Joschka Fischers Handelsblatt-Interview
Übersicht
1. „Man geht mit der Zeit oder man geht mit der Zeit“
2. Westbindung oder Gefolgschaftstreue?
3. Nur ein Rädchen im Entmenschlichungsgeschäft
Anmerkungen
„Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach kannst du sehen und
den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.“
(Bergpredigt)
1. „Man geht mit der Zeit oder man geht mit der Zeit“
Das Handelsblatt hat am 5./7. Juli 2024 ein ungewöhnlich langes, fünf Seiten starkes Wochenend-Interview mit dem grünen Ex-Vizekanzler und Ex-Außenminister Joschka Fischer (1998-2005) abgedruckt. Der ehem. Sponti und „der letzte Rock ’n‘ Roller der deutschen Politik“, wie er sich selbst einst bezeichnet hat, ist mit seinen 76 Jahren mittlerweile in die Jahre gekommen und längst zu einem glühenden Transatlantiker mutiert.
Zu Beginn des Interviews wird er als „grüner Außenminister“ vorgestellt, der „gegen den erbitterten Widerstand seiner Partei für den ersten großen Auslandseinsatz der Bundeswehr im Kosovo im Jahr 1999 eintrat, eine Intervention, die völkerrechtlich umstritten war. Es sollten viele weitere folgen“, fügten das Handelsblatt nichtssagend hinzu.
Was im Jahr 1999 geschah und Fischer aus einem militanten Sponti zu einem ebenso militanten Interventionisten machte, war nicht etwa eine „völkerrechtlich umstrittene“ Intervention, wie die Zeitung euphemistisch beteuert, sondern ein klarer Bruch des Völkerrechts und ein Angriffskrieg gegen die Volksrepublik Jugoslawien. Schlimmer noch: Es war ein doppelter Tabubruch der deutschen Nachkriegsgeschichte: Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Krieges hat sich ausgerechnet die erste rot-grüne Bundesregierung nicht nur für einen Kriegseinsatz, sondern darüber hinaus auch für einen völkerrechtswidrigen, als „humanitäre Intervention“ verklärten Angriffskrieg ausgesprochen.
Dieser doppelte Tabubruch hat die deutsche Außenpolitik exzessiv militarisiert und den Ex-Sponti und Ex-Pazifisten bis heute zum glühenden „liberalen Internationalisten“ gemacht.
Nicht von ungefähr wurde im gleichen Atemzug bewundert angemerkt, dass Fischer sich „vom alternativen Sponti, der auch Gewalt nicht abgeneigt war, zum deutschen Chefdiplomaten (wandelte), der sich bei den Größen der internationalen Politik wie Henry Kissinger oder Madeleine Albright Respekt erwarb“.
Die berühmt-berüchtigte Madeleine Albright war jene Außenministerin der Clinton-Administration, die einst unumwunden und mit der Hingabe einer zur einzig wahren Gewaltreligion Bekehrten verkündete: „Wenn wir Gewalt anwenden müssen, dann weil wir Amerika sind; wir sind die unverzichtbare Nation. Wir stehen aufrecht und blicken weiter in die Zukunft als andere Nationen.“
Wie weit blickte aber der frischgebackene grüne Außenminister Fischer, als er unter Albrights Druck 1999 für den Kriegseinsatz mitentschieden hat? Offenbar nicht weit genug! Sonst hätte er die schwerwiegenden Folgen dieser verhängnisvollen Entscheidung mitbeachtet. Dass die Handelsblätter ausgerechnet Madeleine Albright erwähnten, irritiert, haben sie doch im nächsten Satz von einem „Epochenbruch“ mit Verweis auf Russlands „imperialistischen Krieg in der Ukraine“ gesprochen und damit gezeigt, wie wenig sie begriffen haben, dass dieser vermeintliche „Epochenbruch“ ohne den doppelten Tabubruch der deutschen und europäischen Nachkriegsgeschichte im Jahr 1999, ohne die „vielen weiteren“ US-Interventionen und Invasionen und ohne die Nato-Expansionspolitik undenkbar wäre.
