Lawrows Vision oder Trumps „America First“?
Übersicht
1. Das Credo der russischen Außenpolitik
2. Zwei Epochen der Nachkriegsordnung
3. Die Rückkehr der Machtpolitik?
Anmerkungen
„Переход к концепции >Америка прежде всего< несет в себе тревожное созвучие с
лозунгом гитлеровского периода >Германия превыше всего<.“
(Die Hinwendung zum Konzept >America First< weist eine beunruhigende
Ähnlichkeit mit dem Slogan >Deutschland über alles< aus Hitlers Zeit auf)
(Sergej Lawrow, 4. Februar 2025)
1. Das Credo der russischen Außenpolitik
Anlässlich des achtzigjährigen Jubiläums der Konferenz von Jalta (4.-12. Februar 1945) veröffentlichte der russische Außenminister Sergej Lawrow für die Zeitschrift „Russland in der globalen Politik“ am 4. Februar 2025 einen vielbeachteten Artikel, in dem er „dem Westen“ „das Syndrom des Exzeptionalismus“ (синдром исключительности) vorwarf. Der Westen sei daran gewöhnt, „nach einem neokolonialen Paradigma zu handeln“ und „auf Kosten anderer zu leben“, schreibt er.
Dass Lawrow mit „dem Westen“ in erster Linie die USA meint, wird schnell klar, als er im nächsten Satz die ehem. stellvertretende US-Außenministerin, Victoria Nuland (2023-2024), die in Russland seit dem Staatstreich in der Ukraine 2014 verhasst ist, zitiert.
Nuland gab laut Lawrow in einem Interview „mit der für sie typischen einfältigen Direktheit“ (c характерной простодушной непосредственностью) zu: „Jalta war keine gute Entscheidung für die USA, es war nicht notwendig, ihr zuzustimmen.“
„Dieses Eingeständnis erklärt viel über das Verhalten Amerikas auf der internationalen Bühne,“ kommentiert Lawrow Nulands Äußerung und fährt fort: „Wenn man V. Nuland folgt, sei Washington geradezu genötigt gewesen, 1945 widerwillig der Nachkriegsordnung zuzustimmen, die von der amerikanischen Elite schon damals als Belastung empfunden wurde. Genau dieses Empfinden führte zu einer späteren Revision des Friedens von Jalta und Potsdam durch den Westen. Dieser Prozess begann mit der berühmt-berüchtigten Fulton-Rede von Winston Churchill im Jahr 1946, in der dieser der Sowjetunion faktisch den >Kalten Krieg< erklärte. Da die USA und ihre Verbündeten die Abkommen von Jalta und Potsdam als taktisches Zugeständnis betrachteten, hielten sie sich nie an das Grundprinzip der UN-Charta von der souveränen Gleichheit der Staaten.“
Zwar ist Lawrows Empörung über Nuland verständlich, betreibt sie doch eine Geschichtsklitterung, indem sie unterschlägt, wie wichtig Stalin für Roosevelt nicht zuletzt im Kampf gegen Japan war, von der starken sowjetischen Verhandlungsposition wegen des erfolgreichen Vormarsches der Sowjetarmee in Europa ganz zu schweigen.
Nulands Äußerung und Lawrows anschließendes Kommentar dazu sind aber eigenwillige Deutungen der Jalta-Beschlüsse, die allein den geopolitischen Spannungen der Gegenwart geschuldet und darauf zurückzuführen sind. Sie verklären und verkennen zugleich die später stattgefundenen komplexen historischen Prozesse, die mit der Konferenz von Jalta nichts gemein haben und deren Deutung darum eher der aktuellen Tages- und Geopolitik als einer ernstzunehmenden Analyse der Nachkriegsgeschichte entspricht.
