Verlag OntoPrax Berlin

Der Ukrainekrieg als Präventivkrieg?

Zwischen Existenzbedrohung und Nichteinmischung

Übersicht

1. Schroeders These vom Ukrainekrieg als einem „ungerechten Präventivkrieg“
2. Aggression oder Prävention?
3. Zwei sich selbst ausschließende Sicherheitsdoktrinen

Anmerkungen

„Запад нас ненавидет, а мы испытываем к нему презрение.“
(Der Westen hasst uns, wir empfinden aber zu ihm (nur)
Verachtung)
(Sergej Karaganov)1

1. Schroeders These vom Ukrainekrieg als einem „ungerechten Präventivkrieg“

Eine bemerkenswerte Studie ist in Foreign Affairs am 3. September 2024 erschienen. Der Verfasser Peter Schroeder gilt als Experte für die russische Außen- und Sicherheitspolitik und war Analyst und Mitglied des Senior Analytic Service bei der CIA. Die Studie wurde unter einem vielsagenden Titel „Putin Will Never Give Up in Ukraine“ (Putin wird in der Ukraine niemals aufgeben) veröffentlicht und die Veröffentlichung hat es in sich.

Schroeder geht von einer durchaus zutreffenden Annahme aus, dass es für Putin „eine strategische Notwendigkeit“ (a strategic necessity) sei, zu verhindern, dass die Ukraine zu einer Bastion des Westens werde, um Russland zu bedrohen. Jeder Versuch, Putin aus der Ukraine zu vertreiben, sei darum „eine fruchtlose Übung, die nur Leben und Ressourcen verschwendet“ (a fruitless exercise that just wastes lives and resources).

Putins Einmarsch in die Ukraine sei eine Herzensangelegenheit. Wörtlich spricht Schroeder von Putinswar of choice“ im Gegensatz zu „war of necessity“.

„Weil es sich um war of choice handelt, hat Putin die Macht, ihn zu stoppen“, glaubt er zu wissen und fügt gleich hinzu: Der Krieg sei für Russland nicht existenziell (The war is not existential for Russia). Ein Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine würde weder „die Existenz des russischen Staates“ (the existence of the Russian state) noch Putins eigene Herrschaft bedrohen.

Dies vorausgeschickt, stellt Schroeder die Hauptthese seiner Studie auf: Der Ukrainekrieg sei „ein ungerechter Präventivkrieg“ (an unjust preventive war), der dazu dienen sollte, „einer künftigen Sicherheitsbedrohung Russlands“ (a future security threat to Russia) zuvorzukommen.

„Die Ukraine verwandelte sich Putins Meinung nach in einen antirussischen Staat, der, wenn dieser nicht gestoppt wird, vom Westen benutzt werden könnte, um den inneren Zusammenhalt Russlands zu untergraben und die Nato-Truppen zu beherbergen, die Russland selbst bedrohen würden“ (In Putin’s view, Ukraine was turning into an anti-Russian state that, if not stopped, could be used by the West to undermine Russia’s domestic cohesion and host NATO forces that would threaten Russia itself).

Schroeders These vom Ukrainekrieg als „Präventivkrieg“ (preventive war) ist – auch wenn er ihn als „ungerecht“ brandmarkt – umso bemerkenswerter, als er sich im Gegensatz zu zahlreichen US-Analysten und US-Russlandexperten bemüht, sich sachlich mit der russischen Invasion in der Ukraine auseinanderzusetzen.

Freilich klammert auch er wie viele anderen vor ihm die Vorgeschichte und die Ursachen des Ukrainekonflikts komplett aus und entwertet dadurch den Erkenntniswert seiner These. Indem er behauptet, dass Russlands Abzug aus der Ukraine „die Existenz des russischen Staates“ nicht bedrohen würde, ignoriert er zudem die US-Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik und verkennt zugleich die russische Geo- und Sicherheitspolitik.