Getreu dieser kompletten Ausblendung der westlichen Außen- und Sicherheitspolitik der vergangenen fünfundzwanzig Jahre verläuft das gesamte Interview mit Joschka Fischer. Es ist ein weiterer Beweis dafür, wie wenig die transatlantischen Macht- und Funktionseliten bereit und gewillt sind, ihren eigenen Anteil an diesem sog. „Epochenbruch“ bzw. der „Zeitenwende“ (Olaf Scholz) anzuerkennen und einzugestehen, dass auch der Westen an dieser Entwicklung nicht unschuldig ist.
Auf die Frage, auf welche Welt wir in Anbetracht der zahlreichen Verwerfungen zusteuern, entwirft Fischer ein Weltbild, das mit der geopolitischen Realität der vergangenen dreißig Jahre wenig zu tun hat. „Wir erleben eine Übergangsphase. Die Pax Americana, der amerikanische Frieden, ist beendet. An ihre Stelle tritt die Rivalität mehrerer globaler Großmächte inclusive der Rückkehr des Krieges, an erster Stelle die USA und China. Dieses globale Chaos wird Europa vor gewaltige Herausforderungen stellen.“
Wirklich? Dass dieses „globale Chaos“ von der „Pax Americana“ – dem amerikanischen Unfrieden –in Gang gesetzt wurde, wird entweder bewusst ausgeblendet oder verharmlost. Die Rückkehr des Krieges? War der Ex-Außenminister nicht etwa höchst persönlich 1999 an dieser „Rückkehr“ mitbeteiligt? Und wo war Fischer in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren, als der US-Hegemon mit Unterstützung seiner Nato-Bündnisgenossen den Nahen Osten und Hindukusch mit zahlreichen Interventionen und Invasionen überzogen hat?
Hat Fischers Kabinettskollege, Verteidigungsminister Peter Struck, am 11. März 2004 nicht etwa hochtrabend beteuert: „Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt“? Im Gegensatz dazu hat China seit 1999 noch keinen einzigen Krieg vom Zaun gebrochen.
Als die Interviewer mit Verweis auf den „Politologen Herfried Münkler“ eingewendet haben, dass eine multipolare Weltordnung „nicht zwingend in einem Chaos münden (müsse)“, reagierte der Ex-Sponti mit der Anmerkung: „Multipolarität ist ein verharmlosender Begriff. Ich bin mir sicher: Die Welt der rivalisierenden Großmächte wird eine konfrontative sein.“
Heißt das im Umkehrschluss: Lieber eine unipolare Weltordnung, in der der US-Hegemon das Sagen hat, als eine multipolare Rivalität der Großmächte? Hegemonie oder Machtgleichgewicht?
Genau darauf angesprochen, meint Fischer: Die Übertragung des Machtgleichgewichtsmodells des 19. Jahrhunderts „auf die globale Realität des 21. Jahrhunderts funktioniert nicht. Wir leben eher in einer Welt eines globalisierten Sarajewos, der permanent drohenden Konfrontation großer, globaler Mächte.“ Das mag sein! Nur: Wer ist schuld an diesem „globalisierten Sarajewo“? Darüber verlor der Ex-Außenminister kein einziges Wort.
Was empfiehl er aber statt einer multipolaren Weltordnung? Auch dazu äußert er sich nicht. Fischers Geisteshaltung verrät freilich einen Unilateralisten, der den glorreichen Zeiten der unipolaren Weltordnung nachtrauert, in denen er gelegentlich mit Madeleine Albright (1937-2022) wie im Jahr 2013 bei der Vorstellung der deutschen Übersetzung ihres Buches auf dem Podium diskutieren durfte.
