Verlag OntoPrax Berlin

Das andere Gesicht der Ukraine-Krise

Im Spannungsfeld zwischen Geschichte und Gegenwart

Übersicht

1. Zeitgeschichte und Zeitgenossen
2. Kissingers Beurteilung der Ukraine-Krise
3. Realpolitik: gestern und heute
4. Der ukrainische Nationalismus: gestern und heute

Anmerkungen

„Was im Ersten Weltkrieg entrüstet zurückgewiesen worden war – dass nämlich
die Ukrainer noch kein Volk, sondern eine >ethnographische Masse< seien –
wurde nun auch von Nationalisten aufgenommen, die die Nation synthetisch
(durch einen Staat oder eine Organisation) herstellen wollten.“1

1. Zeitgeschichte und Zeitgenossen

Am 19. August 2015 erschien in der Zeitschrift The National Interest ein bemerkenswertes Interview, das längst vergessen wurde. Henry Kissinger (1923-2023) gab das Interview dem Herausgeber der Zeitschrift, Jacob Heilbrunn (geb. 1965), Anfang Juli in New York. Im Interview nahm Kissinger Stellung zu zahlreichen Themen der Außen- und Weltpolitik, darunter auch zu der 2014 ausgebrochenen Ukraine-Krise und zu Deutschlands Rolle in Europa.

Das Bemerkenswerte am Interview war Kissingers Äußerung zum Stellenwert der Geschichte in der US-amerikanischen Gesellschaft und im außenpolitischen Diskurs. Vom „geschichtslosen Volk“ (ahistorical people), das sich weigere, aus der Erfahrung zu lernen, sprach Kissinger mit Bezug auf „die fünf seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges von den USA geführten Kriege“.

„Der Trouble mit Amerikas Kriegen“ sei, meinte er, dass es nicht gelungen sei, „die Strategie mit der Innenpolitik in Einklang zu bringen.“ Wir sollten uns nicht in internationale Konflikte einmischen, wenn wir zum Kriegsbeginn kein Ende absehen können und nicht bereit seien, die nötigen Anstrengungen zu unternehmen, um das anvisierte Ziel zu erreichen.

Das war sicherlich eine Anspielung auf den verlorengegangenen Vietnamkrieg, der von massenhaften Protesten der Kriegsgegner begleitet wurde, die zu Verwerfungen in der US-Innenpolitik geführt haben. Das Bemerkenswerte ist dabei, dass Kissinger die misslungene „Strategie“ mit der Geschichtslosigkeit der Gesellschaft zu erklären versuchte: „In den Schulen wird Geschichte heute nicht mehr als Abfolge von Ereignissen gelehrt, sondern in Bezug auf Einzelthemen ohne Hintergrundwissen (in terms of themes without context) behandelt.

Auf Heilbrunns Nachfrage, ob damit gemeint sein soll, dass die Betrachtung geschichtlicher Ereignisse „aus dem gesamten Kontext gerissen“ wird, meinte Kissinger: Es sei noch schlimmer. Man habe „den bisherigen Kontext in einen völlig neuen Kontext gesetzt“. Statt Geschichtsunterricht betreibe man heute Geschichtsumdeutung.

„Alternative Fakten“ würde man es heutzutage nennen. Wie aktuell das Thema ist, zeigt Trumps Äußerung anlässlich der Feier zum 80jährigen Ende des Zweiten Weltkrieges, die in der russischen Öffentlichkeit Unverständnis auslöste. Die USA hätten laut Trump den „unvergleichlich“ großen Beitrag  zum Sieg im Ersten und Zweiten Weltkrieg geleistet. „Der Sieg wurde nur dank uns errungen“, schrieb Trump im sozialen Netzwerk Truth Social.

Die fehlende und/oder ideologisch (fehl)geleitete zeithistorische Bildung des modernen Menschen und das daraus resultierende mangelnde Urteilsvermögen bei der Beurteilung außen-, geo- und sicherheitspolitischen Prozesse der Gegenwart verleiten ihn zum „amateurhaften Drauflosdenken“ (Adorno), das die Realität verfälscht und propagandistisch durch eine gezielte Steuerung, Agitation und Manipulation verstellt und verunklart.

