Zum Scheitern der europäischen Sicherheitsordnung
Übersicht
1. In einer sicherheitspolitischen Sackgasse: Mehr Fragen als Antworten
2. „Die Geburtsstunde des geopolitischen Europas“?
3. Europas Sicherheit versus US-Geopolitik
Anmerkungen
„Eine Nation, die ihre eigenen Fehler mit Unantastbarkeit ihrer eigenen Gewohnheiten entschuldigt, entschuldigt sich in die völlige Katastrophe hinein.“
(George F. Kennan)1
1. In einer sicherheitspolitischen Sackgasse:
Mehr Fragen als Antworten
„Das friedlose Europa“: Unter diesem Titel veröffentlichte der große Liberale Italiens Francesko S. Nitti (1868-1953) sein kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges 1921 erschienenes Werk, in dem er den Versailler Friedensvertrag als einen Vertrag charakterisierte, „der den Krieg fortsetzt.“2 Mit Verbitterung stellte er in einer anderen Veröffentlichung „Der Friede“ (1925) fest: „Nie gab es in Europa so viele Gründe für einen Krieg wie jetzt, nie haben die Ungerechtigkeiten und die nach dem Kriege begangenen Irrtümer solch gärenden Hass vorbereitet wie jetzt.“3 Und er fügte warnend hinzu: „Nach dem Kriegsbankrott erlebten wir den Bankrott des Friedens. Der gegenwärtige Frieden ist nur eine Täuschung. Er bereitet die Elemente neuer, noch schlimmerer Kriege vor.“4
Erleben wir heute die Wiederkehr der Geschichte? Oder befinden wir uns bereits mittendrin in der Zwischenkriegszeit? Sollten wir uns einem infolge des Kriegsausbruchs in der Ukraine gezielt geschürten Hass nicht nur gegen Putin, sondern auch gegen alles Russische widersetzen oder wollen wir uns damit abfinden und sogar verstärkt wie zur Nazizeit mit ihrem Rassewahn gegen die „slawischen Untermenschen“ hetzen, die angeblich unsere „heile Welt“ bedrohen? Vor diesem unappetitlichen Hintergrund möchte man sich lieber Francesco Nittis Äußerung von 1922 wieder und immer wieder in Erinnerung rufen: „Russland ist kein besiegter Feind, es ist ein gefallener Freund.“5
Bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass bei der ganzen Aufregung und Em pörung die Ursachenforschung auf der Strecke bleibt!
Es ist Krieg in Europa und keine(r) fragt nach dessen Ursachen. Alle empören sich über den „Kriegsverbrecher“ Putin. Die Empörung ersetzt aber keine Ursachenforschung. Alle entrüsten sich über eine humanitäre Katastrophe in der Ukraine. Keine(r) fragt aber nach unserem eigenen Versagen. Man ist über den Kriegsausbruch in Europa entsetzt. Keine(r) fragt jedoch nach dessen >Warum<. Der Westen verflucht Russlands Zerstörung des Friedens in Europa, lenkt aber gleichzeitig davon ab, dass die europäische Sicherheitsordnung der vergangenen dreißig Jahre, die vom Westen nach dem Ende des „Kalten Krieges“ geschaffen und als das sicherste Sicherheitssystem aller Zeiten hochgepriesen wurde, gescheitert ist und ohne Wenn und Aber versagt hat. Ob Europa eventuell zum geopolitischen Spielball der Außenmächte geworden ist, wird ebenso wenig wie die NATO-Expansionspolitik hinterfragt.
