Verlag OntoPrax Berlin

„Der aggressive Russe“

Die ewige Wiederkehr des Gleichen

Übersicht

1. Die „Estnisierung“ der EU-Außenpolitik?
2. >Der< Russe als hasserfüllte Projektionsfläche

Anmerkungen

„Gegenüber dem Bolschewismus sei aber etwas aufgewachsen, dass an die
mystischen Tiefen menschlichen Empfindens … rührt und das als ein
großes Grauen jegliche Verständigung unmöglich zu machen droht.“1

1. Die „Estnisierung“ der EU-Außenpolitik?

Der bekannte britische Journalist und Buchautor, Gideon Rachman, der stets gegen alle „Autokraten“ dieser Welt wie „Xi, Putin, Trump, und Co.“ poltert2, berichtete neulich in einem Beitrag „Putin is playing a dangerous game with Nato“ (Putin spielt ein gefährliches Spiel mit der Nato) für die Financial Times vom 22. September 2025 über das Missbehagen der Trump-Administration über die europäischen Nato-Verbündeten und insbesondere über die Balten.

„Unter der Oberfläche herrschen echte Spannungen zwischen der Trump-Administration und ihren baltischen Verbündeten. In Washington habe ich Klagen über eine >Estnisierung< der europäischen Außenpolitik (>Estonianisation< of European foreign policy) gehört – ein Hinweis darauf, dass Kaja Kallas (EU-Außenbeauftragte) Estlands ehem. Premierministerin ist. Teile der Trump-Administration sehen die Balten in ihrer Haltung gegenüber Putin als gefährlich aggressiv an. Bei einem hochrangigen Treffen im Pentagon wurden baltische Vertreter kürzlich beschuldigt, in ihrer Opposition gegen Russland >ideologisch< zu sein.

Das Misstrauen zwischen den Balten und den USA beruht auf Gegenseitigkeit. … Sie (Balten) gehen nicht davon aus, dass Trumps Amerika auf ihrer Seite steht. Die größten europäischen Länder beharren zwar … auf der Notwendigkeit, der russischen Aggression entgegenzutreten, … sind aber sehr nervös angesichts der Vorstellung, Russland ohne die USA an ihrer Seite zu bekämpfen. … Wie die Nato muss freilich auch Russland mit Unsicherheiten umgehen. Trump ist so unberechenbar, dass seine Reaktionen in einer internationalen Krise unvorhersehbar sind. … Selbst wenn Amerika in einer Krise im Baltikum untätig bliebe, hätten Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Kanada Truppen dort stationiert, die zum Kampf bereit seien.

Polen und Finnland … wissen, dass ihre eigene Sicherheit eng mit dem Schicksal Estlands, Lettlands und Litauens verknüpft ist. Auch sie würden die baltischen Staaten wahrscheinlich verteidigen. Es wäre ein leichtsinniges Wagnis für Putin, den Willen der Nato-Staaten zur Verteidigung der Ostgrenze des Bündnisses auf die Probe zu stellen. Wie die Welt jedoch beim Vormarsch russischer Truppen auf Kiew im Jahr 2022 feststellen musste, ist Putin zu solchen leichtsinnigen Wagnissen durchaus fähig.“

Sieht man von einer völlig abwegigen Unterstellung, Putin könne aus Leichtsinn Estlands, Lettlands und Litauens überfallen, und einem unzulässigen Vergleich mit der Invasion in die Ukraine ab, so ist die zitierte lange Passage des Berichts durchaus bemerkenswert.

Sie weist ungeschönt und mit aller Deutlichkeit auf ein tiefes Zerwürfnis und spannungsgeladenes Verhältnis zwischen Trumps Amerika und den EU-Bündnispartnern hin, die sich immer mehr eine „ideologisch“ geladene, „gefährlich aggressive“ antirussische Haltung der Balten zu eigen machen, die Rachman eine „>Estnisierung< der europäischen Außenpolitik“ (>Estonianisation< of European foreign policy) nennt.

Die Vermutung liegt nahe, dass eine solche aggressive Haltung gegenüber Russland die Trump-Administration nervös macht. Trumps erklärtes Ziel, sich aus dem Ukrainekrieg so viel, wie es nur geht, herauszuhalten, wird gezielt durch die aggressive antirussische Haltung der Balten und der anderen EU-Bündnispartnern torpediert.

