Verlag OntoPrax Berlin

Der „kriegerische Geist“ der europäischen Kultur

Deutschland und Europa im Kriegsmodus

Übersicht

1. Die Absolutierung des eigenen Selbst- und Weltbildes
2. Die „ideologischen Anti-Ideologen“
3. Das Europa der Eurokraten

Anmerkungen

„Der Teufel und nur er allein kann es ex definitionem niemals recht
machen, denn teuflisch ist, was immer er tut.“
(Golo Mann)1

1. Die Absolutierung des eigenen Selbst- und Weltbildes

Ein chinesischer Gelehrter hat einmal gesagt: „Es ist leicht für China, die Zivilisation des Westens zu übernehmen, aber es ist sehr schwer, ihre Barbarei zu meistern.“2 Folgt man dem Kommentar des deutschen Diplomaten, Oskar Paul Trautmann (1877-1950), so verstehen die Chinesen unter „Barbarei“ des Westens „die militärische Seite der europäischen Kultur, ihren kriegerischen Geist.“3

Die fünf Jahrhunderte des europäischen Kolonialismus, das Zeitalter des europäischen Imperialismus, „die Unterwerfung der Welt“ (Wolfgang Reinhard) und nicht zuletzt das menschenverachtende 20. Jahrhundert haben den „kriegerischen Geist“ der europäischen Kultur unter Beweis gestellt.

Worin besteht aber die >Natur< dieses historischen Faktums von wahrlich weltgeschichtlicher Bedeutung? Die Außenpolitik und erst recht die europäische Außenpolitik war und ist nie sentimental und menschenliebend, sondern zumeist kaltblütig, opportunistisch und interessengeleitet. Hinter der europäischen bzw. „westlichen“ Orientierung an den sog. „universellen Menschenrechten“ verbarg sich immer schon eine skrupellose Realpolitik, die sich an realen und nicht an idealen Gegebenheiten orientierte.

Erschwerend kommt hinzu, dass >die< Europäer ihre eigenen Wertvorstellungen – bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt – verabsolutieren und ihr eigenes Selbst- und Weltbild dadurch für „das Maß aller Dinge“ halten, was zwangsläufig zu einer kompromisslosen, unnachgiebigen, ja beinahe fanatisch anmutenden und moralisch überhöhten politischen Einstellung führt.

Eine solche Absolutierung der eigenen Geisteshaltung setzt unweigerlich eine absolut negative Vorstellung des Gegners voraus, der sodann als „absoluter Feind“ wahrgenommen wird. Eine solche Geisteshaltung erleb(t)en wir besonders in den vergangenen drei Jahren in den europäisch-russischen Beziehungen mit ihrem Russlandbild als absolutem Feindbild.

Seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine erfährt dieses Russlandbild in Deutschland und Europa eine regelrechte Renaissance. Wir sind zu den finstersten Zeiten des „Kalten Krieges“ zurückgekehrt. Neuerlich rief die ehem. Mitarbeiterin des Internationalen Stabs der Nato, Stefanie Babst (geb. 1964), zu einem härteren Kurs gegen Moskau auf, um Russland „in die Schranken zu weisen“.

Sie beschimpfte wüst im DLF-Interview am 14. August 2025 Russland als ein „kleptokratisches Mafiaregime“, das in den besetzten Gebieten wie Donbas oder Mariupol eine „unglaublich grausame Besatzung“ ausübt. Sie wusste nicht einmal, dass die Menschen in den erwähnten Gebieten in überwiegender Zahl sog. „ethnische Russen“ sind, die Russland nicht als Besatzer, sondern als Befreier begrüßen.

