwies, nachdem die US-Streitkräfte keine Massenvernichtungswaffen finden konnten, rief Bush die neue Mission aus: „eine dauerhafte Demokratie aufzubauen, die friedlich und wohlhabend ist“ (to build a lasting democracy that is peaceful and prosperous).

Und seine Nationale Sicherheitsberaterin, Condoleezza Rice, pflichtete ihm bei, als sie unumwunden verkündete: „Der Irak und Afghanistan sind Vorreiter der Bemühungen, Demokratie, Toleranz und Freiheit im gesamten Nahen Osten zu verbreiten“ (Iraq and Afghanistan are vanguards of this effort to spread democracy and tolerance and freedom throughout the Greater Middle East).

2011 machte sich Barack Obama schließlich das Versprechen des Arabischen Frühlings zu eigen, den Ländern des Nahen Ostens Demokratie zu bringen, und versuchte, zusammen mit Frankreich und England sie voranzutreiben, indem er Libyen bombardierte und Muammar al-Gaddafi brutal ermorden ließ.

„Nur wenige in Washington hielten inne und stellten fest“, entrüstete sich Allison, „dass die unipolare Macht (the unipolar power) in jedem Fall militärische Gewalt erfordere, um Ländern, deren Regierungen sich nicht wehren konnten, den Liberalismus zu oktroyieren. … Die Lehren aus der Vergangenheit über die Folgen eines solchen Verhaltens wurden dabei komplett ignoriert.“

Und diese Ignoranz rächt sich heute mit Chinas geoökonomischem Aufstieg, einer militärischen Wiedererstarkung Russlands und einer nicht zu übersehenden Depravierung der US-Weltmachtstellung. Die universalideologisch legitimierten endlosen wie erfolglosen Kriege in Afghanistan, im Irak und in Libyen haben die US-Hegemonie diskreditiert und das „unipolare Momentum“ scheitern lassen.

Heute kann man mit Gewissheit behaupten, dass „das Ende der Geschichte“ auf sein Ende zusteuert. Graham Allison hat darum bereits 2018 zutreffend erkannt, dass „das Ende des Kalten Krieges ein unipolares Momentum und kein unipolares Zeitalter hervorbrachte“ (the end of the Cold War produced a unipolar moment, not a unipolar era).

Das vom US-amerikanischen Verleger, Henry Luce (1898-1967), 1941 ausgerufene „amerikanische Jahrhundert“ findet heute sein jähes Ende, ohne einen hundertjährigen Geburtstag erlebt zu haben. Das „unipolare Momentum“ und die es legitimierende Universalideologie der „westlichen liberalen Demokratie“ hat keine Zukunft mehr.

Der absehbare, mit dem Ausbruch des Ukrainekriegs sich beschleunigte geopolitische und ideologische Niedergang des „Westens“ beunruhigt die EU-Europäer so sehr, dass sie mittlerweile toll werden. Insbesondere die Repräsentanten der ehem. Ostblockstaaten wie die baltischen Republiken, die ihre kommunistische Ideologie durch die westliche Universalideologie im Glauben substituiert haben, dass sie sich endlich auf der richtigen Seite der Geschichte befinden, stehen dieser Entwicklung ohnmächtig und fassungslos gegenüber und müssen zusehen, wie sich die Welt anders entwickelt, als sie sich erhofft und erträumt haben.

Sie möchten nicht wahrhaben, dass auch „das Ende der Geschichte“ irgendwann zu Ende geht. Desillusioniert machen sie in ihrem Russenhass und Wutausbruch allein Russland und „seinen“ Krieg in der Ukraine dafür verantwortlich. Sie haben immer noch nicht verstanden, dass „die Wege des Herrn unergründlich sind“ und dass sie nirgendwo einen sicheren Hafen finden, solange sie und das mit ihnen in Raserei geratene Europa gemeinsam mit Russland keinen Modus Vivendi finden. Und keine Macht der Welt, in welchem tollen Zustand auch immer, wird ihnen dabei helfen.

Anmerkungen

1. Türcke, C., Der tolle Mensch. Nietzsche und der Wahnsinn der Vernunft. Frankfurt 1989, 58.
2. Keynes, J. M., The General Theory of Employment, Interest and Money, London: Macmillan, 1936, Ch. 24.
3. Vgl. Graham Allison, The Myth oft he Liberal Order. From Historical Accident to Conventional Wisdom.
Foreign Affairs, 14. Juni 2018.
4. Loth, W., Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941-1955. München 1980, 63 FN 16.
5. Корниенко, Г. М., Холодная Война. Москва 1995, 9 ff.
6. Allison, G., The Myth of the Liberal Order. From Historical Accident to Conventional Wisdom. Foreign
Affairs, 14. Juni 2018.

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