Verlag OntoPrax Berlin

Der Kanzler in spe auf Abwegen

Im Lichte der Geschichte und Außenpolitik

Übersicht

1. Geschichtsvergessen, pietät- und verantwortungslos?
2. Die historische Verklärung Europas

Anmerkungen

„Männer sind es, welche die Geschichte machen.“
(Heinrich von Treitschke)

1. Geschichtsvergessen, pietät- und verantwortungslos?

Am 14. April 2025 hat der Kanzler in spe, Friedrich Merz, dem Handelsblatt ein Interview gegeben und in Russland einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Insbesondere eine Interview-Äußerung hat die russischen Medien empört. Darin beteuerte Merz,

dass das „russische Volk … in seiner ganzen Geschichte unglaublich leidensfähig gewesen (ist). Der rücksichtslose Verschleiß von Menschen ist immer auch Teil der russischen Politik gewesen. Insofern sollten wir nicht zu sehr darauf hoffen, dass sich der Krieg irgendwann von allein löst, weil das Land ausgeblutet ist oder es zu politischen Reaktionen gegen das Regime kommt.“

Welcher Teufel ihn geritten hat, sich zu dieser Entgleisung hinreißen zu lassen, bleibt sein Geheimnis. Dass Merz sich dessen gar nicht bewusst war, was er da sagt, ist offenkündig. Offenbar glaubte er sich in der Öffentlichkeit eines Klischees bedienen zu müssen, ohne an die Folgewirkung seiner Wortwahl zu denken. Nahm er womöglich die grüne Bundesaußenministerin als Vorbild, die bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit kein Blatt vor dem Mund nimmt?

Dass der Kanzler in spe die Äußerung am Vorabend des 80-jährigen Wiederkehrs des Endes des Zweiten Weltkrieges gemacht hat, macht die Sache noch prekärer und zeigt, wie geschichtsvergessen, geschmack- und pietätlos einer ist, der bald Bundeskanzler werden sollte.

So etwas konnte seinem christdemokratischen Amtsvorgänger – dem „Kanzler der Einheit“ und gelehrten Historiker, Helmut Kohl – nie passieren. Hat Merz, der ja kurz nach dem Kriegsende 1955 geboren wurde, die eigene deutsche Geschichte vergessen?

Hat Merz, der ja die Hälfte seines Lebens im „Kalten Krieg“ gelebt hat, die beinahe täglich geführte Diskussion über „Kollektivschuld“ oder „Kollektivscham“ der Deutschen auch vergessen? Oder will er heute nicht einmal vom „Kollektivscham“ der Deutschen etwas wissen?

In Zeiten des von interessierten Kreisen geschürten Russenhasses in Deutschland und Europa will er davon nichts mehr hören? Oder meint er mit dem „rücksichtslosen Verschleiß von Menschen“ als „Teil der russischen Politik“ auch jene 27 Millionen Sowjetbürger, die im Krieg gegen das Nazi-Deutschland ihr Leben verloren haben?

Dachte Merz dabei – falls er überhaupt an etwas gedacht hat – womöglich an Stalins Terror, den Alexander Solschenizyn in seinem zuerst am 28. Dezember 1973 in Frankreich veröffentlichten Werk „Der Archipel Gulag“ beschrieben hat?

Laut dem Historiker Viktor N. Zemskov (1946-2015) machen die 681.000 bis 692.000 aus politischen Gründen hingerichteten Sowjetmenschen 85 Prozent der „Gulag“-Opfer aus, wobei sich die Gesamtopferzahl während der „Stalin-Zeit“ (1921-1953) auf schätzungsweise 799.455 Menschen beläuft.

Diese „Gulag“-Opfer stehen aber in keinem Verhältnis zu den 27 Millionen Kriegsopfer, die das Sowjetvolk im Zweiten Weltkrieg erlitten hat. Und sind die „Gulag“-Opfer nicht vergleichbar mit den Opfern des Nazi-Terrors in Deutschland in den Jahren 1933-1939, sodass man auch von dem „rücksichtslose Verschleiß von Menschen“ als Teil der deutschen Politik sprechen könnte? Oder etwa nicht?

Man denkt dabei gleich an den evangelischen Pfarrer, Martin Niemöller (1892-1984), deren berühmt gewordene Verse selbstbezichtigend und selbstentlarvend zugleich waren:

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschaftler.
Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

Ist dieser Nazi-Terror auch ein Beweis für den „rücksichtslosen Verschleiß von Menschen“ als Teil der deutschen Politik?

Ob Merz auch weiß, welche kolossale Sachschäden das Sowjetvolk im Zweiten Weltkrieg erlitten hat und die dazu geführt haben, dass „das Land ausgeblutet ist“?