Je weniger Ursachenforschung, umso weniger Selbstreflexion des eigenen Versagens und umso mehr Selbstgerechtigkeit und Selbstbeweihräucherung. Je schlimmer das Chaos um uns herum, desto intensiver die mediale Propaganda; je näher die Gefahr des um uns herumtobenden Krieges an uns herantritt, umso angsteinflößender die Fernsehbilder, womit tagtäglich unsere beängstigten Gemüter bombardiert werden, die bereits bei Ministress in Ohnmacht fallen. Je intensiver die Kriegshandlungen in der Ukraine sind, umso mehr stellt sich die bange Frage: Kommt es zum Übergreifen des Krieges auf
Mittel- und Osteuropa bzw. dessen Ausbreitung über die Grenzen des Konflikts? Dass die verschärfte Spannung und aufgeheizte Stimmung zwischen Russland und Europa auch mit Machtarroganz, Selbstüberschätzung und Selbstverblendung unserer Machteliten zusammenhängt, welche die Außenideologie predigen, statt Außenpolitik zu betreiben, weil sie „Außenpolitik ohne Außenpolitiker“6 praktizieren, wird nicht einmal thematisiert, geschweige reflektiert.
Hat das nicht etwas unheimlich Beängstigendes an sich? Es tobt ein Krieg in Europa und dieses Europa gefällt sich in selbstgerechter Pose einer furchterregenden, aber gerechten Rachegöttin Erinnye, die Verbrecher unerbittlich verfolgt, bis diese ihre gerechte Strafe bekommen haben. Allein auf Rache und Bestraffung zu setzen, wird nicht ausreichen. Außenpolitik lässt sich allein auf Empörung, Entrüstung und Entsetzen über das Geschehene ebenso wenig wie auf Strafe und Sanktionen im Namen von Recht und Gerechtigkeit reduzieren – erst recht nicht, wenn es sich um einen nuklear aufgerüsteten geopolitischen Rivalen handelt. Statt Realpolitik betreibt man lieber Diffamierung und Delegitimierung des geopolitischen Rivalen, als hätten die US-Amerikaner und die EU-Europäer in den vergangenen zwanzig Jahren keine völkerrechtswidrigen Angriffskriege geführt.
Wird die europäische Öffentlichkeit hier nicht vorgeführt, um die eigenen Völkerrechtsbrüche vergessen zu lassen, und/oder getäuscht, um die wahren Absichten zu verbergen? Es beschleicht unsereiner der Verdacht, gezielt getäuscht und irregeführt zu werden: Einerseits fordert der Westen immer und immer wieder Dialog und friedliche Regelung des Konflikts, andererseits kündigt er in aller Öffentlichkeit eine verstärkte Lieferung von Waffen an die Ukraine und die Sendung von Söldnertruppen aus den NATO-Ländern in die Ukraine an. Allein zwecks ukrainischer Selbstverteidigung? Sieht so ein Bemühen um Frieden und Dialog oder vielmehr um das gezielte Weiterschüren des Krieges aus? Geht es hier wirklich nur um einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine oder vielmehr um eine verborgene militärische NATO-Operation gegen Russland auf ukrainischem Boden? Ist dieser Krieg nicht der Vorbote eines größeren europäischen Konflikts, in welchen die EU-Europäer ungewollt, unbeabsichtigt und ahnungslos hineinschlittern? Wer könnte aber von diesem europäischen Konflikt profitieren? Am wenigsten die EU-Europäer selbst, am meisten die außereuropäischen Großmächte!? Die Zeiten werden ungemütlicher und vor allem hässlicher! Wie soll es nun weitergehen?
2. „Die Geburtsstunde des geopolitischen Europas“?
Die EU-Europäer müssen höllisch aufpassen, dass sie infolge ihrer sicherheitspolitischen und geostrategischen Abhängigkeit von den USA nicht verheizt, von Freund wie Feind nicht zerrieben und nicht zum „Karthago“ des 21. Jahrhunderts gemacht werden. „Das große Karthago führte drei Kriege“, dichtete Bertold Brecht 1951: „Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.“
Dass Europa im Verlauf des 21. Jahrhunderts geostrategisch und sicherheitspolitisch „nicht mehr auffindbar“ sein könnte, ist keine bösartige Wahnvorstellung eines weltentrückten Eskapismus, sondern könnte sehr schnell zu einer brutalen geopolitischen Realität werden. Dabei wird es vermutlich gar nicht klar sein, wo genau die geoökonomischen und geostrategischen Risiken lauern und die geopolitischen Fronten verlaufen werden bzw. wer Freund und wer Feind sein wird.