2. Westbindung oder Gefolgschaftstreue?
In Anknüpfung an die „Sarajewo“-Warnung entwirft Fischer anschließend ein mögliches Weltuntergangsszenario: Zuerst erwähnt er „den Krieg im Nahen Osten, der schnell über den Iran eine Weltkrise auslösen könnte. Das gleiche gilt für den Taiwankonflikt. Insofern ist auch der Ukrainekrieg symptomatisch. Ich sehe diesen Krieg“ – fügt Fischer selbstsicher hinzu – „nicht nur als einen Krieg, mit dem Wladimir Putin seine regionalen Ziele durchsetzen will. Es ist ein Krieg gegen Europa, aber auch gegen die amerikanische Weltordnung …“
Da sieht man wieder einen überzeugten Transatlantiker, der allein die „Untaten“ der Gegenseite beklagt, die offensive und expansionistische US-Geo- und Sicherheitspolitik in Europa und in der Welt aber unterschlägt. In den vergangenen 25 Jahren haben allerdings weder Iran noch China noch Russland Angriffskriege geführt, wohl aber die USA mit ihren Nato-Verbündeten. Diese und nur diese US-Interventionen und Invasionen haben zur Entstehung dessen geführt, was Fischer die „Welt der rivalisierenden Großmächte“ bezeichnet.
Und was den Ukrainekrieg angeht, so ist dieser (und hier zeigt Fischer seine komplette Ignoranz) weder „ein Krieg gegen Europa“1 noch ein Krieg „gegen die amerikanische Weltordnung“, wohl aber gegen eine forsche und ungebremste Nato-Expansionspolitik2.
Jede Außenpolitik (und erst recht die der Großmächte) ist eine reziproke Veranstaltung und man kann nicht mit dem Zeigefinger auf die Gegenseite zeigen und gleichzeitig sein eigenes geo- und sicherheitspolitisches Handeln ausblenden. Wer wie die Nato das Gebot der ungeteilten Sicherheit in Europa mit ihrer rücksichtslosen Expansionspolitik über Bord wirft und die vitalen Sicherheitsinteressen Russlands missachtet, der bekommt am Ende des Weges einen erbarmungslosen Krieg in Europa.
Russland führt freilich keinen „Krieg gegen Europa“. Ganz im Gegenteil: Es ist Europa, das mit seiner tonnenweisen Lieferung des Kriegsmaterials und mit hunderten Milliarden Dollar den Krieg auf ukrainischem Boden finanziert und anfeuert. Man will gar nicht wissen, wie viele tausende Russen bereits mit europäischen und deutschen Waffen getötet wurden.
Es ist darum ziemlich abwegig von einem Ex-Pazifisten zu hören, dass Russland einen „Krieg gegen Europa“ führt. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Die Nato-Länder sind es, die zum Kriegsziel erklärt haben, Russland eine „strategische Niederlage“ zuzufügen und mittlerweile einen direkten und nicht nur den sog. „hybriden Krieg“ gegen Russland führen, was der scheidende Generalsekretär Jens Stoltenberg, wie unten noch näher ausgeführt wird, zuletzt auch bestätigt hat.
Davon will Fischer aber gar nichts wissen, hat er und seine transatlantischen Freunde doch längst die deutsche Staatsräson der Nachkriegszeit vergessen: „Von deutschem Boden soll nie wieder Krieg ausgehen“. Heute wird aber die Fortsetzung des Krieges nach Orwells Diktum im Namen des Friedens propagiert.
Nein, der überzeugte Transatlantiker verwechselt nicht nur Ursache und Wirkung, sondern er ist auch aus der Zeit gefallen, wenn er über die „zwei Grundprinzipien der Nachkriegszeit“ sinniert, „an die wir uns dringend halten müssen. Das eine ist die Westbindung – eine große Leistung Konrad Adenauers. Die will die AFD rückgängig machen, sie will sich eher Russland und China zuwenden – und das wäre ein Desaster für unser Land. Das zweite ist die Notwendigkeit der innereuropäischen Aussöhnung, die immer auch eine deutsch-französische Aussöhnung ist … Dies ist unser strategischer Imperativ als Land in der Mitte Europas.“
Fischer ist offenbar nicht auf dem Laufenden. Er hat immer noch nicht gemerkt, dass die Nachkriegszeit längst zu Ende ist. Sie hat spätestens mit dem Ende des Ost-West-Konflikts das Zeitliche gesegnet. Den sog. „Westen“, der erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges als Produkt der bipolaren Weltordnung und des ideologischen Systemwettbewerbs in seiner Abwehr gegen die tatsächliche oder vermeintliche „sowjetische Bedrohung“ entstanden ist, gibt es so, wie er zurzeit des Konrad Adenauers war, nicht mehr.