Die kolossalen Zerstörungen des Sowjetrusslands waren gigantisch: „1.710 Städte wurden vernichtet, mehr als 70.000 Dörfer, 70.000 Kilometer des Eisenbahnnetzes, 4.100 Eisenbahnstationen, 427 Museen (von insgesamt 992), 40.000 Krankenhäuser, 43.000 Bibliotheken, 44.000 Theater, Klubs und Kulturräume, 84.000 Schulen und Forschungsinstitute; zusammen wurden 6 Millionen Gebäude verbrannt oder zerstört und 25 Millionen obdachlos.“1

Der Zweite Weltkrieg hat Sowjetrussland in die Steinzeit zurückgebombt. Weiß Merz nichts davon oder hat er alles vergessen? Es sieht danach aus! Und wie sieht es heute mit dem „rücksichtslosen Verschleiß von Menschen“ im Ukrainekrieg aus? Kennt Merz überhaupt die Opferzahlen dieses grausamen Krieges? Weiß er, wie viel Kriegsopfer Russland und die Ukraine zu beklagen haben und in welchem Verhältnis sie zueinanderstehen? Nein?

Der russische Generalstabchef, Walerij Gerassimow, hat bei seinem Treffen mit Putin am 12. März 2025 in der Grenzregion Kursk die Opferzahl des ukrainischen Militärs seit dem Beginn der ukrainischen Invasion in Kursk im August 2024 genannt: 67.000 Tote.

Die Ukraine hat nach einer Schätzung von US-Militärexperten in den vergangenen drei Kriegsjahren ca. 1. bis 1.2 Millionen tote und verwundete ukrainische Militärangehörige zu beklagen, wohingegen Russland nach den BBC und Mediazona-Daten (https://www.bbc.com/russian/articles/c93lklg89e8o) „nur“ 90.019 Tote (manche Schätzungen sprechen von bis zu 120.000) an Verlusten erlitten haben.2

Bereits im Juli 2023 berichtete das Magazin Military Watch (kein Organ der russischen Kriegspropaganda), dass „die Lebenserwartung der ukrainischen Soldaten an manchen Frontabschnitten nur vier Stunden beträgt, vor allem in Bachmut, wo die Bedingungen für ukrainische Einheiten oft als >Fleischwolf< bezeichnet werden.“3 Das ist wohl auch einer der Gründe, warum der Ukraine heute Soldaten fehlen.

Was nun? Bedeutet dieser „rücksichtslose Verschleiß von Menschen“ „immer auch Teil“ der ukrainischen Politik? Oder ist vielleicht diese sündhaft große Opferzahl auch die Folgewirkung der Beteiligung des „Westens“ am Kriegsgeschehen, der mit hunderten Dollarmilliarden und tonnenweiser Lieferung an Kriegsmaterial dieses furchtbare Gemetzel nach wie vor finanziert und befeuert?

Beschwört Merz als Kanzler in spe mit seiner verantwortungslosen Befürwortung von Lieferungen der Taurus-Marschflugkörper nicht die Gefahr eines Flächenbrandes in Europa herauf? Nein?

Bereits im Oktober 2024 fiel er als außenpolitischer Draufgänger auf. In einer Bundestagsdebatte vom 16. Oktober 2024 hat Merz eine „donnernde Rede“ gehalten und Putin theatral allen Ernstes ein Ultimatum gestellt und ihn aufgefordert: Wenn dieser nicht innerhalb von 24 Stunden aufhöre, die Zivilbevölkerung in der Ukraine zu bombardieren, „dann müssen aus der Bundesrepublik Deutschland auch Taurus-Marschflugkörper geliefert werden“, um die Nachschubwege des Regimes zu zerstören.

Ein militärischer Zwerg Deutschland stellt der nuklearen Supermacht Russland ein Ultimatum? Ist Merz von allen guten Geistern verlassen? Ob Merz überhaupt verstanden hat, was er da gefordert und wie sehr er Deutschlands Sicherheit mit seinem verantwortungslosen Gerede gefährdet hat?

Wusste er überhaupt, dass die gelieferten Taurus-Marschflugkörper allein und ausschließlich von deutschen Militärangehörigen bedient werden können und Deutschland damit direkt und unmittelbar zur Kriegspartei wird?

Wenn ja, dann nimmt er einen großen europäischen Krieg billigend in Kauf und gefährdet dadurch die Existenz der Bundesrepublik Deutschland.

