Eine neue US-Sicherheits- und Europapolitik?
Übersicht
1. Kriegspartei oder „Patrioten-Block“?
2. Bruch mit der „außenpolitischen Orthodoxie“?
Anmerkungen
Die EU positioniert sich heute als Peripherie Atlantiks und nicht als
eine kontinentaleuropäische Macht.
1. Kriegspartei oder „Patrioten-Block“?
Wer im Jahr 1991 die Augen offen hielt, der konnte sehen, dass sich hinter der Euphorie über das Ende des Ost-West-Konflikts eine neue Periode der Unsicherheit und der Instabilität verbarg.
Bereits 1990 veröffentlichte John J. Mearsheimer einen aufsehenerregenden Aufsatz „Why We Will Soon Miss The Cold War“ (The Atlantic 90, Nr. 8, August 1990, 35-50), in dem er die Auffassung vertrat, dass wir eines Tages bedauern werden, die Ordnung, welche dank dem „Kalten Krieg“ an die Stelle des Chaos in den internationalen Beziehungen getreten sei, verloren zu haben.
„Ich werde den Beweis erbringen“ – verkündete Mearsheimer selbstbewusst -, dass „die Gefahr der großen Krisen und sogar Kriegen in Europa tendenziell wachsen werden, nachdem der Kalte Krieg (längst) der Geschichte angehört. Die nachfolgenden fünfundvierzig Jahre werden womöglich viel aggressiver sein, als die fünfundvierzigjährige Epoche, die wir vermutlich irgendwann statt einer Periode des >Kalten Krieges< einen – wie John Lewis Gaddis es nannte – >langen Frieden< nennen würden.“
Heute wissen wir, dass Mearsheimer recht behalten hat. Sieht man von den zahlreichen Bürgerkriegen auf dem Balkan der 1990er-Jahre und dem Kosovokrieg 1999 ab, so ist der Ukrainekrieg ohne Zweifel ein gravierender und schwerwiegender Eingriff in die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, an dem mittelbar praktisch nicht nur ganz Europa, sondern auch die gesamte transatlantische Gemeinschaft unter der Führung der USA beteiligt ist.
Der Krieg in der Ukraine dauert nunmehr schon seit zweieinhalb Jahren und die Kriegspartei hat immer noch nicht die Hoffnung aufgegeben, Russland „eine strategische Niederlage“ zuzufügen oder es zumindest dauerhaft zu schwächen. Sie stilisiert dabei den auf ukrainischem Boden ausgetragenen Konflikt zwischen Russland und der transatlantischen Gemeinschaft als einen Kampf zwischen „Gut“ und „Böse“, Demokratie und Autokratie und verklärt die Ukraine als Vorposten von Demokratie, Freiheit und unserer Lebensweise.
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Die Ukraine, die die Grundrechte nach der EU-Menschenrechtscharta im April 2024 „teilweise“ außer Kraft gesetzt hat und deren Staatsoberhaupt nach Ablauf seiner Amtszeit ohne die Wiederwahl immer noch im Amt bleibt, verteidigt „unsere“ Demokratie, „unsere“ Freiheit und „unsere“ Lebensweise.
„Kiew hat dem Europarat am Sonntag offiziell mitgeteilt, dass die Ukraine ihre Verpflichtungen aus der Europäischen Menschenrechtscharta >teilweise aussetzt<“, berichtete Euronews am 29. April 2024 mit Verweis auf das Kriegsrecht. Das sind u. a. die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Briefgeheimnis, die Nichteinmischung in das Privatleben, die Freizügigkeit, die Rede- und die Versammlungsfreiheit.
In der deutschen und europäischen Öffentlichkeit wurde diese Nachricht totgeschwiegen. Mittlerweile geht es um weit mehr als „nur“ um die Aussetzung der Grund- und Menschenrechte sowie einen illegitimen, demokratisch nicht mehr wiedergewählten Präsidenten, der die Macht usurpiert hat.