Die Bipolarität ist seit mehr als vierunddreißig Jahren mausetot. Mit dem Untergang des Sowjetreiches ist auch der sog. „Westen“ als Kampfbegriff untergegangen. Wo es aber keinen „Westen“ gibt, gibt es auch keine „Westbindung“. Was wir heute allerdings haben, ist eine sich seit dem Ende des „Kalten Krieges“ ausgebildete und (noch) bestehende unipolare Weltordnung unter Führung des US-Hegemonen, die an die Stelle der bipolaren Welt getreten ist.
Die Bipolarität der Nachkriegszeit wurde längst durch die Unipolarität der US-Hegemonialmacht und die „Westbindung“ durch die Gefolgschaftstreue zum US-Gefolgsherrn substituiert. Diese US-Hegemonie (und nicht der nicht mehr existierende „Westen“) erodiert heute und wird von den erstarkten Großmächten Russland und China akut bedroht.
Insofern trifft Fischers Feststellung indirekt zu, dass sich nämlich der Ukrainekrieg „auch gegen die amerikanische Weltordnung“ richtet. Denn geht die Unipolarität zugrunde, dann wird auch die US-Hegemonie und nicht der „Westen“ untergehen. Dass wir heute immer noch vom „Westen“ sprechen, ist allein dem Umstand verschuldet, dass wir nach wie vor in den Kategorien des „Kalten Krieges“ denken, sprechen und handeln.
Immer noch verbleiben wir mit der Nato-Allianz als einem überkommenen Militärblock des „Kalten Krieges“ in den Schutzengraben der bipolaren Systemkonfrontation. Das Nato-Bündnis hat freilich längst aus einer Defensiv- und Status-quo-Allianz der bipolaren Weltordnung in eine Offensiv- und Expansions-Allianz der unipolaren Welt ausgeartet. Und der Ex-Außenminister Fischer sollte das eigentlich besser wissen als viele andere.
Es geht schon lange nicht mehr um eine „Westbindung“ Deutschlands, wie etwa die chronisch angespannten Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich deutlich machen. Und die Tatsache, dass die EU territorial, mental und kulturell weit mehr ist als das Westeuropa des „Kalten Krieges“, zeigt doch, dass die sog. „Westbindung“ der Nachkriegszeit heute eine Fiktion ist.
Was wir heute tatsächlich vorfinden, ist nicht so sehr Deutschlands Westbindung der Nachkriegszeit, als vielmehr die EU-europäische und deutsche Gefolgschaftstreue zu ihrem US-amerikanischen Gefolgsherrn.
3. Nur ein Rädchen im Entmenschlichungsgeschäft
Mit Missbehagen äußert sich Fischer zum Klein-Klein der deutschen Politik. „Putin führt einen Krieg gegen Europa, gegen den Westen, indem er die Ukraine angreift. Und was ist unsere Antwort darauf? Wir debattieren über die Schuldenbremse“, empört sich unser Ex-Pazifist.
„Krieg gegen Europa, gegen den Westen“? Seit wann war denn die Ukraine ein Teil des „Westens“? Seit Jahrhunderten war sie ein integrierter Bestandteil des Russischen Reiches und der Sowjetunion, als vom sog. „Westen“ weit und breit noch nichts zu sehen war. Auch zu Zeiten des Ost-West-Konflikts war die Ukraine auf der antiwestlichen Seite der Barrikade.
Russland führt keinen Krieg gegen Europa und den nicht mehr existierenden „Westen“, sondern gegen die US-Expansionspolitik, die mittlerweile in einen Kolonialkrieg ausartete3.
Wenn sich Fischer über die Debattierthemen der deutschen Politik unzufrieden zeigt, worüber will er dann debattieren? Nun hat er beispielsweise den Irakkrieg thematisiert, den er (und das muss man ihm zugutehalten) zu seiner Zeit abgelehnt hat. Wie er aber jetzt darüber „debattiert“, stößt freilich auf Unbehagen.