Wer sich der zeitgeschichtlichen Aufklärung entzieht und/oder keine Möglichkeit hat, sich aufklären zu lassen, verkennt zwangsläufig die außen- und sicherheitspolitischen Entwicklungen und läuft Gefahr von anderen fremdbestimmt bzw. vereinnahmt zu werden.

Unsere von einem zeitgeschichtlichen Kontext losgelösten Tageswertungen, unsere anerzogenen Wertvorstellungen wirken in einem solchen geschichtslosen Umfeld meist als leere und irreführende Schlagwörter, die nichts erklären und alles verklären, die tatsächlich stattfindenden außen- und sicherheitspolitischen Prozesse verschleiern und das Verschleierte verstellen.

Keine Zeit und keine Epoche der Menschheitsgeschichte lebten ohne die verstellte „Realität“. Was wir aber heute erleben, ist mehr als nur die Verstellung und die Verschleierung des Verstellten. Was wir heute vorfinden, ist vielmehr jene intellektuelle Unredlichkeit, die die Geschichte verstellt, ad absurdum führt und die Zeitgenossen zu den geschichtslosen Drauflosdenkern degradiert.

2. Kissingers Beurteilung der Ukraine-Krise

Am Beispiel der Ukraine-Krise zeigt sich die ganze Misere der Drauflosdenker in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik, worauf Kissinger uns in seinem Interview aufmerksam macht.

Gefragt danach, wie sich die USA und Europa aus der „Sackgasse in der Ukrainepolitik“ befreien können, meinte Kissinger: Es gehe nicht darum, die USA aus der „Sackgasse“ zu befreien, sondern die entstandene Ukraine-Krise so zu lösen, um „der internationalen Ordnung“ gerecht zu werden. Das setze aber die Kenntnisse der ukrainisch-russischen Geschichte voraus:

Das Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland werde immer einen besonderen Charakter haben. Es könne aus russischer und vielleicht auch aus ukrainischer Sicht niemals auf die Beziehung zweier souveräner Staaten reduziert werden. Die Ereignisse in der Ukraine lassen sich daher nicht einfach auf die Prinzipien zurückführen, die in Westeuropa funktionieren.

Dies vorausgeschickt, müsse man fragen, wie es überhaupt zur Ukraine-Krise kommen konnte. Es sei nicht vorstellbar, dass Putin sechzig Milliarden Euro ausgibt, um einen Sommerurlaubsort in ein olympisches Winterdorf zu verwandeln und eine Woche nach einer Abschlusszeremonie, die Russland als Teil der westlichen Zivilisation darstellte, eine militärische Krise heraufzubeschwören.

„Wie konnte das überhaupt passieren?“, fragte Kissinger und berichtete in diesem Zusammenhang über sein Treffen mit Putin im November 2013: Putin habe viele Themen, darunter auch die Ukraine, angesprochen, wobei er sie als ein rein „wirtschaftliches Problem“ angesehen hat, das Russland allein über Zölle und höhere Ölpreise lösen werde.

Vor diesem Hintergrund stellte Kissinger seine Sicht auf die Ereignisse dar, die 2014 zur Ukraine-Krise geführt haben: Der erste Fehler war ein „unbeabsichtigtes Verhalten“ (inadvertent conduct) der Europäischen Union. Sie verstand nämlich die Tragweite einiger ihrer eigenen Vorhaben nicht, beschwichtigte Kissinger und meinte:

Zum einen machte es die ukrainische Innenpolitik dem ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch (2010-1014) so gut wie unmöglich, die EU-Vertragsbedingungen zu akzeptieren, um wiedergewählt zu werden, sodass Janukowitsch sie unweigerlich ablehnen musste. Kissinger spielte hier auf das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine ab, dessen Unterschriftsweigerung letztlich zur Ukraine-Krise geführt hat.

Zum anderen betrachtete die russische Führung das Assoziierungsabkommen im Verlauf der immer schärfer werdenden Konfrontation zwischen der EU und Russland nicht mehr als ein rein ökonomisches Problem, worauf die EU-Europäer nach Kissingers Interpretation in Panik gerieten und Putin übermütig wurde.

Putin sah nämlich die Chance seines Lebens gekommen, ein lang gehegtes Ziel sofort umzusetzen und bot der ukrainischen Regierung 15 Milliarden Dollar an, um sie auf seine Seite zu ziehen und in die Eurasische Union zu integrieren.