Wie schlimm die Lage ist, darauf hat zuletzt Chas W. Freeman Jr. (ehem. stellvertretender US-Verteidigungsminister und US-Botschafter in Saudi-Arabien, 1989-1992) hingewiesen. In seinem Vortrag am Watson Institute for International and Public Policy der Brown University vom 1. August 2024 charakterisierte er die Ukraine als einen „autoritären Staat“. Wörtlich sagte er:
„Für die Ukraine, deren Neutralitätsverweigerung Moskau einen Vorwand zur Aufnahme von Kriegshandlungen lieferte, wurde der militärische Konflikt mit Russland zu einer nationalen Katastrophe. Die Ukraine verlor ein Drittel ihrer Bevölkerung und eine ganze Generation der tapferen Männer im wehrfähigen Alter. Sie hat bereits ein Fünftel seines Territoriums verloren und verfügt nicht über die Kraft und die Fähigkeiten, weitere Verluste zu verhindern. Seine Infrastruktur ist zerstört. Vor Beginn der russischen Sonderoperation war die Ukraine das ärmste und korrupteste Land Europas. Und nun geht ihre Verarmung weiter. Die Kämpfe begünstigen die Korruption, und dieses Phänomen ist dort heute verbreiteter denn je. Die Demokratie wurde durch das Kriegsrecht ersetzt. Politische Parteien wurden verboten, die Medien verstaatlicht und Wahlen abgesagt. Heute ist die Ukraine ein autoritärer Staat, der ethnische und sprachliche Vielfalt weitaus weniger toleriert als Russland.“
Diese durchaus realitätsnahe Bestandaufnahme der ukrainischen Verfassungswirklichkeit steht im krassen Gegensatz zu dem, was uns die Mainstream-Medien über die Ukraine berichten, und hat auch mit der russischen Kriegspropaganda nichts zu tun.
„Der Proxy-Krieg des Westens gegen Russland“ – resümiert Freeman – war „ein völliger Fehlschlag. Er hat vielmehr den Einfluss Russlands in der Welt deutlich erhöht, militärisch gestärkt und nicht davon abgehalten, die Ukraine zu verwüsten und zu ruinieren. Er erhöhte zudem die Ängste vor einem größeren Krieg in Europa … Man hätte denken können, dass das, was passiert ist, den Westen und die Ukraine dazu bewegen würde, diese Katastrophe zu stoppen und nach einer diplomatischen statt einer militärischen Lösung für die aktuelle Situation zu suchen, die nicht nur den Frieden und den Wohlstand Europas zunehmend bedroht, sondern auch eine weitere Eskalation bis hin zu einem nuklearen Schlagabtausch riskiert.
Weit gefehlt! Die USA und die Nato erhöhen ihren rein militärischen Ansatz in ihren Beziehungen zu der Russländischen Föderation. Der Westen kann nicht daraufsetzen, dass die von der Ukraine verlorenen Gebiete zurückgegeben werden. Ganz im Gegenteil: Die Ukraine riskiert noch mehr Land und sogar den Zugang zum Schwarzen Meer zu verlieren. Wir haben auch keine klare Strategie zur Beendigung der Feindseligkeiten. Stattdessen schlägt der Westen vor, bis zum letzten Ukrainer zu kämpfen und träumt weiterhin davon, Russland eine demütigende Niederlage zuzufügen, was einen Einsatz von Atomwaffen – folgt man der russischen Militärdoktrin – wahrscheinlich macht.“
Nun mehren sich auch in Europa Stimmen, die trotz eines entschiedenen Widerstands der Kriegspartei für eine diplomatische Lösung des Konflikts plädieren. Seit der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft am 1. Juli 2024 entwickelte der ungarische Premier Victor Orban ungeachtet einer heftigen Kritik seitens der EU-Kommission eine hektische wie spektakuläre Friedensdiplomatie.
Zwar hat sie sich bis jetzt im Sande verlaufen, perspektivisch kann sie aber eine Dynamik in Gang setzen, die selbst von der einflussreichen Kriegspartei mittel- bis langfristig nicht ohne weiteres ignoriert oder gar ausgebremst werden könnte. Orban steht zudem in der EU nicht so isoliert da, wie manche Eurokraten es gerne hätten.
Neuerlich wies Mujtaba Rahman in seinem Beitrag „Orbán isn’t as isolated as you think“ (Orbán ist nicht so isoliert, wie man denkt) für Politico vom 6. August 2024 darauf hin, dass die von Orban zusammengestellte Truppe „Die Patrioten für Europa“ (the Patriots for Europe) „zum drittgrößten Block im Europäischen Parlament“ geworden ist.
Die Gründung des „Patrioten-Blocks“ zeige, dass Orban weit weniger isoliert sei als zunächst angenommen. Er sei in der Lage, eine Koalition der Gleichgesinnten auf die Beine zu stellen, die sein strategisches Ziel: die Schaffung eines „Europas der Nationalstaaten“ (a Europe of nation states) teilen.
Selbst wenn die Patrioten-Truppe derzeit realpolitisch kaum etwas bewirken kann, bestehe dennoch „das Risiko, dass der europäische Zusammenhalt gefährdet wird – insbesondere dann, wenn der ehem. US-Präsident Donald Trump die Präsidentschaftswahlen im November gewinnt“, äußert sich Rahman am Ende seines Beitrags besorgt.