Das Allerletzte, was Trump will, ist im Falle des Falles Farbe zu bekennen und seine Bündnistreue auf die Probe zu stellen. Aber genau in diese gefährliche Lage versuchen die europäischen Kriegsfalken, die auf keinem Falle das Kriegsbeil begraben wollen, ihn reinzuziehen. Trump ist es bis jetzt gelungen, sich nicht reinziehen zu lassen, auch wenn sich die EU-Europäer redlich darum bemühen.

Wer aber glaubt, dass die Spaltung innerhalb des Nato-Bündnisses Russland nützt, der irrt. Nichts ist so gefährlich wie eine Unstimmigkeit unter den Bündnispartnern in Fragen von Krieg und Frieden. Denn die europäischen Kriegsfalken werden die Spannungen eskalieren lassen, um Russland zu einem „leichtsinnigen Wagnis“, wie Rachman unterstellt, zu provozieren und so Trump auf ihre Seite zu ziehen.

Das Mistrauen der Balten gegenüber den USA ist nicht neu. Bereits zu Trumps erster Amtszeit hatten insbesondere die Esten ihre Zweifel am Nato-Verbündeten USA. „Als sich abzeichnete, dass der damals noch sehr laute Nato-Skeptiker, Donald Trump, Präsident werden könnte, gefror das eine oder andere baltische Lächeln“, berichtete Carsten Schmiester über die „Angst der Balten vor Russland“ am 9. Juli 2017 im Deutschlandfunk.

Von daher ist es kaum verwunderlich, dass ausgerechnet die Esten als Vorlage für Rachmans Neologismus „Estnisierung“ dienten, die heutzutage eine aggressive, ja hasserfüllte antirussische EU-Außenpolitik („Estonianisation“ of European foreign policy) symbolisiert.

Allein mit der „Angst der Balten vor Russland“ und/oder mit der russisch-baltischen bzw. baltisch-sowjetischen Geschichte ist die aggressive antirussische Rhetorik der Balten und der übrigen EU-Europäer nicht zu erklären.

Zwar waren die Gouvernements Livland, Estland und Kurland von 1795 bis 1918 (Friedensvertrag von Brest-Litowsk) Teil des Russischen Reiches; zwar wurden Estland, Lettland und Litauen infolge eines geheimen Zusatzprotokolls des Hitler-Stalin-Paktes im Sommer 1940 zwangsweise bis 1990 Teil Sowjetrusslands. Das rechtfertigt aber noch lange nicht eine solch aggressive Anti-Russlandpolitik der drei kleinsten EU- und Nato-Länder.

Liegt das womöglich am Revanchismus oder gar an der Renaissance der Nazi-Ideologie im Baltikum? Letzteres behauptete der russische Außenminister, Sergej Lawrow, bereits am 30. November 2023 auf einer Sitzung des Außenministerrats der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

„Seit Jahren können wir uns nicht darauf einigen, das Thema Neonazismus in die Tagesordnung aufzunehmen, obwohl wir in Europa, vor allem in der Ukraine und im Baltikum, einen Anstieg der Nazi-Ideologie und -Praktiken sowie anderer Formen rassistischer und religiöser Intoleranz, die Verherrlichung von Nazi-Kollaborateuren, die Zerstörung von Denkmälern für Befreier und die gesetzliche Verankerung dieser Verbrechen beobachten,“ beklagte sich Lawrow.

Dass Lawrows Be- und Anschuldigungen weder aus der Luft gegriffen noch ganz neu sind, zeigen auch die Berichte in den deutschen und anderen EU-europäischen Medien über „Nationalismus im Baltikum“. Unter der Überschrift „Marschieren für die Waffen-SS“ veröffentlichte Reinhard Wolff bereits am 17. März 2013 seinen Artikel in der taz. Dort war zu lesen: „Am Samstag fand im Zentrum der Hauptstadt Riga wieder der jährliche Marsch zum Gedenken an die Angehörigen der lettischen Waffen-SS-Division statt. Auf 3.000 schätzte die Polizei die Zahl der TeilnehmerInnen, an der Spitze marschierten Abgeordnete und Mitglieder der nationalistischen Regierungspartei Nationale Allianz.“

Und der österreichische Tageszeitung Der Standard berichtete noch früher, schon am 31. Juli 2007, unter dem Titel „Baltikum: Die SS-Veteranen marschieren“:

„SS-Veteranen und Ex-Soldaten anderer Einheiten des Hitlerregimes haben am Wochenende in Estland und Lettland eine Würdigung ihrer historischen Rolle verlangt. Die Veteranen der 20. estnischen SS-Division wollen gesetzlich fixiert haben, dass die >Esten, die in deutscher Uniform gekämpft haben, für die Demokratie gekämpft haben<. Hinter der Grenze finde sich noch immer ein >feindlicher Staat<, meinten sie am Samstag im ostestnischen Volost Vaivara. Verteidigungsminister Jaak Aawiksoo richtete eine Grußbotschaft an sie, in der er die Auffassung teilte, der Kampf estnischer Soldaten unter Adolf Hitler sei als zweiter Freiheitskampf – nach dem ersten 1918-1920 – zu sehen. Unter den bis zu 330 Versammelten befanden sich auch SS-Veteranen aus Österreich und Norwegen sowie Vertreter von Jugendverbänden. …

Beim zeitgleichen Veteranentreffen in der lettischen Hauptstadt Riga sind erstmals die SS-Veteranen gemeinsam mit den lettischen Ex-Partisanen (>Waldbrüder<) aufmarschiert. Schließlich sei die Sowjetunion der gemeinsame Feind beider Verbände gewesen, erklärte der Vizepräsident der >Gesellschaft lettischer Nationalkämpfer<, Leonid Rose. Im Lettland schickte gar der neue Präsident Waldis Zatlers eine Grußbotschaft.“

Was tat die EU? „Die EU schaut weg: Im Baltikum werden SS-Veteranen als Helden gefeiert“, berichteten die Deutschen Wirtschaftsnachrichten (DWN) am 21. März 2015. Und weiter ist dort zu lesen: „In den EU-Staaten im Baltikum findet ein neuer Kult um die Veteranen der Waffen-SS statt. Die rechtsextremen Umtriebe werden von der EU-Politik ebenso ignoriert wie die Aktivitäten der rechtsextremen Milizen in der Ukraine. Efraim Zuroff vom Simon Wiesenthal Center warnt vor einer gefährlichen Melange aus anti-russischen und antisemitischen Vorurteilen.“

Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) berichtete schließlich am 20. Januar 2012 unter dem Titel „Balten feiern SS-Schergen als Helden – bald auch per Gesetz“ empört:

„Die Regierung Estlands will ehemalige Nazi-Kollaborateure per Gesetz als Freiheitskämpfer ehren. Auch in Lettland marschieren Veteranen. In der EU hält sich der Protest gegen die Mitgliedsstaaten in Grenzen, nur Russland beklagt sich lautstark. Sie schworen einen Eid auf Adolf Hitler und tragen zum Teil heute noch stolz das Eiserne Kreuz. Im März will die Regierung Estlands ehemalige Angehörige der Waffen-SS per Gesetz als Freiheitskämpfer ehren. Auch in Lettland marschieren jedes Jahr am 16. März Veteranen der SS-Legion durch die Hauptstadt Riga. … Im Gegensatz zu Estland und Lettland gab es zwar in Litauen keine freiwillige SS-Division – jedoch Polizeibataillone, die Jagd auf Juden machten. Es finden auch keine traditionellen Nazi-Aufmärsche statt. Dennoch steht Litauen zusammen mit Estland, Lettland, Ukraine, Österreich und Kanada auf der Liste der Länder, die laut dem Simon-Wiesenthal-Zentrum nichts tun, um Nazi-Kol­laborateure zu entlarven.“

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, was hinter Rachmans Neologismus „Estnisierung“ der europäischen Außenpolitik („Estonianisation“ of European foreign policy) verstanden werden kann und muss: eine Nazifizierung der EU-Russlandpolitik. Es ist von daher nicht verwunderlich, dass die Kriegspartei in der EU eine solch dominierende und beherrschende Rolle spielt und sie nicht daran denkt, mit Russland irgendwelche Friedensverhandlungen führen zu wollen.

2. >Der< Russe als hasserfüllte Projektionsfläche

Wir befinden uns erneut auf dem Wege zur Entmenschlichung >des< Russen, den wir seit mehr als dreieinhalb Jahren zum „ewigen Feind“ stilisieren. Diese Entmenschlichungsrhetorik ist Deutschland und Europa bereits zweimal nicht gut bekommen.

Möchten wir wirklich wiedererleben, was der Psychiater, Otto Binswanger (1852 – 1929), zu Beginn des Ersten Weltkrieges beschrieben hat? „Die herrliche Begeisterung, der Opfersinn und die heldenhafte Tapferkeit … werden … verkehrt zu den herabwürdigenden, geradezu schmutzigen Gefühlen des grausamen Hasses, der Rachesucht, der restlosen Vernichtung des Gegners.“3

Europa wird einen erneuten Hass, die Rachsucht und das Trachten nach dem „restlosen Vernichtung des Gegners“ zum dritten Mal nicht überleben.