Amerika bliebe dabei passiv, entrüstete sich Kissinger zu Unrecht. Denn die USA waren viel mehr in der Ukraine involviert, als Kissinger offenbar wusste. Beide Seiten handelten aufgrund ihrer falschen Wahrnehmung der jeweils anderen Seite, während die ausgebrochenen Unruhen in der Ukraine immer mehr Züge einer Revolte eingenommen haben und die Ukraine immer mehr in den Maidan-Aufstand schlitterte.

In Moskau sah es so aus, als nutze der „Westen“ die Unruhen aus, um die Ukraine aus der russischen Einflusssphäre zu drängen. Dann begann Putin sich „wie ein russischer Zar zu benehmen – wie Nikolaus I. vor über einem Jahrhundert. Ich entschuldige diese Taktik nicht, sondern stelle sie nur in den Kontext“, beteuerte Kissinger und meinte anschließend:

Wenn wir Russland als Großmacht ernst nehmen“ (If we treat Russia seriously as a great power) wollen, müssen wir ernsthaft prüfen, ob sich sein Anliegen mit unseren Bedürfnissen vereinbaren lässt. Wir sollten die Möglichkeiten eines nichtmilitärischen Status auf dem Gebiet zwischen Russland und den bestehenden Grenzen der Nato prüfen.“ Und wir sollten zumindest die Möglichkeit einer Zusammenarbeit zwischen dem Westen und Russland mit „einer militärisch blockfreien Ukraine“ (a militarily nonaligned Ukraine) nicht ausschließen.

„Die Ukraine-Krise entwickelt sich zu einer Tragödie, weil die langfristigen Interessen der Weltordnung mit dem unmittelbaren Bedürfnis nach der Wiederherstellung der ukrainischen Identität verwechselt werden. Ich befürworte eine unabhängige Ukraine in ihren bestehenden Grenzen. Ich habe mich seit Beginn der postsowjetischen Ära dafür eingesetzt. Wenn man heute liest, dass muslimische Einheiten für die Ukraine kämpfen, dann ist allerdings das Augenmaß verlorengegangen.“

Das sei ein Desaster (That’s a disaster, obviously). Denn das bedeute letztlich, dass die Zerschlagung Russlands zum Ziel geworden sei; das langfristige Ziel muss hingegen die Integration Russlands sein (It means that breaking Russia has become an objective; the long-range purpose should be to integrate it). Soweit Kissingers Würdigung des Geschehens.

3. Realpolitik: gestern und heute

Kissingers Beurteilung der Ukraine-Krise bedarf einiger Ergänzungen und Korrekturen. Das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine war das Kernstück der EU-Partnerschaftspolitik gegenüber den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Bereits seit März 1998 war das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen der EU mit der Ukraine als Vorstufe für ein Assoziierungsabkommen in Kraft.

Die Unterzeichnung des Abkommens hätte die Ukraine auf eine Freihandelspolitik und zur Übernahme der Normen der EU-Gesetzgebung verpflichtet und zu einer ökonomischen EU-Einfluss-Sphäre gemacht. Dem standen aber Russlands Wirtschaftsinteressen entgegen, weil das vorgesehene Assoziierungsabkommen den Außenhandel zwischen Russland und der Ukraine sowie das russische Projekt einer Eurasischen Union konterkarierte.

Es waren mit anderen Worten zunächst einmal allein die russischen Wirtschaftsinteressen im Spiel, die von der EU komplett ignoriert wurden. Die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens hätte die wirtschaftspolitische Konfrontation zwischen Russland und der EU verschärft und geopolitisiert.

Dass der geopolitische Charakter des EU-Abkommens mit der Ukraine außer Frage war, darauf deutete bereits eine Kooperation der Vertragspartner in der Außen- und Sicherheitspolitik hin. Dieser Teil des Abkommens wurde nach dem Staatsstreich in Kiew am 21. März 2014 auch tatsächlich unterzeichnet.

Der wirtschaftliche Teil des Abkommens beinhaltete eine Freihandelspolitik, die die Ukraine u. a. zum Abbau von Energiesubventionen zwingen sollte, was ein innen- und außenpolitisches Konfliktpotential in sich barg. Im Transit schaffte das Abkommen Konfliktpotential mit Russland, von wo das Gas geliefert wurde.