Die beiden Kontrahenten simplifizieren und werden dadurch weder der Nachkriegsgeschichte noch der Gegenwart gerecht. Nulands Äußerung ist zudem alles andere als neu. Zuletzt sprach der US-Präsident George W. Bush (2001-2009) in seiner Rede in Riga im Mai 2005 hochtrabend und geschichtsvergessen davon, dass das Abkommen von Jalta der ungerechten Tradition vom Münchener Abkommen (1938) und dem Molotow-Ribbentrop-Pakt (1939) folgte. „Wiederholt war die Freiheit der kleinen Nationen in Verhandlungen der Großmächte entbehrlich. Dieser Versuch, die Freiheit der Stabilität zu opfern, hinterließ einen gespaltenen und instabilen Kontinent. Die Gefangenschaft von Millionen Menschen in Mittel- und Osteuropa wird als eines der größten Ungerechtigkeiten der Geschichte in Erinnerung bleiben.“1
Und was die UN-Charta betrifft, so steht Lawrows Kommentar voll und ganz in der Tradition der UN-zentrischen sowjetischen und russischen Außenpolitik. Deswegen plädiert auch Lawrow in seinem Artikel vehement für die Aufrechterhaltung und Festigung der UN-Charta, weil „die UN-zentrische Ordnung … eine Ordnung“ sei, „die auf dem internationalen, wirklich universellen Recht beruht.“ Und jeder Staat müsse „dieses Recht respektieren“ (vgl.: Поэтому ооноцентричный порядок называется порядком, основанным на международном, подлинно универсальном, праве, и считается, что каждое государство будет это право соблюдать).
Dieses „universale Recht“ werde heute laut Lawrow außer vom „Westen“ von der „Weltmehrheit“, die durch die BRICS-Staaten repräsentiert wird, verteidigt. Mit Berufung auf die Kazan-Erklärung des BRICS-Gipfels vom 23. Oktober 2024 betont Lawrow „die einheitliche Position der Staaten der Weltmehrheit“, die die „Verpflichtung zur Einhaltung des Völkerrechts, einschließlich der Ziele und Grundsätze der UN-Charta“ und „die zentrale Rolle der UN im internationalen System“ hervorhebt.
Diese vehemente Verteidigung der UN-Charta und des UN-zentrischen Systems der internationalen Beziehungen, ist das Credo der russischen Außenpolitik, die freilich nicht immer mit der russischen Geo- und Sicherheitspolitik deckungsgleich ist.
Die Nachkriegsordnung hat darüber hinaus einen ganz anderen Verlauf genommen, als die Konferenz von Jalta vor achtzig Jahren vorgesehen hat, und Lawrow weiß das ganz genau ungeachtet seiner uneingeschränkten Befürwortung der Konferenzbeschlüsse.
Das Friedens- und Sicherheitskonzept von Franklin D. Roosevelt für die von ihm ursprünglich angestrebte Lösung des Problems einer globalen Friedenssicherung durch die „Vier Weltpolizisten“ in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist nie in Erfüllung gegangen.
An deren Stelle ist de facto eine bipolare Weltordnung getreten, die einen ganz anderen Verlauf als der von der Konferenz von Jalta vorgesehene genommen hat. Es ist darum müßig, wie Lawrow samt der russischen Außenpolitik immer wieder zu versuchen, „ein totes Pferd“ zu reiten. „Wenn Du entdeckst, dass Du ein totes Pferd reitest, steig ab“, wie eine indianische Weisheit lautet.
2. Zwei Epochen der Nachkriegsordnung
Die Nachkriegsordnung erlebte in den vergangenen achtzig Jahren zwei Epochen, die miteinander nur mittelbar etwas zu tun haben und die man nur bedingt auf die UN-zentrische Weltordnung zurückführen kann. Legt man der Konferenz von Jalta Roosevelts Konzept einer auf „Vier Weltpolizisten“ beruhenden Weltordnung zugrunde, so war dieses Konzept eine Totgeburt.
Es war tot, noch bevor es das Licht der Welt erblickte. An Stelle der vorgedachten Weltherrschaft der „Vier Weltpolizisten“ trat die bipolare Weltordnung, die mit dem Untergang der Sowjetunion ihr jähes Ende fand. Diese erste Epoche der Nachkriegszeit (1945-1989/91) dauerte ca. 45 Jahre an.
Ob die bipolare Weltordnung auf den „Kalten Krieg“ zurückzuführen ist, dessen Ursprung Lawrow in Churchills Fulton-Rede sieht, ist noch die Frage. Die Rede war zweifellos gegen den ehemaligen Verbündeten und den alten Rivalen Sowjetstaat gerichtet.