Babsts wüste Schimpftiraden erinnern uns daran, wie tief die deutsche Machtelite und deren Claqueure in den „deutschen“, genauer transatlantischen „Denkfabriken“ im „Kalten Krieg“ stecken geblieben sind. Sie weigern sich nicht nur zu akzeptieren, dass der Ost-West-Konflikt seit fünfunddreißig Jahren unwiderruflich zu Ende gegangen ist, sondern sind auch nicht in der Lage zu begreifen, dass die von ihnen in den vergangenen dreißig Jahren 1992-2022 geschaffene unipolare Weltordnung gescheitert ist und ebenfalls das Weite sucht, weil sie versagt hat, indem sie statt einer friedlichen Weltordnung eine „Gewaltordnung“ (Karl Otto Hondrich)4 aufgebaut hat.

Bis heute haben sie versäumt, ihre aggressiv-militante Geisteshaltung gegenüber Russland zu überwinden. Solche Claqueure des „Kalten Krieges“ wie Stefanie Babst begreifen immer noch nicht, wie sehr sie vom „kriegerischen Geist“ der europäischen Kultur ergriffen sind, ohne mittlerweile die nötige militärische Stärke dazu zu haben, um diesem „Geist“ gerecht zu werden.

Europas „kriegerischer Geist“ nahm zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Epochen der deutschen und europäischen Geschichte unterschiedliche Formen an. Seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine erscheint er in einer „neuen“ Gestalt. Was zu Zeiten des „Kalten Krieges“ der Antikommunismus war, heißt heute Antirussentum.

Verglich der Berliner CDU-Bundestagsabgeordnete, Ferdinand Friedensburg (1952-1965), 1955 die antikommunistische Stimmung in der jungen Bundesrepublik mit dem „fast mystischen Grauen vor der bolschewistischen Welt“5, so spiegelt dieser Vergleich erneut die in der medialen Öffentlichkeit heute vorherrschende antirussische Atmosphäre wider.

Die antirussischen Ressentiments, die man seit dem Ende des Ost-West-Konflikts eigentlich vergessen glaubte, sind mit ganzer Wucht zurückgekehrt. Das „mystische Grauen“ vor Russland und seiner Führung ist heute nicht mehr aus der medialen Öffentlichkeit wegzudenken. Man könnte dieser Stimmungswandel mit einer Schlagzeile prägnant charakterisieren: Von der Gorbi-Manie zur Putin-Phobie!

Putin wird von den Eurokraten unter Führung der deutschen EU-Kommissionspräsidentin, Ursula von der Leyen, ungeachtet eines radikalen Wandels in der US-amerikanischen Russlandpolitik nach wie vor kriminalisiert, als Paria denunziert und für vogelfrei erklärt.

Der „kriegerische Geist“ der europäischen Kultur will nicht zur Ruhe kommen. Alle Versuche, „Putins Russland“ zu isolieren, aus der Weltgemeinschaft auszustoßen und in der Ukraine militärisch niederzuringen, sind zwar auf der ganzen Linie gescheitert. Europas „kriegerischer Geist“ will aber trotzdem nicht aufgeben. Das Nicht-Aufgeben-Wollen kann es freilich nicht aus eigener Kraft bewerkstelligen.

Zu schwach und zu ohnmächtig, um Russland kraft- und machtvoll etwas entgegenzusetzen, lässt Europa lieber die Ukraine für sich bis zum „letzten Ukrainer“ kämpfen, damit sie die „Drecksarbeit für uns alle“ (Friedrich Merz) mache.

2. Die „ideologischen Anti-Ideologen“

Das Antirussentum kann sich einer Kontinuität anschließen, die älter ist als der „Kalte Krieg“. Und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Antirussentum von heute die Fortsetzung des Antikommunismus von gestern ist und dass der Antikommunismus so, wie wir ihn vor allem und insbesondere in den früheren Jahren der Bundesrepublik bis zu der 68er-Bewegung und Willy Brandts „Ostpolitik“ erlebt haben, die Fortsetzung der Nazipropaganda von vorgestern war.