In Anbetracht der hohen Kosten des Abkommens, die für die wirtschaftlich klamme Ukraine kaum zu verkraften waren, und der handelspolitischen Abhängigkeit von Russland beschloss die ukrainische Regierung am 21. November 2013 kurz vor dem bevorstehenden EU-Gipfel in Vilnius die Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen mit der EU auszusetzen, zumal die EU zu Kompensationsmaßnahmen für die schwierige Übergangszeit für die Ukraine nicht bereit war.

Unmittelbar danach begann der eigentliche diplomatische EU-Poker, um zu verhindern, dass Russland ins Spiel kommt. Auf Anregung Russlands, Dreiergespräche der Ukraine mit der EU und Russland auf dem bereits terminierten Gipfel in Vilnius zu führen, um dem hochverschuldeten Land zu helfen, lehnten die Eurokraten empört ab.

Der EU-Kommissionspräsident, José Manuel Barroso (2004-2014), lehnte Russlands Anregung am 29. November 2013 mit der Feststellung brüsk ab: „Wir können kein Veto eines anderen Landes akzeptieren“. Die Zeit der „eingeschränkten Souveränität“ sei in Europa vorüber, fügte Barroso arrogant hinzu. Und der grüne EU-Abgeordnete, Werner Schulz, meinte stellvertretend für viele: „Absolut inakzeptabel ist der russische Anspruch, bei den Wirtschaftsbeziehungen der EU zur Ukraine mitzureden.“

Zur gleichen Zeit brach Streit zwischen den USA und der EU darüber aus, wie sie in der Ukraine taktisch vorgehen sollten. Victoria Nuland (zuständige Abteilungsleiterin für Europa im US-Außenministerium), die mittlerweile zur Hassfigur in Russland geworden ist und mit ihrer Äußerung „Fuck the EU“ bekannt wurde, stützte sich in diesen wirren Zeiten auf die angedrohten Zwangsmaßnahmen der Obama-Administration und sprach direkt beim ukrainischen Präsidenten vor.

Danach gab sie prahlerisch von sich an: „Nach unserem Treffen habe ich keine Zweifel daran, dass Präsident Janukowitsch weiß, was er zu tun hat.“ Zur gleichen Zeit warb die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton (2009-2014) mit einem Hilfskredit des IWF über 15 Milliarden Dollar, der freilich mit harten Auflagen verbunden war.

Das hätte wiederum eine politische Bevormundung durch die EU-Kommission und ein IWF-Diktat zufolge gehabt. Lange Rede, kurzer Sinn: Am Ende des diplomatischen und machtpolitischen Tauziehens standen der Sturz der Regierung und der Umsturz der geltenden Verfassungsordnung. Der geopolitische Machtpoker wurde im Sinne des „Westens“ entschieden.

Diese ganze Entwicklung kommentierte der Wiener Volkswirt, Joachim Becker, 2014 mit folgenden Worten:

„Insgesamt geht das Verhalten der äußeren Akteure in Richtung Konfrontation, die in der Ukraine die Spannungen und Konflikte weiter verstärkt. … Im Rahmen der sozialen Proteste gegen Janukowytsch haben faschistische ukrainische paramilitärische Kräfte eine markante Rolle gespielt. Nach dem politischen Umsturz und der Bildung einer als prowestlich geltenden neuen Regierung aus nationalliberalen und faschistischen Kräften, die primär das Milieu des westukrainischen Nationalismus vertreten, sind dann auch prorussische paramilitärische Gruppen im Osten des Landes aufgetaucht. Die Tendenzen der Para-Militarisierung und der nationalistischen Rhetorik erinnern mich an Jugoslawien. Nach der Abtrennung der Krim und deren Anschluss an Russland ist ein weiterer Desintegrationsprozess nicht auszuschließen.“2

Beckers Befürchtungen wurden, wie wir heute wissen, mehr als übertroffen. Der im Jahr 2014 ausgebrochene ukrainische Bürgerkrieg artete acht Jahre später 2022 in einen großflächigen Staatenkrieg zwischen der Ukraine und Russland aus, um im Kriegsverlauf sodann zum Proxykrieg zu werden.