Da er bis heute auf Taurus-Lieferungen beharrt, weiß er offenbar immer noch nicht, dass Russland als Reaktion darauf in der Lage wäre, Deutschland in wenigen Stunden in Schutt und Asche zu legen. Und dieser außen- und sicherheitspolitische Amateur möchte Bundeskanzler werden!?

Mag sein, dass Merz als Bundeskanzler von seinen Sicherheits- und Militärexperten besser aufgeklärt wird, seinen deplatzierten Populismus zu unterlassen und mit seinen „flotten“ Sprüchen umsichtiger umzugehen.

Mag sein, dass er als Bundeskanzler sein „Ultimatum“ „anders“ sehen würde, wenn man ihn über die sicherheitspolitischen Folgen für Deutschland und Europa besser aufklären wird.

Seine außen- und sicherheitspolitische Kompetenz hat er aber schon jetzt verspielt und auf dem Altar des außenpolitischen Dilettantismus geopfert. Merz mangelt es offenbar nicht nur an der Größe des „Kanzlers der Einheit“, sondern auch an dessen historischer Kompetenz und nötiger Sensibilität für die Bedeutung der Geschichte in der Außenpolitik.

Die Reaktion der russischen Führung ließ im Übrigen nicht lange auf sich warten. Der ehem. russische Präsident, Dmitrij Medwedew, war nicht zimperlich, als er Merz am 15. April mit den Worten drohte: „Кандидата в канцлеры Фрица Мерца преследует память о своем отце, который служил в Вермахте Гитлера. Теперь Мерц предложил нанести удар по Крымскому мосту. Подумай дважды, нацист!“ (Kanzlerkandidat Fritz Merz wird von der Erinnerung an seinen Vater heimgesucht, der in Hitlers Wehrmacht diente. Nun hat Merz vorgeschlagen, die Krim-Brücke anzugreifen. Überleg es dir zweimal, Nazi!).

2. Die historische Verklärung Europas

Um Merz´ Entgleisung im historischen Kontext richtig einordnen zu können, muss man die verdrängte Seite der europäischen Geschichte kurz Revue passieren lassen. Während Heinrich August Winkler die „Geschichte des Westens“ (2009) glorifizierte und dem „Westen“ einen Persilschein ausstellte, schreibt Hauke Brunkhorst fünf Jahre später in seinem ungewöhnlichen Werk „Das doppelte Gesicht Europas“ (2014) gleich im ersten Satz: „Je länger man Europa vernünftig anschaut, desto unvernünftiger schaut es zurück.“4

Und er präzisierte seine Äußerung mit den Worten: Die „Geschichte der Europäischen Union“ stelle sich dar „als Verdrängung und Wiederkehr des Verdrängten … Verdrängt wurde der emanzipatorische Anfang ebenso wie die koloniale Vergangenheit und Gegenwart des Kontinents.“5

„Schon bald nach 1945“, schreibt Brunkhorst an einer anderen Stelle,

„trat die Kontingenzformel von >Aussöhnung und Frieden< zwischen vormals verfeindeten Nationen an die Stelle der >Befreiung vom Faschismus< … Das kam der Wiederherstellung nationalstaatlicher Normalität überall in Europa ebenso entgegen wie der neuen, antikommunistischen Frontstellung des Kalten Kriegs und den dazu passenden, revisionistischen Absichten der geschlagenen Faschisten. Damit wurde das vergangenheitspolitische Programm des letzten Wehrmachtsberichts vom 9. Mai 1945 nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa wirksam. Dieses perfide Dokument, mit dem das Großdeutsche Reich sich aus der Geschichte verabschiedete, war ein letzter Versuch, die völkerrechtliche Friedensoption mit dem Westen offenzulegen, indem es Genozid, Massenmord und Vernichtungskrieg in ein >sechsjähriges< >ehrenvolles< und >heldenhaftes Ringen< der >deutschen Wehrmacht< und den imperialen Angriffskrieg in eine gewaltige Abwehrschlacht der westlichen Zivilisation gegen die bolschewistisch-slawische Barbarei umdeutete. So konnte der Wehrmachtbericht im buchstäblich letzten Satz des Naziregimes imaginieren, dem Westen das >vorgeschobene Bollwerk< anzudienen, das noch am letzten Kriegstag >in Kurland< dem Ansturm der Barbaren aus dem Osten widerstand.“6

In dieser verklärten und verstellten Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung der EU-Europäer, die die europäische Geschichte des Kolonialismus, Rassismus und der Vernichtung des „lebensunwerten Lebens“ verdrängten, das andere, zweite „Gesicht“ Europas camouflierten und die westliche Zivilisation als Bollwerk „gegen die bolschewistisch-slawische Barbarei“ überhöhten, befindet sich immer noch unser Kanzler in spe, Friedrich Merz und nicht nur er allein.