Churchill meldete in seiner Rede einen weltweiten Machtanspruch der „englischsprechenden Völker“ auf die führende Rolle in der Nachkriegszeit an. Die „englischsprechenden Völker“ haben nämlich die verdammte Pflicht, „ihre way of life wie ein Evangelium den anderen Völkern zu verkünden, damit diese die großen Vorzüge erkennen, die diese Lebensformen besitzen.“2
Die Reaktion der Sowjetführung auf Churchills Rede ließ auch nicht lange auf sich warten. Bereits eine Woche nach der Rede gab Stalin am 13. März 1946 der Prawda ein Interview, in dem er grimmig anmerkte, es sei doch nur ein geringer Unterschied, ob man, wie Hitler, die Hegemonie allein für die „arische Rasse“ oder für die „englischsprechenden Völker“ beanspruche.3
Es war in der Tat von dem Briten völlig vermessen, einen Machtanspruch auf die führende Rolle in der Weltpolitik zu erheben. Das Ende des British Empire war ebenso, wie der Aufstieg der zwei Supermächte, vorprogrammiert. Mit oder ohne den „Kalten Krieg“ war die Entstehung und Ausbildung der bipolaren Weltordnung vor dem Hintergrund der ideologischen Unvereinbarkeit der beiden antagonistischen Systeme und angesichts der realexistierenden geopolitischen Machtverhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg unvermeidbar.
Lawrow ging jedoch viel weiter, als er den ehem. Verbündeten im Kampf gegen Nazideutschland vorwarf, bei den Abkommen von Jalta und Potsdam „taktisch“ zu agieren und „sich nie an das Grundprinzip der UN-Charta von der souveränen Gleichheit der Staaten“ zu halten.
Ein ziemlich verwegener Vorwurf, wenn man allein schon an die Brežnev-Doktrin von der eingeschränkten Souveränität sozialistischer Bruderstaaten denkt, die an und für sich „das Grundprinzip der UN-Charta von der souveränen Gleichheit der Staaten“ ausschloss.
Sieht man freilich zunächst einmal davon ab, dass der Vorwurf eher den aktuellen geopolitischen Spannungen als der historischen Wahrhaftigkeit geschuldet ist, so ignoriert Lawrow, der eigentlich ein sehr erfahrener und sachkundiger Außenminister ist, offenbar die Tatsache, dass mit der zweiten Epoche der Nachkriegszeit – die Zeit zwischen dem Untergang des Sowjetreiches und dem Kriegsausbruch in der Ukraine (1992-2022) -, die man als unipolare Weltordnung zu bezeichnen pflegt, die UN-zentrische Weltordnung endgültig entzaubert und entmachtet wurde.
Zwar ist Lawrow sich als Russlands höchster Diplomat über die zweite Epoche der Nachkriegsordnung – die Epoche der Unipolarität – völlig im Klaren, beklagt er doch die verpasste Chance des Westens, eine gerechtere Weltordnung nach dem Untergang des Sowjetstaates zu schaffen, und wirft den US-Geostrategen vor, vom „Sieg im Kalten Krieg“, wie George Bush sen. am 11. September 1990 in einer Rede vor beiden Häusern des Kongresses verkündete, derart berauscht gewesen zu sein, dass sie mit ihrer überwältigenden Weltdominanz auf der internationalen Bühne – dem „Fenster ungeteilter Möglichkeiten“ (окно безраздельных возможностей) – nichts anderes im Sinne hatten, als eigenmächtig und ohne Rücksicht auf die UN-Charta zu handeln.
Ungeachtet einer faktischen Außerkraftsetzung der UN-Charta in Fragen von Krieg und Frieden und deren Substituierung durch die „regelbasierte Ordnung“ beharren Lawrow und die russische Außenpolitik auf die Grundprinzipien der Konferenz von Jalta.
Zwar stellt er selber fest, dass die explosiven Folgen der „regelbasierten Ordnung“ „Washingtons Kurs in Bezug auf die geopolitische Entwicklung Osteuropas“ waren, die Russland letztendlich dazu bewegten, mit einer „speziellen Militäroperation“ (SVO) in der Ukraine zu beginnen.
Er will aber nicht wahrhaben, dass der Ukrainekrieg den letzten Nagel in den Sarg der Nachtkriegsordnung geschlagen hat und dass diese Nachkriegsordnung, der zunächst die Bipolarität (1945-1989/91) und dann die Unipolarität (1992-2022) zugrunde lagen, endgültig zu Ende gegangen ist.
Es ist eine merkwürdige Amalgamierung von zutreffenden Erkenntnissen und verfehlten Schussfolgerungen, die Lawrow mit seinen Ausführungen präsentiert. Das kann nur mit einem geradezu dogmatischen Festhalten der russischen Außenpolitik an den Ergebnissen der Jalta-Konferenz erklärt werden, in deren Zentrum das Vetorecht der Sowjetunion/Russlands steht.