Die nachfolgenden Ausführungen sollen Schroeders These überprüfen, inwiefern der Ukrainekrieg „ein ungerechter Präventivkrieg“ (an unjust preventive war) ist, sowie die Frage klären, ob „ein Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine“ für Russland tatsächlich nicht existenzbedrohend ist.

2. Aggression oder Prävention

2014 markiert die Zäsur in den russisch-ukrainischen wie auch den russisch-transatlantischen Beziehungen. Die Eingliederung der Krim in die Russländische Föderation nach dem als „Maidan-Revolution“ verklärten Staatsstreich und der daraufhin erfolgte innerukrainische Konflikt zwischen der durch den Verfassungsbruch an die Macht gelangte Kiewer Zentralregierung und den Ostprovinzen Donezk und Luhansk haben die Beziehungen zwischen Russland, der Ukraine und der transatlantischen Gemeinschaft drastisch verschlimmbessert.

Das am 12. Februar 2015 unterzeichnete Minsker Friedensabkommen hat die verschlechterte Dreierbeziehung weder verbessert noch den innerukrainischen Konflikt befriedet. Ganz im Gegenteil: Der innerukrainische Konflikt wurde eingefroren und zwischen den verfeindeten Parteien flammten immer wieder Kämpfe an der Demarkationslinie auf. Die Minsker Vereinbarungen erwiesen sich letztendlich als undurchführbar.

Wer war daran schuld? Die Kiewer Zentralregierung spielte auf Zeit und war zur Erfüllung des politischen Teils des Minsker Abkommens zu keiner Zeit bereit. Dass die Kiewer Zentralregierung auf Zeit spielte, bestätigte keine geringere als Altbundeskanzlerin Angela Merkel, als sie in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit vom 7. Dezember 2022 das Minsker Friedensabkommen von 2014 als einen „Versuch“ bezeichnete, „der Ukraine Zeit zu geben“.2

Was Merkel darunter verstand, hat der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg präzisiert, als er bereits am 15. Oktober 2022 der ARD-Tagesschau ein Interview gab. Auf die ARD-Frage: „Wie würden Sie das Gleichgewicht zwischen der russischen und der ukrainischen Armee auf dem Schlachtfeld einschätzen?“ antwortete Stoltenberg u. a.: „Seit 2014 haben die Nato-Verbündeten die ukrainischen Streitkräfte ausgebildet und ausgerüstet. Die ukrainischen Streitkräfte sind also viel besser ausgebildet, viel besser geführt, viel besser ausgerüstet und viel größer als im Jahr 2014. Und das ist der Grund, warum die Ukraine jetzt in der Lage ist, sich auf ganz andere Weise zu wehren als 2014.“

Vor diesem Hintergrund war es nur konsequent, dass die Kiewer Zentralregierung gar nicht daran dachte, die Minsker Vereinbarungen erfüllen zu wollen. Und so ist es gekommen, wie es kommen sollte. Nach der sieben Jahren andauernden Hinhaltetaktik und zahllosen, aber ergebnislosen Verhandlungen kam es zu Russlands Präventivkrieg, den die Anti-Russland-Koalition stets antifaktisch als einen „Angriffskrieg“ brandmarkt.

Die Fakten sprechen nämlich für sich. Im Frühjahr 2021 fanden Manöver an 520 Orten in Russland etwa 150 km entfernt von der ukrainischen Grenze statt, bei denen unter anderem die rasche Verlegung von Truppen aus den östlichen Militärbezirken nach Westen geübt wurde. Diese Manöver lösten im Westen Empörung aus. Bei einem Treffen der OSZE im April 2021 erhoben Deutschland und Frankreich Einspruch gegen diese großangelegte Truppenbewegung an der ukrainischen Grenze und riefen Russland dazu auf, den Verpflichtungen des Wiener Dokuments nachzukommen, berichteten die Medien.3

Der wahre Grund für die Konzentration der russischen Streitkräfte nahe der ukrainischen Grenze im Frühjahr 2021 wurde aber in den westlichen Massenmedien totgeschwiegen. Sie fand offenbar in Reaktion auf den Aufmarsch des ukrainischen Militärs entlang der Demarkationslinie möglicherweise in der Absicht die Regionen Donbas und Luhansk gewaltsam zu überrennen.