Als Transatlantiker hält er sich „vornehm“ zurück und sagt mit keinem Wort, dass der Irakkrieg eigentlich ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg mit hunderttausenden Opfern war. Wie könnte er auch? Die Völkerrechtsbrecher sind „natürlich“ immer die anderen, wie z. B. Putin mit seinem Ukrainer-Feldzug.
Als Gefolgsmann der unipolaren Weltordnung spricht Fischer lieber verharmlosend von „einer unglaublichen Hybris“ der Neokonservativen, „die außenpolitisch im Irakkrieg ihren Höhepunkt fand“.
Ist das alles? Nein, er beklagt auch die „wirtschaftliche Hauptlast dieser extrem teuren Politik“, die „das ländliche Amerika (trug)“. Kein Angriffskrieg!? Kein Völkerrechtsbruch!? Kein Kriegsverbrechen!? Nur eben eine „unglaubliche Hybris“. Wie nett!
Und so fügt er abschließend ebenfalls verharmlosend hinzu: „Ich vergesse nie den ersten Wahlkampf von Trump gegen Hillary Clinton, die für den Irakkrieg gestimmt hat. Das hat Trump sehr geschickt skandalisiert.“ Trump habe sich nämlich erdreistet, gegen eine „liebe“ und „nette“ Hillary den Irakkrieg zu „skandalisieren“. Das ist wohl alles, was der unbefangene Leser zum „Debattierthema“ Irak zu wissen braucht.
Ein anderes Thema ist – wie könnte es auch anders sein – Putin, sein Ukraine-Feldzug und natürlich seine Bedrohung für den „Westen“.
„Putin ist eine reale Bedrohung“, betont Fischer, „und es liegt natürlich im Interesse aller europäischen Staaten, ihn zu stoppen. Und wir dürfen uns da auch nicht durch nukleare Erpressung in Angst und Schrecken versetzen lassen. Putin darf nicht gewinnen, die Ukraine muss gewinnen. Wenn er gewinnt, wird er weitermachen, nur weiter westlich. … Putin möchte den Weltmachtstatus Russlands wieder erringen. Und da seine ökonomischen und technologischen Mittel zur Erreichung dieses Ziels begrenzt sind, wird er, wie es die russische Geschichte oft gezeigt hat, auf imperiale Gewalt setzen – vor allem Schwächeren gegenüber. Das ist das große Risiko, vor dem Europa und die Welt stehen. Es ist der erste große Revisionskrieg, nicht der letzte. Man kann nur hoffen, dass Putin weiß, was es bedeutet, wenn er einen Nato-Staat angreifen würde.“
So weit, so schlecht! Fisher bedient sich aller Klischees, Vorurteilen, Beschwörungsformeln und Versatzstücken der seit knapp zweieinhalb Jahren allerorts tobenden antirussischen Kriegspropaganda. Man hätte freilich von dem „letzten Rock ’n‘ Roller der deutschen Politik“ etwas mehr intellektuelles Niveau erwarten dürfen.
Woher weiß Fischer aber all das so genau? Verwechselt er nicht sein Wunschdenken und seine subtile Angstmacherei mit historischer Wahrheit und der geo- und sicherheitspolitischen Realität? Will Putin wirklich „weitermachen“ und „den Westen“ angreifen? Wieso soll er das tun? Russland steht einer Anti-Russland-Koalition gegenüber mit mehr als 50 Staaten und einer Milliarde Bevölkerung.
Deshalb würde Putin gar nicht in den Sinn kommen, einen Nato-Staat anzugreifen. Auf die Frage eines Journalisten auf einem jährlich stattfindenden Investitionsforum von VTB Capital „Russia Calling!“ im Jahr 2016, ob Russland Angst vor der Isolation hat, hat Putin halb scherzhaft, halb ernst gesagt: „Да у них моторесурса и бензина не хватит, чтобы все наши границы объехать. Как вообще возможна изоляция такой страны, как Россия?“ (Da haben sie nicht genug Motorressourcen und Benzin, um alle unsere Grenzen zu umfahren. Wie ist es überhaupt möglich, ein Land wie Russland zu isolieren?).