Noch 1967 wies Klaus Erdmenger darauf hin, dass die „nach 1945 … verbreiteten Informationen über den kommunistischen Terror … der deutschen Öffentlichkeit nur den Wahrheitsgehalt der nationalsozialistischen Propaganda (bestätigten). Die sowjetischen Gräuel hätten gar … Hitlers Prophezeiungen als harmlos erscheinen lassen. Der latent vorhandene Antibolschewismus war nur in einem demokratisch westlichen Sinne umzufunktionieren. Das hatte freilich nicht nur eine moralische Stärkung der westlichen Position im Kalten Krieg zur Folge, sondern signalisierte in der Bundesrepublik auch eine Verengung des historischen Horizonts, mit dem die westlichen Alliierten keineswegs immer einverstanden waren. Der Nationalsozialismus schien partiell rehabilitiert, die übrigen Elemente der deutschen Politik zwischen 1933 und 1945 wurden entweder verdrängt oder teilweise sogar mit dem Hinweis auf die Verbrechen der >Anderen< abgetan. Der Antikommunismus indes blieb intakt und aktuell.“6

Seitdem hat sich an den Techniken und Methoden der Desinformation, Manipulation und neuerdings auch Kriegspropaganda im Wesentlichen nicht viel geändert. An Stelle des Antikommunismus tritt heute das Antirussentum und statt der „sowjetischen Gräuel“ spricht man heute vom russischen Gräuel in der Ukraine. Diese Fokussierung und Verengung des Betrachters allein auf die vermeintlichen „Gräueltaten“ und „Scheußlichkeiten“ der Russen verstellen nicht nur den Blick auf die wahren Ursachen und Hintergründe des Krieges, sondern nutzen auch als Verschleierung und Verdrängung der eigenen Mitverantwortung für den Ukrainekonflikt.

Der Ukrainekrieg hat das latent vorhandene Antirussentum aktiviert und alle antirussischen Ressentiments an die Oberfläche gebracht. Der geo- und sicherheitspolitische Konflikt, der infolge der Nato-Expansionspolitik seit dem Untergang der Sowjetunion schwellt, wird ideologisch überhöht, moralisch verbrämt, und zu einem Kampf zwischen „Demokratie und Autokratie“ gegen den russischen „Neoimperialismus“, „Expansionismus“, „Revisionismus“ und „Totalitarismus“ stilisiert.

Wie zu den alten, „schönen“ Zeiten des „Kalten Krieges“ bezichtigen die Expansionisten, die selber ja in den vergangenen dreißig Jahren um tausende Quadratkilometer gen Osten expandierten, Russland des Expansionismus und die Kämpfer gegen den vermeintlichen russischen „Totalitarismus“ werden in ihrer moralischen Selbstüberhöhung und ihrem absoluten Selbstgeltungsanspruch selbst totalitär und absolutistisch.

Unermüdlich und mantraartig wiederholen sie immer dieselbe angstschürende Behauptung, dass Putin, sollte er die Ukraine besetzen, über kurz oder lang ganz Europa angreifen werde. Dieses Angstschüren wird dadurch nicht wahrer, weil es stets und penetrant wiederholt wird, und ist genauso falsch, wie die ständige Warnung vor der Gefahr der sowjetischen Expansionspolitik zu Zeiten des „Kalten Krieges“.

Bereits kurz nach der Gründung der Bonner Republik beteuerte Adenauer in einem Interview mit Norbert Mühlen, das die New Yorker Wochenschrift The New Leader am 8. Oktober 1951 veröffentlichte: „Wir haben nichts gegen das russische Volk …, wir sind nur gegen seine Machthaber, die den Kommunismus für ihre eigenen expansionistischen und totalitären Absichten mißbrauchen.“7

Der Mythos vom unbegrenzten sowjetischen Expansionismus gehörte nach den Worten von Wilfried Loth „zu den zentralen Mythen des Kalten Krieges, die durch die konkrete sowjetische Westeuropapolitik nicht zu belegen sind.“8

Nicht anders sieht es auch heute mit Putins vermeintlichem „Expansionismus“ aus. Solche Ressentiments, Vorurteile und Unterstellungen zeigen nur, wessen Geistes Kinder diejenigen sind, die in den vergangenen drei Jahrzehnten nichts anderes getan haben, als trotz erbittertem Widerstand Russlands mit ihrer Nato-Infrastruktur gen Osten zu expandieren.