Kriegspartei oder „Patrioten-Block“? Wer auch immer am Ende obsiegt, wird letztlich, wie man sieht, in Washington entschieden.
2. Bruch mit der „außenpolitischen Orthodoxie“?
So wie die Dinge heute liegen, kann man zur Diplomatie nur auf dem Wege über einen „Bruch mit der außenpolitischen Orthodoxie“ (break with foreign-policy orthodoxy) zurückkehren, schreiben Mark Hannah (Senior Fellow am Institute for Global Affairs) und Rachel Rizzo (Senior Fellow am Europa-Zentrum des Atlantic Council) in ihrem Artikel „Harris and Walz Can Remake U.S. Foreign Policy“ für Foreign Policy vom 7. August 2024.
Bidens außenpolitischer Slogan „ Amerika ist zurück“ und Harris´ Schlachtruf „ Wir gehen nicht zurück“ seien laut Hannah/Rizzo heute nicht mehr zeitgemäß. Bidens Slogan war „ein zweischneidiges Schwert“, läutete er doch für die einen eine willkommene Rückkehr zur Normalität ein, die vor Trumps Präsidentschaft bestand, wohingegen er für die anderen eine unkritische Rückkehr zu einem Status quo signalisierte.
Und was Harris´ Schlachtruf betrifft, so beziehe er sich zwar vordergründig auf die Trump-Ära, könnte aber genauso gut auf „das indoktrinierte Denken“ (the ossified thinking) des außen- und sicherheitspolitischen US-Establishments zurückgeführt werden.
Sollte Harris zu der US-Außenpolitik vor Trumps Präsidentschaft zurückkehren, so würde sie – merken Hannah/Rizzo kritisch an – in der Tradition „des amerikanischen Exzeptionalismus“ verbleiben, der „die unglücksseligen Kriege, die zum Regimewechsel führten, rechtfertigte“ (American exceptionalism justified ill-fated regime-change wars) und sich als die einzige und unverzichtbare Nation zur Verteidigung der Demokratie gebärdete.
Diese Vorwärtsstrategie in die Vergangenheit sei nicht mehr auf der Höhe der Zeit, stellen Hannah/Rizzo apodiktisch fest. Die US-Amerikaner seien „eine kriegsmüde Nation“ (a war-weary nation) geworden, die noch immer die Wunden der langwierigen und kostspieligen Kriege im Irak und in Afghanistan lecken, diagnostizieren sie mit Verweis auf die Umfragewerte und meinen sodann ernüchtert: „Bidens großspurige Äußerungen, in denen eine unbegrenzte Hilfe für die Ukraine mit dem Überleben der Demokratie gleichgesetzt wird, die die manchen Sicherheitsexperten frustriert haben, werden bei den unabhängigen Wählern eher Skepsis als Begeisterung auslösen.“
Vor dem Hintergrund dieser Kritik an der nicht mehr zeitgemäßen US-Außenpolitik empfehlen Hannah/Rizzo am Ende ihres Beitrags den beiden Parteien „einen Bruch mit der außenpolitischen Orthodoxie“ (to break with foreign-policy orthodoxy).
Trump und Vance müssen die kriegslüsterne Haltung der US-Republikaner gegenüber China mit den weniger kriegerischen Ansichten der jüngeren Wähler in Einklang bringen, wohingegen Harris die Erblast der unpopulären US-Außenpolitik der Biden-Administration, die die neue Generation der demokratischen Wähler verschrecken könnte, abschütteln müsse. Denn in einer sich rasant wandelnden Welt an einer außenpolitischen Kontinuität festhalten zu wollen, sei politisch ebenso riskant wie geopolitisch sinnlos (vgl.: But clinging to continuity in a rapidly changing world is as politically risky as it is geopolitically feckless).
Diese Aufforderung zum „Bruch mit der außenpolitischen Orthodoxie“ ist bemerkenswert, hat aber einen Haken: Sie zeigt nicht auf, auf welche Art und Weise dieser „Bruch“ vollzogen werden muss. Denn auch unsere Kritiker sprechen beispielsweise von der „russischen Aggression gegen die Mitgliedsstaaten“ (Russian aggression against member states), ohne freilich die Hintergründe dieser „Aggression“ aufzuklären.
Die Hintergründe liegen aber auf der Hand. Das ist eben die zur „Orthodoxie“ versteinerte Nato-Expansions- und US-Interventionspolitik seit dem Ende des Ost-West-Konflikts. Diese so verstandene „außenpolitische Orthodoxie“ ist eine direkte Folge des US-amerikanischen Hegemoniestrebens und sie wird so lange dauern, bis die USA sich entschließen, entweder mit ihrem Hegemonialstreben zu brechen oder es werden die Gegenmächte sein, die die US-Hegemonie beenden.