Dafür stand der langwierige Konflikt um Bergkarabach Pate, der von der aserbaidschanischen Seite in einem Blitzkrieg im September 2020 erfolgreich beendet wurde. Die Konzentration der russischen Streitkräfte im Frühjahr 2021 hat jedenfalls abschreckend gewirkt und die Pläne der Kiewer Zentralregierung zur gewaltsamen Eroberung der Provinzen Donbas und Luhansk zwar vereitelt, aber nicht aufgehoben, sondern lediglich aufgeschoben.

Fest entschlossen, die Gebiete gewaltsam zu „befreien“, begann die Kiewer Zentralregierung im Herbst 2021 erneut einen massiven Truppenaufmarsch der ukrainischen Streitkräfte von schätzungsweise 120.000/140.000 entlang der Demarkationslinie zu konzentrieren. Am 17. Februar 2022 – genau eine Woche vor dem Kriegsausbruch – setzte das ukrainische Militär die Provinzen Donbas und Luhansk unter massivem Artilleriefeuer offenbar als Vorbereitung zum Bodenangriff, dem Russland mit Präventivschlag am 24. Februar 2022 zuvorgekommen ist.

Seitdem ist Russland dem Vorwurf einer Aggression gegen einen souveränen Staat ausgesetzt. Die russische Führung sieht das ganz anders. Sie kam ihrer Meinung nach lediglich einem eklatanten Bruch des Minsker Abkommens durch einen Versuch der Kiewer Zentralregierung, die Gebiete gewaltsam zurückzuerobern, zuvor.

Deswegen betrachtet die russische Führung ihre Vorgehensweise bis heute als einen Präventivschlag, dessen Ausweitung zu einem regelrechten Krieg sie allein die Angelsachsen verantwortlich macht.4

Ein Präventivschlag ist legitim, wenn es um eine „präventive Selbstverteidigung“ gemäß der Caroline-Klausel geht, vorausgesetzt, dass keine andere Wahl der Mittel bleibt bzw. die Möglichkeit von Verhandlungen ausgeschöpft ist.

Drei Grundbedingungen müssen vorhanden sein, „um von einer unmittelbaren Bedrohung zu sprechen: eine erkennbar aktive Kriegsvorbereitung; eine sich manifestierende Absicht, einem anderen Staat Schaden zufügen zu wollen.“ Und „es muss schließlich eine Situation existieren, in der Abwarten statt Kämpfen das Risiko erhöht, Opfer einer Aggression zu werden. Nur wenn diese drei Kriterien erfüllt sind, kann ein Präventivkrieg oder Präventivschlag als legitimiert gelten.“5

Diese Kriterien wurden aus russischer Sicht am Tag des Kriegsausbruchs in der Ukraine formalrechtlich erfüllt. Zwei Tage vor dem Kriegsausbruch, am 21. Februar 2022, wurde der Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand zwischen Russland und DNR und LNR (Договоры о дружбе, сотрудничестве и взаимной помощи России с ДНР и ЛНР) unterzeichnet und am 25. Februar 2022 in Kraft getreten.

Dieser Beistandsvertrag hat Russland aus seiner Sicht erlaubt, in die Ukraine einzumarschieren und in Anbetracht der akuten Bedrohung seitens der zusammengezogenen Invasionstruppen der Kiewer Zentralregierung den Beistandsverpflichtungen nachzukommen. Folgt man dieser russischen Sicht, so lag hier ein Präventivschlag zwecks Abwendung der Invasion seitens der Kiewer Zentralregierung vor.

Deswegen nannte die russische Führung diesen Präventivschlag nicht Krieg, sondern eine „Spezielle Militärische Operation“ (SVO). Im Glauben, die SVO schnellstmöglich beenden zu können, wofür die bald nach dem Kriegsausbruch angesetzten Friedensverhandlungen sprechen6, hat sie sich militärpolitisch verkalkuliert und dadurch geopolitisch eine Bauchlandung erlitten.