„Die Ukraine-Krise entwickelt sich zu einer Tragödie“ (The Ukraine crisis is turning into a tragedy), warnte Kissinger, wie gesehen, bereits 2015 in seinem Interview und nahm damit deren künftige Entwicklung geradezu prophetisch vorweg. Die Begründung seiner Prophezeiung ist ebenso bemerkenswert wie bedenklich: „Die langfristigen Interessen der Weltordnung“ (the long-range interests of global order) kollidieren „mit dem unmittelbaren Bedürfnis nach der Wiederherstellung der ukrainischen Identität“ (the immediate need of restoring Ukrainian identity). Und das sei inakzeptabel.

Was Kissinger uns über „die langfristigen Interessen der Weltordnung“ sagen wollte, hat er bereits vor 50 Jahren in seiner Zeit als Nationaler Sicherheitsberater und Außenminister (1969-1977) unter Richard Nixon formuliert.

„Da man den Sturz der Sowjets als Hauptaufgabe amerikanischer Außenpolitik betrachtete, waren umfassende Verhandlungen, ja selbst ein entsprechender diplomatischer Plan, so lange zwecklos (wenn nicht gar unmoralisch), wie eine >Position der Stärke< keinen Wandel ihrer Absichten herbeiführte,“ schreibt Kissinger 1994 retrospektiv3.

Die Ost-West-Beziehungen waren bei Nixons Machtübernahme „in eine Sackgasse geraten. Die traditionelle Eindämmungstheorie hatte eine diplomatische Pattsituation herbeigeführt.“ Diese Pattsituation erforderte laut Kissinger eine neue, auf ganz anderer Grundlage fußende Außenpolitik. An die Stelle einer „totalen Konfrontation (im Sinne der >Theologen<)“ oder „totalen Versöhnung (wie die >Psychiater< forderten)“ sollte nach der Nixon-Doktrin „das nationale Interesse als maßgebliches Kriterium für eine langfristige amerikanische Außenpolitik“4 treten.

Und deswegen spricht Kissinger 2015 in seinem Interview davon, dass es „ein Desaster“ wäre, wenn der Westen „die Zerschlagung Russlands zum Ziel“ hätte, statt Russland langfristig integrieren zu wollen (vgl.: It means that breaking Russia has become an objective; the long-range purpose should be to integrate it).

Die Nixon-Administration ging vom realpolitischen Grundsatz aus, dass die Verfassungsordnung der Supermächte als legitim erachtet und deren Existenz getreu dem Motto anerkannt wird: „Nicht der Kommunismus, sondern die internationale Anarchie sei die größte Gefahr.“5

Vor diesem Hintergrund hat Nixon seine Überlegungen in einem Pressegespräch auf Guam am 24. Juli 1969 dargelegt, die zu einem amtlichen Dokument der amerikanischen Regierung erhoben und offiziell als „Nixon-Doktrin“ verkündet wurden. Sie formulierte drei um den Begriff des Friedens zentrierten Maximen, die die US-Außenpolitik prägen sollten: Partnerschaft – Stärke – Verhandlungsbereitschaft.6

Diese Friedensvision ist heute kein vorrangiges Ziel der EU-Außen- und Sicherheitspolitik mehr. Die „Vernunft des nuklearen Friedens“ (zurzeit des Kalten Krieges) ist heute vergessen und irrelevant geworden.

Die bipolare Weltordnung, in der die Supermächte noch „in den Abgrund“ schauten und darin „die Trümmer ihrer eigenen Existenz“ sahen, gibt es nicht mehr. Das „aus Furcht und Vernunft“ entstandene bipolare System, das Raymond Aron in den Worten fasste: >Friede unmöglich, Krieg unwahrscheinlich<, erzwang „den langen nuklearen Frieden.“7

Im Gegensatz zu Nixons Friedensvision: „Partnerschaft – Stärke – Verhandlungsbereitschaft“ hört man heute seitens der EU-europäischen Kriegsfalken einen ganz anderen Dreiklang: Feindschaft-Stärke-Kriegstüchtigkeit.