Die EU-Europäer müssen sich endlich der Grundfrage ihrer geopolitischen Existenz stellen: Wer ist geo- und sicherheitspolitisch für das Europa des 21. Jahrhunderts gefährlicher: der geoökonomisch angeschlagene US-Hegemon, das zur geoökonomischen Supermacht aufgestiegene China oder das ökonomisch und technologisch unterentwickelte Russland? Die EU-Machteliten stellen sich dieser Frage nicht. Zu bequem und zu selbstsicher sind sie vor dem Hintergrund der „glorreichen“ Vergangenheit geworden, in welcher sie an der Seite der USA den „Sieg“ im „Kalten Krieg“ errungen haben. Dieses sicherheitspolitische Bündnis des „Kalten Krieges“ hat jedoch keine Ewigkeitsgarantie und kann schneller, als man denkt, zerfallen, auch wenn heute danach nicht aussieht.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat Europa verlernt, sicherheitspolitisch eigenverantwortlich zu handeln und nach dem Ende des „Kalten Krieges“ ist es zu selbstgefällig und zu machtarrogant geworden, ohne sich vorstellen zu können, dass sich alles im Fluss befindet (panta reí) und darum vergänglich ist. Diese alte griechische Weisheit ist den EU-Europäern offenbar längst abhanden gekommen. Sie werden nunmehr angesichts des Kriegsausbruchs in der Ukraine eines Besseren belehrt und auf den harten Boden der geopolitischen Realität zurückgeholt.
Der Krieg in der Ukraine ist eine direkte Folge des nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums entstandenen Machtungleichgewichts in Europa, das die europäische Sicherheitsordnung zu Lasten Russlands und zu Gunsten des Westens maßgeblich geprägt hat. Der Zusammenbruch der allianzmäßigen Bipolarität des „Kalten Krieges“ führte zu einer derart enormen Machtdifferenz zu Gunsten der übermächtig gewordenen USA, dass sich jede sicherheitspolitische Kooperation mit Russland erübrigt hat, von einer möglichen militärischen Integration Russlands in die NATO-Sicherheitsstrukturen ganz zu schweigen, zumal eine solche Integration die US-Hegemonie eher gefährdet als gefördert hätte. Der Übermacht der USA stand keine Gegenmacht gegenüber, welche sie zu irgendwelchem Kompromiss bewegen oder gar zwingen konnte. Weder das ökonomisch und militärisch geschwächte Russland noch das selbstzufriedene, von Friedensdividenden und Wohlstand verwöhnte Europa konnte daran irgendetwas ändern.
Nach dreißig Jahren US-Hegemonie sieht die Welt jedoch ganz anderes aus: Die geopolitische Realität der Gegenwart hat sich mit dem fulminanten Aufstieg Chinas zum geoökonomischen Konkurrenten der USA und einer militärischen Erstarkung Russlands insofern gewandelt, als an die Stelle der allianzmäßigen Bipolarität der Supermächte die traditionelle Konkurrenz der Großmächte statt Allianzen getreten ist. Die einzige, nach dem Ende des „Kalten Krieges“ übriggebliebene Nordatlantische Allianz (NATO) hat sich historisch und geopolitisch überlebt. Die EU-Europäer halten dessen ungeachtet an diesen veralteten Sicherheitsstrukturen krankhaft fest, offenbar aus Angst sicherheitspolitisch ganz allein ohne den US-Schutzpatron bleiben und eigenständig agieren zu müssen.
Sie glauben wohl, dass die alten „schönen“ Zeiten des „Kalten Krieges“, in denen Westeuropa sich unter dem nuklearen Schutzschirm der USA befand, für immer und ewig konservieren zu können. Zu bequem ist der alte Kontinent geworden. Statt den alten „glorreichen“ Zeiten nachzutrauen, sollten sich die EU-Europäer lieber der harten geopolitischen Realität der Gegenwart stellen, bevor es zu spät sein wird. Diese Realität zeigt uns unmissverständlich, dass ein Krieg in Europa nicht nur denkbar und möglich ist, sondern hier und heute unmittelbar vor den EU-Toren stattfindet, und zwar nicht trotz, sondern wegen der NATO.