Offenbar will und kann die russische Führung aus Angst vor dem Verlust des Vetorechts im UN-Sicherheitsrat sich selbst nicht eingestehen, dass das geltende UN-zentrische System längst seine Bindungskraft verloren hat, obschon sie die geopolitische Realität der Gegenwart klar und deutlich erkennt.
Auf diese Erkenntnis deutet Lawrows nachfolgende Analyse hin. Er sieht glasklar eine ganz neue Epoche der Weltpolitik mit Trumps Rückkehr an die Macht auf uns zu kommen und spricht in diesem Zusammenhang von einer „neuen Dimension“ (новое измерение) der internationalen Beziehungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Denn „Herr Rubio“ – zitiert Lawrow den neuen US-Außenminister – hat am 15. Januar im Senat gesagt: Die Nachkriegsordnung sei nicht nur überholt, sondern würde auch in eine Waffe verwandelt, die gegen die US-Interessen gerichtet sei.
Rubios Äußerung kommentiert Lawrow anschließend mit den Worten: „Nicht nur der Frieden von Jalta und Potsdam mit der zentralen Rolle der UNO ist heute inakzeptabel, sondern auch die >regelbasierte Ordnung<, die den Egoismus und die Arroganz des von Washington geführten Westens in der Epoche nach dem Kalten Krieg zu verkörpern schien“ (… неугоден теперь не только Ялтинско-Потсдамский мир с центральной ролью ООН, но уже и „порядок, основанный на правилах“, который, казалось бы, воплощал в себе эгоизм и аррогантность ведомого Вашингтоном Запада в эпоху после „холодной войны“).
Lawrows Diagnose der infolge der Rückkehr der Trump-Administration an die Macht entstandenen geopolitischen Gemengelage ist aus zwei Gründen ausgesprochen bemerkenswert: Er bezeichnet zum einen die Zeit nach dem „Kalten Krieg“ als „Epoche“ (эпохa), die er mit der unipolaren bzw. „regelbasierten Ordnung“ (порядок, основанный на правилах) gleichsetzt.
Zum anderen ist er im Grundsatz mit Rubio, wie er ihn interpretiert hat, einverstanden, auch wenn er das widerwillig tut, dass nämlich nach dem Ende der Bipolarität nunmehr auch die Unipolarität zu Ende gegangen ist.
Trotz dieser unumstößlichen Erkenntnis beharren Lawrow und die russische Außenpolitik auf die Grundsätze des UN-zentrischen Systems, das freilich spätestens von der unipolaren Weltordnung zerstört wurde und nur noch als leere Hülle formalrechtlich besteht und macht- und kraftlos dahinvegetiert.
3. Die Rückkehr der Machtpolitik?
Dieser außenpolitische Dogmatismus führt dazu, dass Lawrow sich zu der fragwürdigen Äußerung hinreißen lässt, dass „die Hinwendung zum Konzept >America First< (Америка прежде всего) eine beunruhigende Ähnlichkeit mit dem Slogan >Deutschland über alles< (Германия превыше всего) aus Hitlers Zeit aufweist. Und die Konzentration auf einen >Frieden durch Gewalt< (установление мира посредством силы) könnte der Diplomatie endgültig den Garaus machen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass derartige Erklärungen und ideologische Konstrukte nicht den geringsten Respekt vor Washingtons völkerrechtlichen Verpflichtungen im Rahmen der UN-Charta erkennen lassen.“
Diese völkerrechtliche Ignoranz und Machtdemonstration der Trump-Administration seien laut Lawrow nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Wir schreiben weder das Jahr 1991 noch das Jahr 2017. Die Zeit lässt sich nicht mehr zurückdrehen.
Seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine am 24. Februar 2022 leben wir in einer ganz anderen Epoche, die die Nachkriegsordnung der Bipolarität und Unipolarität endgültig hinter sich gelassen hat. Wenn also die Nachkriegsordnung zu Ende gegangen ist, dann stellt sich die Frage: In welcher Weltordnung leben bzw. sollten wir überhaupt leben?
Das ist die Kernfrage und der Streitpunkt zugleich zwischen Russland und dem Westen bzw. den USA. Lawrow prognostiziert das kommende posthegemoniale Zeitalter. Er geht davon aus, dass die Trump-Administration bald begreifen werde, dass die internationale Realität komplexer sei, als sich die Amerikaner und ihre „unterwürfigen geopolitischen Verbündeten“ vorstellen können.