Jetzt vergießen diese Expansionisten Krokodilstränen und empören sich darüber, dass Russland nach einer selbstauferlegten Tatenlosigkeit nunmehr dazu übergegangen ist, sich militärisch gegen eine weitere Nato-Expansionspolitik in der Ukraine zu wehren.

Dieser Expansionsgeist hat handfeste Ursachen und geht auf die Denkvoraussetzungen zurück, die weit in die finstersten, ideologisch umkämpften Zeiten des „Kalten Krieges“ zurückreichen.

„Der Teufel und nur er allein kann es ex definitionem niemals recht machen, denn teuflisch ist, was immer er tut.“ Mit diesem Spruch wollte Golo Mann seinen Zeitgenossen klarmachen, wie abwegig jene Geisteshaltung ist, die die russischen Sicherheitsinteressen aus ideologischer Borniertheit ignoriert und nach dem Motto agiert: Solange der Russe so sei, wie er sei, bleibt uns nichts anderes übrig, als ihm Widerstand zu leisten, ihn zu bekämpfen, und zwar mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln.

„Es ist unsinnig, das russische Sicherheitsbedürfnis durch irgendwelche Pakte oder >Desengagements< befrieden zu wollen, denn es gibt kein solches Bedürfnis,“ behaupteten die Ideologen des „Kalten Krieges“. „Hier ist keine Machtpolitik im alten Sinn, die im alten Sinn Kompromisse zuließe,“ kritisierte Golo Mann 1964 diese Geisteshaltung9, von der die Nato-Expansionisten bis heute ergriffen sind.

Wer ideologisch denkt und handelt, nimmt keine Rücksicht auf die Sicherheitsbedürfnisse der Gegenseite und kennt darum keine Kompromisse; er ist kompromisslos und von der absoluten Wahrhaftigkeit seines Denkens und Handelns überzeugt. Diese Kreuzritter unserer Zeit verwechseln Ideologie mit Geopolitik, Axiologie mit Sicherheitspolitik und glauben die Komplexität und Wirrsal der Ursachen und Motive monokausal zu entwirren.

Sie sind gefährliche Zeitgenossen, die einfache Lösungen parat haben, die russisch-europäische Geschichte simplifizieren und sich über die neuentstandenen geo- und sicherheitspolitischen Realitäten verkennend und ignorierend hinwegsetzen. Es war unmöglich, ja völlig absurd daran zu glauben, dass Russland, sobald es die Schmach der 1990er-Jahre überwindet und militärisch wiedererstarkt, so einfach zur Tagesordnung übergehen und zusehen wird, wie die Nato ungebremst weiterhin Richtung Osten expandiert.

Russland kann es sich nicht leisten, sich wie 1941 erneut überraschen zu lassen. „Russland sollte den Krieg“, schreibt Golo Mann erhellend, „begonnen von einem Gegner, in dessen Seele es nicht blicken kann, so wenig wir in die Seele der Russen blicken können, und dessen militärische Repräsentanten nur zu gern bramarbasieren, nicht auch fürchten, für den Ernstfall sich nicht bessere Ausgangsstellungen sichern wollen, als jene waren, die es 1941 besaß? – Man muss ein stark ideologischer Anti-Ideologe sein, um solche Fragen glatt zu verneinen.“10

Auch heute bramarbasieren die EU-Machteliten selbstüberschätzend allzu gern, um Russland zu provozieren und machen uns vor, Anti-Ideologen zu sein, obschon sie, wie nie zuvor, zu tiefst ideologisiert und indoktriniert sind.