Die Dominanz der Supermächte in der bipolaren Welt des „Kalten Krieges“ beruhte auf zwei feindselig gegenüberstehenden Allianzsysteme. Dieses System von Allianzen war ein einmaliges Phänomen der Weltgeschichte, sodass sich die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts übriggebliebene NATO-Allianz – sicherheitspolitisch gesehen – nichts weiter als ein welthistorischer Anachronismus erweist, der sich vor allem als ein mächtiges Macht- und Disziplinierungsinstrument in den Händen des US-Hegemons befindet, welches geopolitisch über das Wohl und Weh Europas entscheidet.
Bis zum Kriegsausbruch in der Ukraine wiegte sich Europa in der trügerischen Sicherheit, dass die NATO es nicht nur beschützt, sondern auch eine gesamteuropäische Sicherheit garantieren bzw. gewährleisten kann. Heute wissen wir aber, dass die NATO die Sicherheit in Europa weder garantiert noch erhöht. Ganz im Gegenteil: Die NATO bringt mit sich nicht mehr Sicherheit, sondern mehr Gefährdung der Sicherheit als Folge ihres unbändigen und skrupellosen Expansionsdrangs gen Osten. Der Krieg in der Ukraine zeigt mit entwaffnender Klarheit die Grenzen der westlichen „Allmacht“ und der US-Hegemonialmacht.
Der Westen kann Russland zwar ökonomisch strangulieren, moralisch diffamieren, medial delegitimieren und weltpolitisch teilweise isolieren. Militärisch degradiert Russland aber selbst den „allmächtigen“ US-Hegemon zumindest auf dem europäischen Kontinent zum bloßen Zuschauer und stellt seine und des Westens Ohnmacht bloß. Diese Ohnmachtserfahrung erzeugt in Europa neben Wut und Empörung vor allem ein hilfloses Beklemmen, das mit ständigen EU-Sondertreffen und EU-Sonderkonferenzen eine Handlungsfähigkeit lediglich simuliert, ohne der rohen Gewalt Russlands eine vergleichbare Machtdemonstration entgegensetzen zu können, in der Hoffnung, dass die Sanktionen mittel- bis langfristig wirken und Russland in die Knie zwingen werden. Dieses hilflose Herumhantieren mit Sanktionen wirkt wie eine Ersatzhandlung zur eigenen Gewissensberuhigung. Schlimmer noch: Der Krieg in der Ukraine weist gleichzeitig darauf hin, dass das NATO-Sicherheitssystem nur die halbe Sicherheit in Europa garantieren kann und dass sich die EU-Europäer nicht ohne Weiteres auf das US-Sicherheitsversprechen verlassen sollten. Der allumfassende Frieden in Europa muss vielmehr von den Europäern selbst ausgehen.
Das bedeutet aber, dass die Kontinentaleuropäer eine von den angelsächsischen Außenmächten unabhängige und eigenständige europäische Sicherheitsarchitektur mit und nicht gegen Russland
erschaffen sollten, will man einen umfassenden und keinen halben Frieden im Kontinentaleuropa wiederherstellen, zumal die geoökonomischen und geopolitischen Interessen der USA, England und der EU-Europäer nicht immer und immer weniger übereinstimmen.
Eine eigenständige und von der geopolitischen Umklammerung der USA unabhängige EU-Sicherheitspolitik ist allein schon deswegen erforderlich, weil die EU-Europäer ansonsten zum bloßen geopolitischen Spielball der Außenmächte degradiert werden können. Denn auch die USA und Great Britain betreiben die Geo- und Sicherheitspolitik zuallererst in ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse.