Merz kennt offenbar das „doppelte Gesicht Europas“ – das andere „Gesicht“ des „Westens“ – nicht, sonst würde er nicht unbedacht und leichtfertig vom „rücksichtslosen Verschleiß von Menschen“ als „Teil der russischen Politik“ reden.

Und man muss dabei nicht ständig nur die Nazi-Zeit in Erinnerung rufen. Man denkt beispielsweise an den Zweiten Burenkrieg (Second Anglo Boer War) von 1899 bis 1902, in dem zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die Konzentrationslager geschaffen wurden.

Die Briten waren diejenigen, die zuerst diese menschenverachtende Einrichtung ins Leben gerufen haben. Es war für die Briten ein äußerst verlustreicher Guerillakrieg. Das Blatt wendete sich für sie erst, als Feldmarschall Lord Roberts und dessen Stabschef General Lord Kitchener das Kommando am 10. Januar 1900 übernahmen und 60.000 Mann Verstärkung in Südafrika eintrafen.

Roberts versuchte mit einer Strategie von „Zuckerbrot und Peitsche“ den Krieg zu beenden, ließ u. a. die Farmen von Buren, die den Krieg fortsetzten, niederbrennen und weitete dies schließlich zu einer Politik der kollektiven Bestrafung aus, was sich als fatal erwies.

Die Buren spornte diese Brutalität nur noch zu verstärktem Widerstand bis zum bitteren Ende an. Im Dezember 1900 kehrte Roberts nach England zurück und überließ Kitchener den Oberbefehl. Die Buren

änderten ihrerseits die Taktik, gingen zum Guerillakrieg über und kämpften noch volle zwei Jahre lang weiter.

Kitchener wandte daraufhin eine Strategie der „verbrannten Erde“ an: Die Farmen in den Guerillagebieten wurden zerstört und die Ernten vernichtet, um den Gegner auszuhungern. Rund 120.000 Farmbewohner, vor allem Frauen und Kinder, wurden in Konzentrationslagern interniert.

Davon starben über 26.000 aufgrund katastrophaler Lebensbedingungen an Hunger und Krankheiten. Wie man sieht, die Konzentrationslager waren weder Stalins noch Hitlers Erfindung, sondern die der britischen „Gentlemans“, die beispielsweise auch in Indien Kriegsverbrechen und Gräueltaten verübten.

Während des Indischen Aufstandes belagerten Rebellen 1857 die britische Garnison von Kanpur (Stadt im Bundesstaat Uttar Pradesh). Obwohl ein freier Abzug vereinbart wurde, wurden die Männer getötet, Frauen und Kinder massakriert. Die Rache war fürchterlich.

„Die besondere Schwere des Massakers von Cawnpore (Kanpur) bestand darin, dass es von einem unterworfenen Volk begangen wurde – von dunkelhäutigen Männern, die es wagten, das Blut ihrer Herren und das hilfloser Damen und Kinder zu vergießen“, erklärte der berühmte britische Kriegsberichterstatter William Howard Russell das „herausragende Verbrechen“, das sich im Sommer 1857 auf dem Höhepunkt des Indischen Aufstandes ereignete.7

Wenn Inder seitdem gegen die Briten demonstrierten, wurde gnadenlose Gewalt angewandt, um die Proteste niederzuschlagen. Das berüchtigtste Beispiel dafür ist das „Massaker von Amritsar“, in dem 1919 bis zu 1.500 unschuldige Menschen ermordet wurden.

Ein anderer Aufstand, der im August 1942 begann, war die schwerste Bedrohung für das British Empire seit 1857. Bis zu 100 Armee-Bataillone waren nötig, um den Aufstand mit roher Gewalt niederzuschlagen. Folter, Vergewaltigung und Massenstrafen standen allesamt auf der Tagesordnung.

Offizielle Statistiken verzeichneten 91.836 Verhaftungen und 1.060 Tote. 208 Polizeistationen, 332 Bahnhöfe und 945 Postämter (allesamt Symbole kolonialer Macht) wurden entweder vollkommen zerstört oder schwer beschädigt. 216 Polizeibeamte liefen über.

Das Allerschlimmste war die Hungersnot in Bengalen (ein indischer Bundesstaat im Nordosten des Landes) 1943. Sie kostete drei Millionen Menschen das Leben, da das Kriegskabinett in London sich geweigert hatte, Nahrungsmittelhilfe zu schicken.

Oder nehmen wir ein ganz anderes Beispiel: Als Kongogräuel werden die mit systematischer Grausamkeit betriebene Ausplünderung und Ausbeutung des sogenannten Kongo-Freistaats bezeichnet, der zwischen 1885 und 1908 eine Privatkolonie des belgischen Königs Leopold II. war.