Denn auf einen solchen großflächigen und langwierigen Krieg war sie ökonomisch, militärisch und industriepolitisch nicht vorbereitet und hat offenbar nicht mit einer derart massiven Unterstützung der Ukraine seitens der Nato-Allianz gerechnet. Deswegen dauert der Krieg immer noch an.

3. Zwei sich selbst ausschließende Sicherheitsdoktrinen

Schroeders These, dass der Krieg für Russland „nicht existenziell“ sei, zeigt, wie sehr das außenpolitische US-Establishment daran gewohnt ist, an die eigenen selbstentworfenen Russlandbilder zu glauben und diese Imagination in die geopolitischen Vorstellungen, Absichten und Ziele des Rivalen hineinzuprojizieren. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist aber die typische US-amerikanische Ignoranz, die das eigene außenpolitische Handeln und dessen Auswirkungen auf die Außenwelt ausblendet und sich beharrlich weigert, die eigene Außenpolitik als den eigentlichen Grund für eine harsche Gegenreaktion wahrzunehmen.

Das war nicht immer so. Es ist noch nicht lange her, dass die US-Russlandexperten durchaus in der Lage waren, die russische Geo- und Sicherheitspolitik adäquat und realitätsnah zu analysieren.

Bereits vor fünf Jahren haben Eugene Rumer und Richard Sokolsky (senior fellows des Carnegie Endowment for International Peace) eine umfangreiche Studie „Thirty Years of U. S. Policy Toward Russia: Can The Vicious Circle Be Broken?“7 vorgelegt, in der sie auf die für Russland existenzbedrohende US-Geostrategie hingewiesen haben.

Der Zerfall des Sowjetimperiums bedeutet nach Rumers/Sokolskys Überzeugung nicht nur ein Verlust an Status und Prestige, sondern auch und vor allem „der Verlust der strategischen Tiefe und Sicherheit“ (the loss of strategic depth and security). Nach dem Untergang der UdSSR verlaufe die westliche Grenze weniger als 500 km von Moskau. Russlands Bestreben – fügen Rumer/Sokolsky zutreffend hinzu -, „diese empfundene Verwundbarkeit“ (perceived vulnerability) zu kompensieren und zumindest teilweise „die strategische Tiefe“ (strategic depth) zurückzugewinnen, bestimmen im Wesentlichen die russische Außenpolitik (a major driver of Russian foreign policy).

Schlimmer noch: Die Nato-Expansion in der Ukraine war jene „rote Linie“, die die USA und ihre Nato-Bündnisgenossen nicht überschreiten dürften. Dass diese „rote Linie“ überschritten wurde, darüber war sich die russische Führung vollkommen im Klaren, da die USA bereits seit 2014 allmählich und unaufhaltsam begonnen haben, die Nato-Infrastruktur in der Ukraine de facto und klammheimlich aufzubauen. Darauf deuten Artikel 3 und 4 des von Russland am 15. Dezember 2021 den USA übergebenen Vertragsentwurfs über die Sicherheitsgarantien und die Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit Russlands und der Nato-Staaten:

Artikel 3

„Die Vertragsparteien nutzen das Hoheitsgebiet anderer Staaten nicht zur Vorbereitung oder Durchführung eines bewaffneten Angriffs gegen die andere Vertragspartei oder für andere Handlungen, die die grundlegenden Sicherheitsinteressen der anderen Vertragspartei beeinträchtigen.“

Artikel 4

„Die USA verpflichten sich, eine weitere Ausdehnung der Nato-Allianz nach Osten auszuschließen und die Aufnahme von Staaten in das Bündnis zu verweigern, die zuvor Mitglieder der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken waren.