3. Das Europa der Eurokraten

„Für die Zeit um den Ersten Weltkrieg habe die „russische Gefahr“ geradezu die >raison d’être< für die deutsche Macht abgegeben, schreibt Ludwig Dehio. Sie habe den fehlenden Sendungsgedanken ersetzt.“11

Das Nazideutschland fand sodann seine „raison d’être“ im Kampf gegen die „judo-bolschewistische Gefahr“ und die Bonner Republik sah schließlich in ihrem Abwehrkampf gegen die „sowjetische Bedrohung“ ihre Selbstlegitimation.

Und heute? Heute fühlen sich Deutschland und Europa von Russland – „Putins Russland“ – im Ukrainekonflikt in ihrer ganzen Existenz bedroht und das Europa der Eurokraten hat endlich den fehlenden und lange gesuchten Sendungsgedanken gefunden: einen erneuten und nie enden wollenden Kampf gegen die „russische Gefahr“.

Europa dreht sich in seiner Beziehung zu Russland wie seit eh und je im Kreis und findet keinen Ausweg. Denn der Kreis kennt weder Anfang noch Ende, sondern eine ewige Bewegung im immerwährenden Kreislauf der Zeit. Wie es aus diesem Teufelskreis herauskommt, weiß es nicht, es sei denn, es aktiviert seinen „kriegerischen Geist“ und stürzt sich in einen neun großen europäischen Krieg.

Die Ukraine solle den Krieg gewinnen, hört man seit dreieinhalb Jahren mantraartig ein und dieselbe europäische Beschwörungsformel. Wie soll dieser aber gewonnen werden? Die Eurokraten haben dazu nicht einmal annährend die militärische Stärke, um der Ukraine helfen zu können, den Krieg zu gewinnen. Nicht desto weniger reden sie unentwegt davon, „aus der Position der Stärke“ mit Russland verhandeln zu wollen.

Immer wieder wird die verstaubte „Politik der Stärke“ aus der Mottenkiste des „Kalten Krieges“ herausgeholt und in ein inhaltsleeres Schlagwort „aus der Position der Stärke“ umfunktioniert. „>Politik der Stärke< kann weder die deutsche Sowjetzone noch Osteuropa befreien. Sie hat es bisher nicht gekonnt; sie wird es auch weiterhin nicht können…. Durch >Entspannung< ist der Status quo in Europa und ist er sogar in Deutschland zu verändern,“ schreibt Golo Mann 1964 weitsichtig12. Von Willy Brandts „Entspannungspolitik“ war zur Zeit noch keine Rede.13

Die EU-Machteliten möchten freilich davon heute nichts wissen. Wie könnte es auch anders sein?! Die Eurokraten sind in ihrem Eurozentrismus derart fern vom geopolitischen Denken, dass sie den (geopolitischen) Wald vor lauter (europäischen) Bäumen nicht sehen können.

Zwar sprach von der Leyen bereits am 12. November 2019 in ihrer Rede beim Paris Peace Forum von einer „wahrhaft geopolitischen EU-Kommission“ (truly geopolitical commission), bis heute blieb aber diese Ankündigung folgenlos. Zu provinziell agieren die EU-Machteliten und denken nicht über einen europäischen Tellerrand hinaus.

Ihnen fehlt einerseits der geopolitische Weitblick, weil sie viel zu sehr im innereuropäischen Klein-Klein verstrickt sind. Deswegen ist für sie die Ukraine von solch eminent wichtiger Bedeutung. Mit Sieg oder Niederlage der Ukraine entscheidet sich für sie, glauben sie, ob sie wenigstens in ihrem Hinterhof noch etwas zu sagen haben, was für die geopolitische Machtstellung Europas von Bedeutung wäre.