Soll heißen: Im Ukrainekrieg geht es Russland nicht um die Landnahme, wovon es mehr als genug hat, sondern um seine vitalen Sicherheitsinteressen, worunter in erster Linie der Stopp der Nato-Expansionspolitik zu verstehen ist.
Und wenn man die vergangenen 200 Jahren Revue passieren lässt, wird schnell klar, wer wen immer angegriffen hat. Oder waren etwa Napoleon und Hitler Russen, die den „Westen“ brutal überfallen haben? Will man nicht soweit in die Geschichte gehen und allein die vergangenen 25 Jahre der unipolaren Weltordnung mit ihren sogenannten „humanitären Interventionen“ und Angriffskriegen in Erinnerung rufen, so wird auch hier deutlich, wer „das große Risiko (ist), vor dem Europa und die Welt stehen“ und die Weltordnung ins Chaos stürzen.
Nach Angaben des Costs of War Project, das seit 2010 vom Watson Institute for International and Public Affairs an der Brown University (Providence, US-Bundesstaat Rhode Island) betrieben wird, sind „in den Kriegen in Afghanistan und Pakistan, im Irak und in Syrien, im Jemen und an einigen kleineren Schauplätzen des Anti-Terror-Kriegs“ . . . mindestens 897.000 bis 929.000 Menschen unmittelbar bei Kampfhandlungen zu Tode gekommen.
Dabei handelt es sich nur um Todesopfer, die durch zwei unabhängige Quellen sicher nachgewiesen sind, davon rund 364.000 bis 387.000 Zivilisten . . . Die Gesamtzahl der direkten und indirekten Kriegstoten wird allein für den Irak in den Jahren von 2003 bis 2013 auf bis zu einer Million geschätzt. Laut dem Costs of War Project ist davon auszugehen, dass die Gesamtzahl der Kriegstoten in sämtlichen betroffenen Ländern bei einem Mehrfachen der unmittelbaren Todesopfer der Kämpfe liegt.“4
Die anderen Quellen geben noch dramatischere Zahlen an: Allein im Irak wird die Opferzahl auf „etwa 2,4 Millionen Menschen“5 geschätzt. In Afghanistan „liegt die Zahl der seit 2001 auf beiden Seiten getöteten Afghanen bei etwa 875.000, minimal 640.000 und maximal 1,4 Millionen“ (ebd., 141). In Kombination mit Pakistan schätzt Nicolas J. S. Davies „bis Frühjahr 2018 auf etwa 1,2 Millionen getöteter Afghanen und Pakistanis durch die US-Invasion in Afghanistan seit 2001“ (ebd., 142) usw.
Weiß Fischer davon nichts? Und heute? Führt die Nato keinen Krieg gegen Russland? Weiß Fischer auch davon nichts? Dann soll er den Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg fragen. Am 7. Juli 2024 hat Stoltenberg dem Fernsehsender CBS in der Sendung „Face The Nation“ ein Interview gegeben und eingestanden, dass die Nato einen Krieg in der Ukraine führt. Wörtlich sagte er:
„… the war in Ukraine demonstrates how closely aligned Russia and China and North Korea and Iran are. China is the main enabler of Russia’s war aggression against Ukraine. President Xi and President Putin, they all want NATO, the United States to fail in Ukraine, and if Putin wins in Ukraine, it will not only embolden President Putin it also would emboldened President Xi, as the Japanese Prime Minister said what happens in Ukraine today can happen in Asia tomorrow“ (… der Krieg in der Ukraine zeigt, wie eng Russland, China, Nordkorea und der Iran verbündet sind. China ist der Hauptförderer der russischen Aggression gegen die Ukraine. Präsident Xi und Präsident Putin wollen die Nato und die USA in der Ukraine scheitern zu sehen. Und wenn Putin in der Ukraine gewinnt, wird das nicht nur den Präsidenten Putin, sondern auch den Präsidenten Xi stärken, wie der japanische Premier sagte: Was heute in der Ukraine passiert, kann morgen in Asien passieren).