Für eine eigenständige europäische Sicherheitspolitik hat ausgerechnet der US-Amerikaner George F. Kennan bereits vor gut vierzig Jahre plädiert, als er geradezu erschrocken den Unwillen Westeuropas diagnostizierte, sich um die eigene Sicherheit zu kümmern: „Westeuropa hat sich seit dem Kriege stärker an uns angelehnt, als auch für Westeuropa selbst gut ist. Wir sind für unsere europäischen Verbündeten zu einer Art Zuflucht geworden. In ihren Augen haben wir sie der Notwendigkeit enthoben, eine eigene Politik … zu entwickeln, was für sie natürlich sehr bequem ist … Ich sehe beispielsweise keinen Grund, warum Westeuropa nicht eine eigene konventionelle Streitmacht aufbauen sollte. In Bezug auf Bevölkerungsgröße und Industriepotential ist Westeuropa den Sowjets zumindest gleichwertig. Dass es nicht die militärische Potenz hat, die es haben sollte, liegt einzig und allein am mangelnden politischen Wollen. Westeuropa hängt viel zu sehr an seinen materiellen Errungenschaften und schätzt seinen Wohlstand viel zu hoch ein, als dass es die notwendigen Opfer bringen könnte. Wenn aber dem so ist, wird die >Finnlandisierung<, falls sie jemals kommt, eine selbstverschuldete Wunde sein.“7
Zwar hat bekanntlich keine „Finnlandisierung“ Westeuropas stattgefunden. Seit George Kennans Äußerung hat sich aber im Wesentlichen auch nichts geändert. Sicherheitspolitisch bleibt die EU nach wie vor die Anhängsel der USA. Diese sicherheitspolitische Bequemlichkeit und/oder Ängstlichkeit (?) bedeuten aber der Verzicht auf eigenständige Geopolitik, was die EU-Europäer von ihrem US-Schutzpatron in jeder Hinsicht nur noch abhängiger macht.
Mehr noch: Vor diesem Hintergrund sollten die EU-Europäer lieber Freund als Feind fürchten, da sie ja infolge ihrer geo- und sicherheitspolitischen Abhängigkeit von den USA weder eine eigenständige Chinapolitik noch eine selbständige Russlandpolitik praktizieren können, wo doch Russland und die EU sicherheitspolitisch viel mehr aufeinander angewiesen, als die EU-Bürokratie wahrhaben wollen. Das Ziel der US-Geopolitik ist nicht nur, aber auch einen Keil zwischen Russland und Europa zu treiben, um nach wie vor als die „europäische Macht“ (Timothy Stanley) die Geopolitik Europas bestimmen und als die dominierende Außenmacht die europäischen Geschicke maßgeblich lenken zu können.
Und wenn der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell – wie neulich im Europaparlament geschah – hochtrabend beteuert: Die Einigkeit der EU-Staaten in der Ukrainekrise sei „die Geburtsstunde des geopolitischen Europas“, so ist diese Beteuerung nichts weiter als „leere Wörter und poetische Metaphern“ (Aristoteles).
3. Europas Sicherheit versus US-Geopolitik
Die EU-Machtelite will offenbar mangels geostrategischen Denkens immer noch nicht begreifen, dass die EU-Europäer als die sicherheits- und geostrategischen US-Verbündeten eine unabdingbare Bedingung dafür sind, dass die USA weiterhin Hegemon bleiben können. Verlieren die USA Europa und ihre eigene dominierende Machtstellung in Europa, verlieren sie automatisch ihre Hegemonie im globalen Raum und werden zu einer Großmacht unter anderen Großmächten abgewertet. Denn ohne Europa hat die USA als Hegemon keine Zukunft. Darum fabulieren sie immer und immer wieder über eine angebliche „russische Gefahr“, die ungeachtet der Kriegshandlungen in der Ukraine für die EU gar nicht existiert, weil Russland zu schwach ist, um gegen die EU selbst militärisch vorgehen zu können, sieht man von Russland als Nuklearmacht ab.