Die Vereinigten Staaten von Amerika werden weder Militärstützpunkte auf dem Territorium von Staaten errichten, die früher Mitglieder der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und nicht Mitglieder der Nato-Allianz waren, noch deren Infrastruktur für die Durchführung militärischer Aktivitäten nutzen oder die bilateralen Streitkräfte in Zusammenarbeit mit ihnen entwickeln.“

Die de facto stattgefundene klammheimliche Expansion der Nato-Infrastruktur in der Ukraine hat die russische Führung am meisten beunruhigt und seit Jahren Sorge bereitet. Nicht von ungefähr beteuert einer der prominentesten russischen außenpolitischen Experten, Sergej Karaganov, immer und immer wieder, dass Russland bereits 2018 und nicht erst 2022 in die Ukraine einmarschieren sollte. Die Ignoranz der vitalen russischen Sicherheitsinteressen hat schlussendlich zum Kriegsausbruch in der Ukraine geführt.

Die US-Sicherheitsdoktrin der „Open Door-Politik“ steht im schroffen Gegensatz zu den vitalen Sicherheitsinteressen Russlands. Hier prallen zwei sich selbst aufhebende geopolitische Doktrinen auf- und gegeneinander. Der US-Sicherheitspolitik in Europa nach dem Ende des Ost-West-Konflikts lag dasjenige zugrunde, was Doug Bandow (Senior Fellow der Denkfabrik Cato Institute) „eine umgekehrte Monroe-Doktrin“ (a reverse Monroe Doctrine) nannte.

Diese „umgekehrte Monroe-Doktrin“ zielt darauf, die Nato-Sicherheitsinfrastruktur bis an die russische Grenze (vgl. „domination, the desire to impose a reverse Monroe Doctrine up to Russia’s border“) auszudehnen.8

Postulierte die vom US-Präsident James Monroe (1817-1825) 1823 verkündete Doktrin drei unverrückbaren Prinzipien der US-Außenpolitik: „Unabhängigkeit aller amerikanischen Staaten; Nichtkolonisation in diesem Raum; Nichtintervention außeramerikanischer Mächte in diesem Raum,“9

so verfolgt die Nato mit ihrer „Open Door-Politik“ in der Tat „eine umgekehrte Monroe-Doktrin“.

Russland beharrt hingegen auf eine eigene russische „Monroe-Doktrin“, indem es sich vehement gegen die Kolonisation des ostslawischen Raumes wehrt und für das „Interventionsverbot raumfremder Mächte“ (Carl Schmitt) in diesem Raum ausspricht.

Als Teil des ostslawischen Raumes ist die Ukraine traditionell ein integraler Bestandteil der russischen Geo- und Sicherheitspolitik seit Jahrhunderten und Russland verbietet sich von selbst jede Einmischung der raumfremden Mächte in die innerslawischen Angelegenheiten.

Putins Außenpolitik folgt der Tradition der russischen Geo- und Sicherheitspolitik, die bis auf Stalin mitgetragene Kontinentalmachtstrategie zurückgeht.10 Russland hat auch und gerade unter Putin der sowjetischen, seit Chruščov eingeleiteten Weltmachtstrategie abgeschworen und sie endgültig aufgegeben.

Der Ukrainekonflikt hat seine Ursachen eben nicht in der Putin unterstellten Expansionspolitik und/oder seinem sog. „Neoimperialismus“, sondern vielmehr in der Nato-Expansionspolitik, die die Ganzheit und Unteilbarkeit des ostslawischen bzw. russischen Machtraumes in Frage stellt und bedroht.

Der russische Machtraum ist Raum einer alles dominierenden, zentralgesteuerten Ordnungsmacht, deren Innenraum von der schieren Grenzenlosigkeit des Raumes bedingt und von dessen Größe determiniert wird. Die Dominanz des Raumes im russischen politischen Denken äußert sich darin, dass die Einheit (jedinstvo) und Ganzheit (celostnost‘) des Raumes zum nicht hinterfragbaren Postulat faktisch jedes innen- und außenpolitischen Credos wird, ja die Staatsräson schlechthin verkörpert.