Die Bevölkerungszahl der belgischen Kongokolonie halbierte sich möglicherweise. Schätzungen schwanken zwischen 1,5 und 13 Millionen Opfern.8 Matthew White verzeichnet auf Death Tolls (Statistiken zu Opferzahlen) im Abschnitt Congo Free State (1886–1908) verschiedene Schätzungen, deren Durchschnittswert bei 8 Millionen liegt.9

Im Vergleich mit diesen Opferzahlen erscheint Stalins „Gulag“ geradezu als eine „Lappalie“. Die für die ganze Menschheit „heilsbringende“ „Geschichte des Westens“ ist voll von Gräueltaten, Kriegsverbrechen und der Vernichtung des „lebensunwerten Lebens“.

1796 publizierte der schottische Offizier John Gabriel Stedman ein umfangreiches Buch, das die Schrecken der Sklaverei in schauerlichen Details ausmalte. Heinrich von Kleist war ein Leser solcher Schriften.

„1811 ließ er seine Erzählung Die Verlobung in Santo Domingo inmitten des großen Sklavenaufstandes in der französischen Kolonie Saint-Domingue aufführen. Dieser hatte zwischen 1791 und 1803 achtzigtausend Europäer und eine weitaus höhere Zahl von Schwarzen das Leben gekostet und 1804 zur Gründung des ersten postkolonialen Farbigen-Staates der Welt, der Republik Haiti, geführt.“10

Der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka erinnerte an „eine bis heute ungesühnte Vergangenheit“ und beklagte „das Scheitern des europäischen Humanismus schon Jahrhunderte vor dem Holocaust“.11

Dieses zweite, inhumane „Gesicht“ Europas haben die EU-Europäer verdrängt und vergessen lassen. Sie haben sich vielmehr angewöhnt, die ganze Welt über die Humanität, Menschenrechte und den Rechtsstaat zu belehren, statt wie in der katholischen Kirche zu Beginn der heiligen Messe und der Komplet, des kirchlichen Nachtgebets, Mea culpa zu sprechen:

„Confiteor … quia peccavi nimis cogitatione, verbo, opere et omissione:
mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa …“
(Ich bekenne …, dass ich Gutes unterlassen und Böses getan habe; ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken: durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld …).

Wer wie Friedrich Merz als Deutscher, Europäer und erst recht als Kanzler in spe außenpolitische Verantwortung trägt, sollte nicht, wie die grüne Außenministerin, die Welt belehren, sondern vor dem Hintergrund der kurz skizzierten deutschen und europäischen Geschichte des Kolonialismus, Rassismus, der Sklaverei und der Menschheitsverbrechen mehr Demut walten lassen.

Anmerkungen

1. Zitiert nach Karlheinz Deschner, Der Moloch. „Sprecht sanft und tragt immer einen Knüppel bei euch!“. Zur
Amerikanisierung der Welt. Stuttgart und Wien 1992, 283.
2. Näheres dazu Silnizki, Kriegspartei versus Friedenspartei. Wer obsiegt in diesem Schaukampf? 16. März
2025, www.ontopraxiologie.de.
3. Vgl. Silnizki, M., „Der Tod ist (k)ein Meister aus Deutschland“ (mehr)? Deutschland im Ukrainekrieg.
15. Februar 2025, www.ontopraxiologie.de.
4. Brunkhorst, H., Das doppelte Gesicht Europas. Zwischen Kapitalismus und Demokratie. Berlin 2014, 7.
5. Brunkhorst (wie Anm. 4), 7.
6. Brunkhorst (wie Anm. 4), 27 f.
7. Zitiert nach Berthold Seewald, In den Schuhen steckten noch die abgehackten Füße der Kinder. Die Welt, 17.
Januar 2022.
8. Vgl. David Renton/ David Seddon/ Leo Zeili, The Congo: Plunder and Resistance. London 2007, 37; Adam
Hochschild, King Leopold’s Ghost: A Story of Greed, Terror, and Heroism in Colonial Africa. 2006, 225-233.
9. Vgl. Dieter H. Kollmer: Die belgische Kolonialherrschaft 1908 bis 1960, in: Bernhard Chiari/Dieter H.
Kollmer (Hrsg.): Wegweiser zur Geschichte Demokratische Republik Kongo, Paderborn u. a. 22006, 45.
10. Osterhammel, J., Sklaverei und die Zivilisation des Westens. München 2000, 7.
11. Zitiert nach Osterhammel (wie Anm. 10), 12.

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