Im Gegensatz zur gegenwärtigen EU-Machtelite besaß George Kennan genau diese strategische Voraussicht, als er bereits vor vierzig Jahren bezüglich der sowjetischen Außenpolitik zutreffend diagnostizierte: „Die Russen sind kaum in der Lage, aus unseren derzeitigen großen Schwächen Nutzen zu ziehen. Sie haben eigene Sorgen, die ausreichen, um ihre Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen … Ich glaube deshalb nicht, dass sie in naher Zukunft aus dem beunruhigenden Zustand Westeuropas Kapital schlagen werden.“8 Und er fügte prophetisch hinzu: „Ich glaube nicht an die Fähigkeit der Russen, Westeuropa zu kontrollieren. Sie würden einfach nicht wissen, wie sie das anfangen sollten.
Für derartige Unternehmungen sind sie einfach zu grobschlächtig und ungeschickt. Ihre diesbezügliche Ungewandtheit ist so groß, dass sie sogar Mühe haben, auch nur diejenigen Teile Osteuropas zu kontrollieren, die ihrer Hegemonie unterstehen.“9
Kennans Erkenntnisse sind heute verlorengegangen, wurden aber auch zu seiner Zeit komplett ignoriert, sodass sich Europa selbst zurzeit der Entspannungspolitik der 1970er-Jahre nicht zu einer eigenständigeren europäischen Sicherheitspolitik durchdringen konnte. Vielmehr vertraten manche Zeitgenossen wie der französische Außenminister Michel Jobert (1973-1974) die These, dass ein „Kondominium“ der Supermächte mit gravierenden Folgen für die Allianzstruktur entstehen kann. Danach würde Westeuropa eine Souveränitätsminderung erfahren und wäre zur bloßen „Reservefunktion“ (Czempiel) amerikanischer Sicherheitspolitik abgewertet worden.10
Diese These hat sich zum Glück nicht bewahrheitet. Ganz im Gegenteil: Statt Souveränitätsminderung sind „ein Bedeutungszuwachs und eine Funktionserweiterung“ Westeuropas zurzeit der Entspannungspolitik eingetreten und es ist sogar „für die amerikanische Sicherheit“ noch „wichtiger“ geworden.11
Aufgrund der Erfahrungen mit der Entspannungspolitik der 1970er-Jahre und vor dem Hintergrund der aktuellen Kriegshandlungen in der Ukraine erweisen sich die europäische Sicherheitsordnung und die auf Konfrontation ausgerichtete NATO-Expansionspolitik, die auf die ausdrückliche Ablehnung Russlands keine Rücksicht genommen haben, als gescheitert. Heute rächt sich die europäische Machtarroganz und jahrelange Ignoranz der Sicherheitsinteressen Russlands, deren Berücksichtigung es stets und immer wieder gefordert hat. Heute stehen wir aus europäischer Sicht vor dem Scherbenhaufen der europäischen Sicherheitsordnung, weil sie einen Krieg in Europa nicht verhindern konnte. Denn heute tobt Krieg in Europa und Europa ist ein friedloser Kontinent geworden. Aber gerade dieses Versagen der europäischen Sicherheitspolitik ist aus amerikanischer Sicht seit langem ein großartigste Erfolg der US-Geopolitik, der es gelungen ist, nicht nur einen Keil zwischen Europa und Russland erfolgreich zu treiben, nicht nur eine geopolitische Einheit zwischen der EU und den USA wie zu Zeiten des „Kalten Krieges“ wiederherzustellen und nicht nur Chaos in Europa zu stiften, sondern Russland auch mit den schwersten monetären, finanziellen und ökonomischen Sanktionen aller Zeiten zu belegen und dem geopolitischen Rivalen große Schaden zuzufügen.
Das ist zweifellos das gelungenste und seit dem Einmarsch der Sowjets in Afghanistan 1979 das erfolgreichste geostrategische Kunststück, das die Biden-Administration vollbracht hat und in die Geschichte der US-amerikanische Geopolitik womöglich als Bidens brillanteste geostrategische Aktion eingehen wird. Nicht nur die Russen, sondern auch die EU-Europäer wurden hier von der Biden- Administration vorgeführt, ohne dass die letzteren dies überhaupt verstanden haben.