Sie laufen andererseits, machtlos, wie sie sind, Gefahr zwischen Putins Russland und Trumps Amerika zerrieben zu werden. Deswegen kämpfen sie so verbissen um die Ukraine, weil diese ihnen eine Chance lasse, wenigstens irgendeine geopolitische Rolle spielen zu können. Sie werden aber nicht umhinkommen zu akzeptieren, dass sie zu ohnmächtig sind, geopolitisch und mittlerweile auch geoökonomisch irgendetwas ausrichten zu können.

Von daher haben sie gleichermaßen viel Groll sowohl gegen Putin als auch gegen Trump, weil der eine ihnen in der Ukraine ihre letzte Bastion der Macht streitig macht und der andere sie im Kampf um die Ukraine als Bündnispartner in Stich lässt.

Warum soll Trump aber den Europäern die Kastanien aus dem Feuer holen? Sollen sie das doch selber tun, wenn sie von ihrem „kriegerischen Geist“ nicht loslassen wollen. Ein geoökonomischer Wettbewerber weniger, denkt sich Trump, zumal die sicherheitspolitische Bedeutung Europas für die USA allmählich und unaufhaltsam immer mehr am Wert verliert. Die globale Machtverschiebung verlagert sich nämlich von Europa nach Asien, vom Atlantik zum Pazifik und fordert seinen Tribut.

Und warum soll Putin den Europäern nicht eine Lehre erteilen, denkt sich Putin, nachdem Europa Russland drei Jahrzehnte lang mit ihrer rücksichtslosen Expansionspolitik vor dem Kopf gestoßen hat? Europa in die Schranken zu weisen, darin sind sich Putin und Trump offenbar einig und die Eurokraten können den beiden mächtigen Leviathans weder militärisch noch technologisch oder ökonomisch irgendetwas entgegensetzen.

Du >armes Europa< voller Selbstmitleid, Selbstüberschätzung und Selbstüberhöhung! Es kann alles, nur nicht Demut! Vorbei sind die Zeiten, als Winston S. Churchill hochmütig ankündigen konnte:

In War: Resolution,
In Defeat: Defiance,
In Victory: Magnanimity
In Peace: Good Will.”

Weder „Entschlossenheit“ (im Krieg) noch „Großmut“ (im Sieg), noch „guten Willen“ (im Frieden) hat das Europa der Eurokraten parat. Allein „Trotz“ (in der Niederlage) und ein ohnmächtiges Grauen vor all jenen, die ihnen ihren „kriegerischen Geist“ nicht ausleben lassen, sind ihnen noch übriggeblieben.

Anmerkungen

1. Mann, G., Was der Westen kann, in: Neue Rundschau 75 (1965), 592-610 (598).
2. Trautmann, O. P., Die Sängerbrücke. Gedanken zur russischen Außenpolitik von 1870-1914. Stuttgart 1941,
133.
3. Trautmann (wie Anm. 2), 133.
4. Vgl. Silnizki, M., Im Würgegriff der Gewalt. Wider Apologie der „Weltgewaltordnung“. 30. März 2022,
www.ontopraxiologie.de.
5. Zitiert nach Klaus Erdmenger, Das folgenschwere Missverständnis. Bonn und die sowjetische
Deutschlandpolitik 1949-1955. Freiburg 1967, 100.
6. Erdmenger (wie Anm. 5), 107 f.
7. Zitiert nach Boris Shub, Der Westen und die Zukunft Russlands, in: Der Monat, 4. Jg., H. 39, Dezember
1951, 255-258 (256, FN 1).
8. Loth, W., Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941-1955. München 1980, 63 FN 16.
9. Mann (wie Anm. 1), 599 f.
10. Mann (wie Anm. 1), 600.
11. Zitiert nach Erdmenger (wie Anm. 5), 118.
12. Mann (wie Anm. 1), 608, 610.
13. Freilich hat der Vordenker der „Entspannungspolitik“, Egon Bahr, das dieser Politik zugrunde liegende
Konzept „Wandel durch Annäherung“ bereits 1963 formuliert.

Nach oben scrollen