Diese raumbezogene Identität des russischen politischen Denkens ist auch und insbesondere der russischen Außen- und Geopolitik inhärent. Orientiert sich die zentralgesteuerte Ordnungsmacht primär an der Sicherung und Kontrolle des eigenen Machtraumes, so ist das völkerrechtliche Postulat der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten von überragender Bedeutung für die russische Außenpolitik.

Darum lehnt Russland kategorisch jede Einmischung der raumfremden Mächte in die inneren Angelegenheiten des eigenen Machtraumes ab und reagiert allergisch auf westliche Belehrungen aller Art.

Raumbezogene Identität und zentralgesteuerte Ordnungsvorstellung des russischen politischen Denkens erschweren eine dezentrale Raumsteuerung, da eine Dezentralisierung der Raumbeherrschung machtpolitisch einer Implosion bzw. einem Zerfall des russischen Machtraumes gleichkäme.

Als Nato-Mitglied wäre die Ukraine zudem sicherheitspolitisch, wie gesehen, für Russland eine existenziale Bedrohung, da es eine „strategische Tiefe“ – „den Puffer zwischen dem russischen Kernland und mächtigen europäischen Gegnern“ – verloren hätte.11 Das Russland von heute zieht sich in seine Großmachtfestung zurück, ohne sich dabei isolieren zu lassen oder sich selbst isolieren zu wollen.

Es versucht gleichzeitig die immer enger werdenden ökonomischen Beziehungen zu China, Indien und dem sog. „Globalen Süden“ zu vertiefen und sucht sich als eurasische Großmacht zu positionieren und durch die militärische Kooperation und Zusammenarbeit insbesondere mit China, Nordkorea und Iran abzusichern.

Dass die Nato-Expansion in der Ukraine und deren Aufbau als russisches Feindesland zum Ziel haben, Russlands geostrategische Stellung in Eurasien zu schwächen und von Europa zu isolieren, versteht sich von selbst. Und sollten die USA und die transatlantische Gemeinschaft insgesamt diese Anti-Russlandpolitik weiterhin ohne Rücksicht auf Verluste – sei es aus Selbstüberschätzung, Inkompetenz oder Machtarroganz – verfolgen, dann, ja dann wird zu einem großen europäischen Krieg kommen – mit einem absehbaren Ausgang, den keiner erleben will.

Anmerkungen

1. Караганов, С., „Запад нас ненавидет, а мы испытываем к нему презрение“, Россия в глобальной
политике, 23.04.2018.
2. Näheres dazu Silnizki, M., Zur Frage der europäischen Glaubwürdigkeit. Von der Umarmung der US-
Geopolitik erdrückt. 28. Dezember 2022, www.ontopraxiologie.de.
3. Näheres dazu Jon-Wyatt Matlack, Militärmanöver: Scheinschlachten oder Vorboten des Krieges? Russland-
Analysen Nr. 417, 21.03.2022.
4. Vgl. Silnizki (wie Anm. 2).
5. Arnswald, U., Präventiv-Krieg oder Präemptiv-Krieg? Der Irakkrieg als Beispiel für die „Enthegung des
Völkerrechts“, AG Friedensforschung, August 2003.
6. Silnizki, M., Wer ist schuld an der Fortsetzung des Krieges? Über die Friedensverhandlungen im März/April
2022. 29. August 2023, www.ontopraxiologie.de.
7. Rumer, E./Sokolsky, R., „Thirty Years of U. S. Policy Toward Russia: Can The Vicious Circle Be Broken?“
Carnegie Endowment for International Peace, 20. Juni 2019.
8. Bandow, D., Ukraine`s Vain Search Wonder Weapons. The American Conservative, 24. August 2023.
9. Schmitt, C., Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte, in: Staat,
Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969. Berlin 1995, 269-371 (277).
10. Näheres dazu Silnizki, M., Putins Kontinentalmachtstrategie. Zur Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik.
25. Juli 2022, www.ontopraxiologie.de.
11. Rumer/Weiss (wie Anm. 7).

Nach oben scrollen