Dieses geostrategische Kunststück schadet vor allem und in erster Linie der europäischen Sicherheitsordnung ebenso wie der europäischen und Weltwirtschaft, am wenigsten aber den USA. Damit setzt die Biden-Administration im Grunde die Chaosstrategie der Trump-Administration mit anderen, eben geopolitischen Mitteln fort. So wie Trumps Hegemonialmerkantilismus geoökonomisch „wie eine Chaosstrategie zur Destabilisierung der Weltwirtschaftsordnung“12 wirkte, so destabilisiert die Biden-Administration mit ihrer geopolitischen Chaosstrategie in höchstem Maße die europäische Sicherheitsordnung zwecks Schwächung der geopolitischen Rivalen Russland und der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit Europas.
Mit anderen Worten: Hier prallen Europas Sicherheits- und Wirtschaftsinteresse einerseits und die US-Geopolitik andererseits hart aufeinander. Der Krieg in der Ukraine ist nicht im Interesse Europas, wohl aber im Interesse der US-Geopolitik. Die US-Geostrategie steht deswegen in direktem Widerspruch nicht nur zu den russischen, sondern auch zu den geopolitischen, sicherheitspolitischen und nicht zuletzt geoökonomischen Interessen der EU-Länder. Sicherheitspolitisch bedeutet das aber: Nicht das NATO-Sicherheitssystem in Europa, sondern die gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur ist heute das Gebot der Stunde!
Die Entspannungspolitik der 1970er-Jahre führte nicht zu weniger, sondern zu mehr Sicherheit in Europa. Diese Erkenntnis hat die westeuropäische Machtelite damals – in der Hochphase der Détente – spät, aber immerhin nicht zu spät verstanden. Die gegenwärtige EU-Machtelite hat diese Erfahrung der älteren Generation längst verloren. Vor dem Hintergrund des seit dem „glorreichen“ Sieg im „Kalten Krieg“ nach wie vor bestehenden Triumphalismus glauben sie heute als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine allein mit finanzieller Repression und ökonomischen Sanktionen Russland „ruinieren“ (Annalena Baerbock) und so in die Knie zwingen zu können, ohne die geostrategischen Hintergründe dieser Entwicklung überhaupt verstanden zu haben.
Das ist ein gefährlicher Irrglaube und ein verhängnisvoller Irrweg. Dieser Weg führt zu weniger und nicht zu mehr Sicherheit. Es bedarf einer neuen Entspannungspolitik in Europa. Sie setzt aber eine eigenständige, von den Winkelzügen der US-Geostrategie unabhängige gesamteuropäische Sicherheitspolitik voraus. Denn die USA haben ganz andere globalen geopolitischen Interessen, die mit den kontinentaleuropäischen Sicherheitsinteressen nicht immer kompatibel sind. Der Krieg in der Ukraine ist ein Weckruf!
Anmerkungen
1. Kennan, G. F., American Diplomacy 1900-1950. New York 1962, 65.
2. Nitti, F., Das friedlose Europa. Frankfurt 1921, 195.
3. Nitti, F., Der Friede. Frankfurt 1925, 17.
4. Nitti (wie Anm. 3), 71.
5. Nitti, F., Der Niedergang Europas. Die Wege zum Wiederaufbau. Frankfurt 1922, 174.
6. Dazu Silnizki, M., Außenpolitik ohne Außenpolitiker. Zum Problem der Außenideologie in der Außenpolitik.
6. Dezember 2021, www.ontopraxiologie.de.
7. Gespräch mit Georg F. Kennan, Machtpolitik in Ost und West, in: Urban, G., Gespräche mit Zeitgenossen. Acht Dispute über Geschichte und Politik. Basel 1982, 229-280, 242 f.
8. Kennan (wie Anm. 7), 243.
9. Kennan (wie Anm. 7), 245.
10. Zitiert nach Werner Link, Der Ost-West-Konflikt. Die Organisation der internationalen Beziehungen im 20. Jahrhundert: Stuttgart u. a. 1980, 201 f.
11. Vgl. Link (wie Anm. 10), 202.
12. Silnizki, M., Anti-Moderne. US-Welthegemonie auf Abwegen. Berlin 2021, 70.