Davon will Fischer offenbar nichts hören und nichts wissen! Lieber spricht er von einer „realen (russischen) Bedrohung“ aller „europäischen Staaten“. Was die vermeintliche russische „Bedrohung“ betrifft, so hat Russland kurz nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine alles getan, um den Ukrainekonflikt nicht weiter eskalieren zu lassen. Hätten die Angelsachsen mit dem britischen Ex-Premier Boris Johnson den paraphierten Friedensvertrag zwischen Russland und der Ukraine im April 2022 nicht torpediert, herrschte heute längst Friede auf ukrainischem Boden.
Neuerlich hat Putin weitere Einzelheiten der Friedensverhandlungen im März/April 2022 preisgegeben. Auf der am 5. Juli 2024 stattgefundenen Pressekonferenz nach dem Ende des SOZ-Gipfels in Astana nahm Putin u. a. Stellung zur Frage eines Journalisten, ob es eine bedingungslose Feuerpause noch vor dem Beginn der Friedensverhandlungen geben kann:
„Wissen Sie“ – antwortete Putin darauf ziemlich launig -, „als unsere Streitkräfte vor Kiew standen, erhielten wir ein Angebot, mehr noch: eine dringende Bitte seitens der westlichen Partner das Feuer einzustellen und die militärischen Handlungen zu unterbinden, damit bestimmte Schritte seitens der ukrainischen Seite unternommen werden. Wir taten das auch. Die ukrainische Seite unterbrach indes ihre militärischen Aktionen nicht. Und uns wurde daraufhin gesagt, dass die ukrainischen Machthaber nicht alle ihre militärischen Formationen kontrollieren können, weil sich dort angeblich solche Militärverbände befinden, die sich der Zentralgewalt widersetzen. Genau so wurde es uns mitgeteilt. Nicht mehr und nicht weniger! Das ist das eine.
Zweitens, man hat uns gebeten, zwecks Schaffung der Bedingungen für ein endgültiges Friedenabkommen unsere Streitkräfte von Kiew zu entfernen. Auch das haben wir gemacht. Und erneut wurden wir betrogen. Alle in Istanbul erzielten Vereinbarungen wurden in den Mülleimer geworfen. Und das war nicht zum ersten Mal. Wir können deswegen jetzt nicht einfach eine Feuerpause in der Hoffnung verkünden, dass die Gegenseite irgendwelche Schritte unternimmt. Das ist das eine. Zweitens: Wir dürfen nicht zulassen, dass nach einer Feuerpause diese Feuerpause dafür benutzt wird, sich neu aufzustellen, erneut aufzurüsten und mit Hilfe einer gewaltsamen Mobilisierung weiterhin bereit zu sein, den militärischen Konflikt fortzusetzen. Wir müssen durchsetzen, dass die Gegenseite mit solchen Schritten einverstanden wäre, die unumkehrbar und für die Russländische Föderation vertretbar wären.“6
Schenkt man Putin Glauben, so gibt es gar keinen Grund, ihm zu unterstellen, dass er „den Weltmachtstatus Russlands wieder erringen (möchte)“. Ganz abwegig ist auch Fischers Behauptung, dass „die russische Geschichte“ auf „imperiale Gewalt“ setze und dieser russische „Imperialismus“ angeblich „das große Risiko“ darstellt, „vor dem Europa und die Welt stehen“.
Das Gegenteil ist eher der Fall. Die vorangegangenen Ausführungen über die Folgen der brutalen US-Interventionen und Invasionen haben vielmehr deutlich gemacht, wer das eigentliche Risiko für die Welt ist: die unipolare Weltordnung unter Führung des US-Hegemonen.
Und was den „ersten großen Revisionskrieg“ angeht, so gingen diesem sog. „Revisionskrieg“ in den vergangenen 25 Jahren, wie gesehen, bereits zahlreiche Revisionskriege voraus, die dazu geführt haben, dass neben der UN-Völkerrechtsordnung der Nachkriegszeit die unipolare Weltordnung entstanden ist, die das UN-System in Fragen von Krieg und Frieden de facto „enthauptete“.