Einen dritten Weg gibt es nicht! Freiwillig werden die USA ihre weltweite Hegemonialstellung nicht aufgeben. Bis heute bleibt das US-Ziel die Hegemonie aufrechtzuerhalten und die Hegemonialmacht zu festigen. Ein Rückzug der USA auf sich selber ist nicht mehr möglich. Zu sehr hängen der Wohlstand und die Prosperität Amerikas von seiner Stellung als Hegemonialmacht ab.1
Alles läuft auf die zweite Variante der Entwicklung, die jedoch zu einem großflächigen Krieg in Europa und darüber hinaus auswachsen kann. Selbst wenn man davon ausgeht, dass „das heutige Russland ein Schatten der sowjetischen Bedrohung ist“ (Today’s Russia is a shadow of the Soviet threat), wie Justin Logan und Joshua Shifrinson in ihrer neuerlich erschienenen anspruchsvollen Studie „A Post-American Europe“ (Foreign Affairs, 9.08.24) mutmaßen, so darf man sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Russland in seinem Kampf gegen die US-Hegemonie nicht allein da steht und ökonomisch wie militärisch mächtige Verbündeten hinter sich hat.
In diesem Machtkampf zwischen der US-Hegemonie und ihren Gegnern spielt Europa eine eminent wichtige Rolle. Es ist darum nicht ganz von der Hand zu weisen, wenn Logan/Shifrinson in der eben erwähnten Studie von „einem postamerikanischen Europa“ sprechen, das nicht unbedingt auf einen militärischen Schutz des US-Hegemonen angewiesen sei und in der Lage sein sollte, sich selbst gegen Russland zu verteidigen.
Selbst wenn man den Autoren der Studie unterstellt, dass sie diese Feststellung aus rein wahltaktischen Überlegungen gemacht haben, um eine unorthodoxe Sicherheits- und Europapolitik der US-Republikaner zu unterstützen, so steckt darin auch ein Wahrheitskern. Und es ist im Übrigen auch keine neue sicherheitspolitische Diskussion. Es gab nämlich in den USA immer schon Stimmen von Politikern und Publizisten, „die der Meinung“ waren, „die amerikanische Politik habe sich (in Europa) zu weit engagiert“, worauf Raymond Aron bereits 1953 aufmerksam gemacht hat.2
Neu ist lediglich die Formel, in die Logan/Shifrinson ihren sicherheitspolitischen Diskussionsbeitrag verpackt haben, die sie augenscheinlich von der monetären Funktion der Notenbank als Kreditgeber der letzten Instanz abgeleitet haben.
„In Anbetracht der wachsenden Anforderungen zu Hause und in Asien ist eine Kurskorrektur erforderlich. Die Idee wäre nicht die USA von Europa zu isolieren, sondern die Rolle der USA vom Anbieter der ersten Instanz auf einen Balanceförderer der letzten Instanz zu verlagern“ (vgl.: Amid growing demands at home and in Asia, a course correction is in order. The idea would not be to isolate the United States from Europe but to shift the U.S. role from provider of first resort to balancer of last resort).
Mit anderen Worten: Die USA sollen die transatlantische Sicherheitsordnung in Europa nur im äußersten Falle garantieren und analog zur Notenbank als der Sicherheitsgeber der letzten Instanz auftreten. Die Hauptlast der Sicherheit in Europa sollten hingegen laut der Studie die EU-Europäer selber schultern, die USA müssen demgegenüber ihre Militärpräsenz in Europa massiv reduzieren.
In ihrer Funktion als Sicherheitsgeber der letzten Instanz würden die USA dann nur als eine nukleare Schutzmacht Europas mit ihren Geheimdienst-, Überwachungs- und Aufklärungsfähigkeiten fungieren. Diese US-Sicherheitspolitik ist alles andere als neu. Das „Neue“ ist daran lediglich ein erneuter Versuch die Militärpräsenz der USA weitgehend zu reduzieren, um die Kosten für das US-Engagement in Europa einzusparen.
Diese monetär induzierte Intention der US-republikanischen Sicherheitspolitik in Europa ist zwar nicht neu. Sie hat aber eine immense geopolitische Tragweite. Denn sollte die Militärpräsenz der USA weitgehend oder ganz beendet werden, so könnten im Falle des Falles zwei unerwünschte Entwicklungen für das transatlantische Bündnis eintreten, die keinem der Bündnisgenossen gefallen würden.