Die Nazifizierung der EU-Russlandpolitik schreitet voran. Hand in Hand geht mit ihr eine geradezu explosionsartige Dämonisierung Russlands als „ewigen Feind“ und der Versuch, dieses Feindesbild im Bewusstsein der EU-Bevölkerung zu verankern.

Wie der 1940 gedrehte Film „Der ewige Jude“ nach den Worten seines Regisseurs, Fritz Hippler (1909-2002), eine „Symphonie des Ekels und des Grauens“ verkörperte, so sollte das von der antirussischen Kriegspropaganda gemalte Bild einer vermeintlich nie enden wollenden russischen „Aggression“ die Unmenschlichkeit, Grausamkeit und die „verbrecherische Natur“ des „ewig aggressiven Russen“ darstellen.

Lange vor dem Kriegsausbruch in der Ukraine schrieb Juri Zverev (Leiter der Abteilung für Geographie an der Baltischen Föderalen Immanuel-Kant-Universität in Kaliningrad) am 24. April 2017 in seinem Aufsatz „Битва за Прибалтику“ (Schlacht um das Baltikum):

„Wie die US-Brigaden haben auch die Nato-Bataillonsverbände das militärische Kräfteverhältnis im Baltikum bisher nicht wesentlich verändert. Die amerikanische RAND Corporation errechnete einst, dass für eine wirksame Verteidigung des Baltikums nicht vier verstärkte Bataillone, sondern sieben zusätzliche Brigaden … nötig seien. Ihr Einsatz ist eher eine Propagandamaßnahme, um die lokalen Eliten und die Bevölkerung zu beruhigen, die ernsthafte Angst vor einer (von ihnen selbst erfundenen) mythischen >russischen Aggression< haben. Bisher hat niemand eine klare Erklärung für Russlands mögliche Invasion im Baltikum geliefert, außer dass Russen von Natur aus Aggressoren sind.“

In Anbetracht dieses propagandistischen Bildes vom „ewig aggressiven Russen“ muss auch die ganze Propagandamaschinerie der transatlantischen Kriegspartei diesseits und jenseits des Atlantiks gesehen werden. Wie Goethes „ewiger Jude“ soll der „ewig aggressive Russe“ heute ebenfalls der „Freund Satans“ sein:

„Er auf dem Berge stille hält,
Auf den in seiner ersten Zeit
Freund Satanas ihn aufgestellt
Und ihm gezeigt die volle Welt
Mit aller ihrer Herrlichkeit.“
(Goethe, Der ewige Jude)

Auch „der ewig aggressive russische Bär“ hält in seiner Bärenhöhle still, solange er sich im Winterschlaf befindet. Sobald er aber aus seinem Winterschlaf erwacht, begeht er als „Freund Satans“ stets und immer wieder Aggressionen, um seine nie gestillte teuflische Aggressivität ausleben zu können. >Der< Russe kann eben ex definitionem niemals seine Aggressivität und Brutalität stillen und aggressiv ist, was immer er tut.

Und so sehen wir heute mit bloßem Auge, wie der zur Gründungszeit der Bundesrepublik zunächst noch latent vorhandene und unterdrückte, im „Kalten Krieg“ sodann demokratisch verklärte Russenhass nunmehr in Zeiten des Ukrainekonflikts auf die Oberfläche der Geschichte ungeniert hochkommt und sich zu voller Blüte entfaltet.

Es bestätigt sich von Neuem die längst vergessen geglaubte Erkenntnis, dass die eigenen Verbrechen, Gräueltaten und Aggressionen mit dem Hinweis auf die Verbrechen und Aggressivität der „Anderen“ verdrängt, relativiert, verharmlost und abgetan werden.

Anmerkungen

1. Friedensburg, F., Was wir der Sowjetunion bieten können, in: Außenpolitik V (1954), 355-361
(357). Zitiert nach Klaus Erdmenger, Das folgenschwere Missverständnis. Bonn und die sowjetische
Deutschlandpolitik 1949-1955. Freiburg 1967, 100.
2. Rachman, G., Welt der Autokraten. Wie Xi, Putin, Trump, und Co. die Demokratie bedrohen. Berlin
2022.
3. Zitiert nach Mosse, G. L., Der Erste Weltkrieg und die Brutalisierung der Politik, in: Funke, M., u. a. (Hrsg.),
Demokratie und Diktatur. Düsseldorf 1987, 127-139 (128).

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