Dies vorausgeschickt, bleibt Lawrow mit seinen Vorstellungen und Empfehlungen unbeirrt im Rahmen der UN-zentrischen Weltordnung. Auch wenn er sie für reformbedürftig hält, bleibt er bei seinem unerschütterlichen Glauben, dass der in der UN-Charta verankerte normative Rahmen den Anforderungen des multipolaren Zeitalters am besten und optimal gerecht wird.
Diesem normativen Rahmen liegen vor allem die Prinzipien der souveränen Gleichheit der Staaten und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten zugrunde, die nicht nur de jure, sondern auch de facto beachtet werden müssen.
Allen Versuchen, die Welt unter Verletzung dieser UN-Prinzipien den eigenen Machtinteressen entsprechend zu verändern, erteilt Lawrow eine Absage und warnt vor noch mehr Instabilität, Konfrontation und Untergangszenarien, sollte es dazu kommen.
Angesichts der zahlreichen Konflikte und Spannungen in den internationalen Beziehungen wird eine verantwortungslose Ablehnung des Jalta-Potsdam-Systems mit seinem UN-zentrischen Kern die Welt unweigerlich ins Chaos stürzen, warnt Lawrow immer und immer wieder.
Dieses scheinbar unerschütterliche Dogma der russischen Außenpolitik rundet Lawrow gegen Ende seiner Ausführungen mit den Worten ab:
„Die Tatsache, dass der Westen … die Postulate (der UN-zentrischen Weltordnung) … grob verletzte, sei es in Jugoslawien, im Irak , in Libyen oder in der Ukraine, bedeutet nicht, dass wir die USA und ihre Satelliten von ihrer moralischen und rechtlichen Verantwortung befreien dürfen und das einzigartige Erbe der Gründerväter der UNO, das in der Charta verankert ist, aufgeben. Gott bewahre, wenn jemand es jetzt versuchen würde, unter dem Slogan, das >veraltete Jalta-Potsdam-System< loszuwerden, umzuschreiben. Die Welt wird dann ohne die Orientierung an den universalen Werten zurückbleiben (Мир останется вообще без общих ценностных ориентиров)“.
Die dogmatische Fixierung der russischen Außenpolitik auf die UN-zentrische Weltordnung kommt nicht von ungefähr. Sie ist eine klare Kampfansage an die US-Hegemonie, die mit der Rückkehr Trumps an die Macht nicht etwa verschwunden ist, sondern eine andere Gestalt angenommen hat. An Stelle der durch die US-Demokraten seit Jahr und Tag propagierten „regelbasierten Ordnung“ tritt nunmehr eine von Trump propagierte „America First“-Politik „aus einer Position der Stärke“.
Letztendlich kommt es auf ein und dasselbe hinaus. Und es macht aus russischer Sicht keinen großen Unterschied aus, wie die USA ihren Machtanspruch auf die Weltdominanz reklamiert. Mit dem Festhalten an der UN-zentrischen Weltordnung wiederholt Lawrow seinerseits das Credo seiner BRICS-Philosophie, die er etwa vor eineinhalb Jahre im Vorfeld des BRICS-Gipfels von 22./24. August 2023 formulierte und die sich gegen „die regelbasierte Ordnung“ richtete.4
Am Vorabend des BRICS-Gipfels veröffentlichte Lawrow einen Artikel, in dem er in scharfer Form „das Modell der internationalen Entwicklung“ kritisierte, „das auf der Ausbeutung der Ressourcen der Weltmehrheit zur Aufrechterhaltung des Wohlergehens der >goldenen Milliarde< (золотой миллиард) basiert“, womit er den „kollektiven Westen“ (коллективный Запад) meinte. Dieses „Modell“ sei seiner Meinung nach „hoffnungslos veraltet“ und spiegele nicht mehr die Sehnsüchte und Träume der „gesamten Menschheit“ wider.
Die BRICS-Staaten setzen demgegenüber eine antihegemoniale Machtpolitik entgegen. Den Artikel schrieb Lawrow im Zeitalter der „regelbasierten Ordnung“, die von den US-Demokraten zuletzt unter Bidens Führung propagiert wurde. Nun wiederholt er die gleiche Kritik erneut in Zeiten der Rückkehr Trumps an die Macht und bestätigt damit die ablehnende Haltung auch gegenüber der von der neuen US-Administration verfolgten „America First“-Politik.