Käme es nämlich zu einer direkten militärischen Konfrontation zwischen den EU-Europäern und Russland (was aus heutiger Sicht unwahrscheinlich ist), so könnte es auch passieren, dass die USA im Falle einer nuklearen Zuspitzung des Konflikts außen vor bleiben, um das Risiko der eigenen nuklearen Vernichtung zu vermeiden. Als der Sicherheitsgeber der letzten Instanz wären die USA in diesem Falle eine Idee fixe, die allein dazu dienen sollte, sich der sicherheitspolitischen Verantwortung für Europa elegant zu entledigen.
Und würden die USA ihre Militärpräsenz in Europa ganz beenden, so könnte es zu einer Annährung zwischen den EU-Staaten und Russland kommen, was die US-Hegemonialstellung in Europa nivellieren würde. In beiden Fällen käme es geopolitisch zu tektonischen Machtverschiebungen in Europa. Ob das im Interesse der USA ist, ist eine ganz andere Frage.
Der US-Hegemon sucht heute infolge seiner zunehmenden geoökonomischen und militärischen Schwächung nach Wegen, sich ohne Gesichtsverlust der sicherheitspolitischen Verantwortung für Europa zu entziehen.
Das Streben nach einer Reduktion der US-Militärpräsenz in Europa ist freilich nur eine Seite der Medaille. Zwar steht im Vordergrund in der Tat eine gesichtswahrende und die eigenen Kräfte schonende Umverteilung der übermäßig gewordenen ökonomischen Belastung zu Lasten Europas, ohne dabei die US-Hegemonialstellung als Ordnungsmacht in Europa zu gefährden.
Hinter diesem Streben steckt aber auch ein indirektes Eingeständnis der Selbstüberforderung einer Hegemonialmacht, die sich wie zu seiner Zeit die Sowjetunion überdehnt und übernommen hat. Denn unabhängig vom teilweisen oder ganzen Rückzug aus Europa laufen die USA so oder so Gefahr nicht nur Europa zu verlieren, sondern mittel- bis langfristig auch zu einer Regionalmacht degradiert zu werden.
Selbst wenn die USA die europäische Sicherheit den EU-Europäern ganz überlassen und ihren geo- und sicherheitspolitischen Schwerpunkt gegen China im Indopazifik sehen und darum alle ihre Kräfte nach Ostasien verlagern und konzentrieren wollen, weil sie sich vor allem dort in ihrer Weltmachtstellung bedroht fühlen, so werden sie auch dann ihre Hegemonie nicht mehr retten können.
Der schwächelnde US-Hegemon ist heute mangels ökonomischer und militärischer Kapazitäten nicht mehr in der Lage, weder einen Zweifrontenkrieg gleichzeitig zu führen noch ihre Hegemonie auf Dauer aufrechtzuerhalten. Der Hegemonialzug ist nämlich abgefahren.
Dass die EU-Europäer ihrerseits zu einer Selbstverteidigung gegen eine nukleare Supermacht Russland ebenfalls kaum in der Lage sind, ist ein offenes Geheimnis, bekümmert aber unsere US-Sicherheitsexperten ganz und gar nicht. Als Sicherheitsgeber der letzten Instanz kann sich die US-Sicherheits- und Europapolitik allerdings schnell als „Potemkinsche Dörfer“ erweisen, falls sich die USA „urplötzlich“ erschließen, statt Europa zu verteidigen, sich in eine Selbstisolation zu begeben, um sich die eigene nukleare Vernichtung zu ersparen.
„Der totale Krieg zwingt zur Konzentration der Kräfte, der Kalte Krieg lässt sich an vielen Stellen zugleich führen“3, meinte Raymond Aron 1953. Und der Kriegsfrieden4 lässt im Jahr 2024 weder den totalen Krieg noch den totalen Frieden zu. Was bleibt, ist eine sich weiterdrehende Eskalationsspirale mit einem ungewissen Ausgang! Und die EU wird in den Strudel dieser Eskalation selbstverschuldet geraten und mit oder ohne den Sicherheitsgeber der letzten Instanz in schwieriges Fahrwasser geraten!
Anmerkungen
1. Näheres dazu Silnizki, M., „Globale Dominanz als Selbstzweck“. Zur Frage nach den „Pathologies of
Primacy“ in der US-Außenpolitik. 29. März 2023, www.ontopraxiologie.de.
2. Aron, R., Der permanente Krieg. Frankfurt 1953, 231.
3. Aron (wie Anm. 2), 234.
4. Silnizki, M., Vom „Kalten Frieden“ zum „Kriegsfrieden“? Zwischen Hochmut und Ratlosigkeit.
17.August 2024, www.ontopraxiologie.de.