Wenn Fischer zudem Putin unterstellt, dass dieser womöglich einen „Nato-Staat angreifen“ könnte, so befindet er sich auch hier auf dem Holzweg. Entweder verkennt Fischer die Natur des Ukrainekonflikts oder kennt dessen Vorgeschichte nicht. Im nuklearen Zeitalter gibt es keine Gewinner, sollte es zum Atomkrieg kommen. Das sollte Fischer doch besser wissen, als seine grüne Nachfolgerin im Amt.
Nein, was Fischers Interview zeigt, ist, dass die Denkstrukturen und Mentalität des „Kalten Krieges“ in den transatlantischen Macht- und Funktionseliten voll intakt sind. Und der Ex-Sponti, Ex-Pazifist, Ex-Vizekanzler und Ex-Außenminister ist dabei nur ein Rädchen in dem anscheinend nie enden wollenden Entmenschlichungsgeschäft des Gegners, der längst zum „absoluten Feind“ (Carl Schmitt) erklärt wurde.
Dieses „Geschäft“ muss freilich nicht von Dauer sein. Und Mephistos Verdikt „Es erben sich Gesetz‘ und Rechte/Wie eine ewige Krankheit fort“ muss auch nicht ewig gelten. Oder doch?
Anmerkungen
1. Silnizki, M., Wer ist schuld an der Fortsetzung des Krieges? Über die Friedensverhandlungen im März/April
2022. 29. August 2023, www.ontopraxiologie.de; ders., Zur Frage der europäischen Glaubwürdigkeit. Von
der Umarmung der US-Geopolitik erdrückt. 28. Dezember 2022, www.ontopraxipologie.de.
2. Vgl. Silnizki, M., Dreißig Jahre Nato-Expansion. Zur Vorgeschichte des Ukrainekonflikts. 4. Oktober 2023,
www.ontopraxiologie.de.
3. Vgl. Silnizki, M., Von der „Mitmacher-Außenpolitik“ zur Kolonialpolitik. Die EU als die willige
Vollstreckerin der US-Ukrainepolitik? 7. Juli 2024, www.ontopraxiologie.de.
4. Zitiert nach „Bilanz des `Anti-Terror-Kriegs`“, german-foreign-policy, 10.09.2021.
5. Davies, Nicolas J. S., Die Blutspur der US-geführten Kriege seit 9/11: Afghanistan, Jemen, Libyen, Irak,
Pakistan, Somalia, Syrien, in: Mies, U. (Hrsg.), Der tiefe Staat schlägt zu. Wie die westliche Welt Krisen
erzeugt und Kriege vorbereitet. Wien 22019, 131-152 (132).
6. Vgl.: „Когда наши войска стояли под Киевом мы получили предложение и даже настойчивую просьбу со стороны западных партнёров прекратить огонь, прекратить боевые действия, для того чтобы были предприняты определённые действия с украинской стороны. И мы это сделали. Украинская сторона не прекратила боевых действий. А потом нам было сказано, что украинские власти не могут контролировать все свои вооруженные формирования, потому что там якобы есть такие которые не подчиняются центральным властям. Вот так нам было сказано.Здесь ничего не прибавил не убавил. Это первое.
Второе, нас просили отвести в цели создания условий окончательного заключения мирного соглашения войска с Киева. Мы сделали это. И опять столкнулись с обманом. Все договоренности, достигнутые в Стамбуле, были выбрашены в помойку. И так было неоднократно. Поэтому просто сейчас взять объявить прекращение огня в надежде что обратная сторона примит какие-то шаги, мы просто не можем. Это первое. Второе. Нам нельзя допустить, чтобы после прекращения огня этим прекращением противник воспользовался для того, чтобы улутчить своё положение довооружится, доукомплектовать с помощью насильственной мобилизации в свою армию и быть готовым к продолжению вооружённого конфликта. Нам нужно добиться того, чтобы противная сторона согласилась принять такие шаги, которые являлись бы необратимыми и приемлимы для Российской Федерации.“