Weder „die regelbasierte Ordnung“, die nach Lawrows Deutung von der Trump-Administration zu Grabe getragen wurde, noch Trumps Außenpolitik „aus einer Position der Stärke“ kommt für Russland in Frage. Allein die reformierte, antihegemoniale UN-zentrische Weltordnung ist für Lawrow die einzigrichtige Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit.
Und Trump? Seine Antwort auf das Ende der „regelbasierten Ordnung“ steht im krassen Gegensatz zu dem von Lawrow ordnungspolitischen Status quo. Mit Trumps Rückkehr an die Macht kehrt nur scheinbar die Machtpolitik des 19. Jahrhunderts zurück.5
Zwar war die europäische Großmächtepolitik des 19. Jahrhunderts eine ideologiefreie, auf der Staatsräson beruhende Machtstaatspolitik. Genau diese ideologiefreie, auf der Staatsräson beruhende Machtpolitik übt auch Trumps „America First“-Politik aus. Im Gegensatz zu Trumps „aggressivem Unilateralismus,“6 der nichts anderes als die Fortsetzung der US-Hegemonialpolitik mit anderen Mitteln ist, ist die Machtstaatspolitik des 19. Jahrhunderts eine Gleichgewichtspolitik.
Ihr lag das Ordnungsprinzip zugrunde, „dass die Beschaffenheit der Machtbeziehungen der Staaten untereinander ein Übergewicht einer Macht oder einer Mächtegruppe über die andere oder die anderen verhindere und damit auch jeden Vorstoß zu einer Veränderung des Systems durch Krieg faktisch unmöglich, weil militärisch aussichtslos machte. Das Selbstinteresse der Staaten sollte in dieser Ordnung in einem sonst nicht erreichten Grad mit dem Interesse an der Aufrechterhaltung des Friedens identisch sein. Macht sollte Macht eindämmen und durch Macht Abschreckung vor Krieg eintreten.“7
Die Gleichgewichtpolitik des 19. Jahrhunderts schloss, anderes gesagt, die Hegemonie einer der Großmächte aus und ist darum ihrer Natur nach antihegemonial. Trumps „America First“ ist zwar ideologisch indifferent und ausschließlich an den nationalen Interessen orientiert, zugleich aber eine gleichgewichtsfeindliche Machtpolitik des „aggressiven Unilateralismus“.
Die geopolitische Realität der Gegenwart wird allerdings Trump dazu zwingen, eine Politik des Gleichgewichts zu führen. Mit seiner „America First“ betreibt er letztendlich eine antihegemoniale Machtpolitik. Denn die Ironie des Schicksals ist es, dass Trumps „America First“, ohne dass er sich dessen bewusst ist, zur Destruktion der US-Hegemonie führt.
Trumps Außenpolitik wird die Welt entweder ins Chaos stürzen oder zu einem neuen Balancesystem führen, in dem die geopolitischen Rivalen sich machtpolitisch auf einen Modus Vivendi einigen werden.
Die Trump-Administration vollzieht damit eine radikale ordnungspolitische Wende in der US-Außenpolitik und zerstört endgültig die Nachkriegsordnung. Und Lawrows Zukunftsvision vom Fortbestehen des UN-zentrischen Systems bleibt das, was sie ist, eine Idee fixe.
Anmerkungen
1. President Discusses Freedom and Democracy in Latvia. Abgerufen am 9. Februar 2025.
2. Matthias, L. L., Die Kehrseite der USA. Rowohlt 1964,121.
3. Matthias (wie Anm. 2), 125.
4. Vgl. Silnizki, M., Zwei geopolitische Philosophien. Folgen des BRICS-Gipfels. 11. September 2023,
www.ontopraxiologie.de.
5. Vgl. Silnizki, M., Die Zäsur. Auf dem Weg zu einer neuen Sicherheitspolitik in Europa? Zur Diskussion.
Januar 2, 2024, www.ontopraxiologie.de.
6. Silnizki, M., Die US-Außenpolitik des „aggressiven Unilateralismus“. Keith Kelloggs Strategiepapier zu
Friedensverhandlungen. 14. Dezember 2024, www.ontopraxiologie.de.
7. Schieder, Th., Friedenssicherung und Staatenpluralismus, in: des., Einsichten in die Geschichte. Essays.
1979, 156-174 (169).