All denen, die die Ukraine gegen die „russische Aggression“ „bis zum letzten Ukrainer“ (Boris Johnson) verteidigen wollen, möchte man mit Kissinger zurufen: „Wenn wir Russland als Großmacht ernst nehmen wollen, müssen wir frühzeitig prüfen, ob sich sein Anliegen mit unseren Bedürfnissen vereinbaren lässt. Wir sollten die Möglichkeiten eines Status (der Ukraine) als nichtmilitärische Gruppierung auf dem Gebiet zwischen Russland und den bestehenden Grenzen der Nato prüfen“ (a status of nonmilitary grouping on the territory between Russia and the existing frontiers of NATO).

Kissingers Plädoyer für die blockneutrale Ukraine lehnt die EU nach wie vor rigoros ab und begeht dadurch einen geo- und sicherheitspolitischen Selbstmord. „Quos Deus vult perdere, prius dementat“ (Wen Gott vernichten will, dem nimmt er zuerst den Verstand).

4. Der ukrainische Nationalismus: gestern und heute

Lässt sich der Neutralitätsstatus überhaupt mit der heutigen Ukraine vereinbaren? Die Frage ist untrennbar mit der Frage nach einer „Wiederherstellung der ukrainischen Identität“ (the immediate need of restoring Ukrainian identity) verbunden, von der Kissinger in seinem Interview 2015 sprach. Unklar blieb freilich, welche „Ukrainian identity“ er damit meinte.

Seit der Gründung der Ukraine als eines souveränen Staates nach dem Untergang des Sowjetreiches 1991 ist sie auf der Suche nach einer Neuschaffung bzw. Neudefinition des ukrainischen Nationalbewusstseins. Und wer sucht, der findet!

Diese Suche ging von Anfang an Hand in Hand mit der Heroisierung der ukrainischen Nationalisten einher, die im Zweiten Weltkrieg mit Nazideutschland kollaborierten. Einer der prominentesten Repräsentanten des ukrainischen Nationalismus war Stepan Bandera (1909-1959), der in der Ukraine schon sehr früh als „Freiheitskämpfer“ verklärt wurde.8

Gleich zu Beginn der ukrainischen Eigenstaatlichkeit findet seit August 1991 ein Prozess der Heroisierung der ehem. Führer der nationalistischen Bewegung der 1920er-/1940er-Jahre statt. In der westukrainischen Stadt Kolomea (Oblast Iwano-Frankiwsk) wurde eine der ersten Büsten zu Ehren von Stepan Bandera errichtet.

Bis heute wurden mehr als 45 Monumente zu Ehren Banderas gegründet, sechs Museen eröffnet und rund 50 Straßen in der Ukraine zu Bandera-Straßen (Stand: 25. Dezember 2024) umbenannt. Dazu muss man wissen, wer Bandera ist, der nie in der Ukraine lebte und polnischer Staatsangehöriger war.

Im Alter von 24 Jahren war er bereits in die Leitung der „Organisation der ukrainischen Nationalisten“ (OUN) aufgestiegen. Die OUN fokussierte ihre Aktivitäten in den ersten Jahren auf Polen. Am 15. Juni 1934 ermordeten OUN-Terroristen den polnischen Innenminister Boleslaw Pierazki. Am Attentat war auch Bandera beteiligt. Er wurde zunächst zum Tode, dann zu lebenslanger Haft verurteilt. Für ihn wurden die Nazis zu Befreiern; sie holten ihn nach dem Einmarsch der Wehrmacht aus dem Knast.9

In den Jahren 1920-1939 verübten UWO (Ukrainische Militärorganisation) und OUN etwa 60 Terroranschläge, deren Mehrheit gegen jene Ukrainer gerichtet war, welche die OUN als Verräter ausgemacht haben. Ein OUN-Mitglied, Eugen Stachiw, berichtete über einen Ideologie-Kursus, an dem er teilnahm, wie folgt:

„… Programme der Vorlesungen waren … hundertprozentige Entlehnungen der totalitären faschistischen Ideologie. … Die Nation muss eine eigene Sprache, Territorium, Geschichte und Kultur, aber am wichtigsten – den Europäismus haben. Nur europäische Länder können Nationen sein. … Eine Rasseneinstellung. … Das Wort >Demokratie< benutzte man nur mit dem Epitheton >verrottete<.“10

1941 waren OUN-Trupps am Überfall auf die Sowjetunion beteiligt und verübten gemeinsam mit den Deutschen die Massaker im besetzten Lemberg (russ. Lwów, ukr. Lwiw). Tausende Menschen, darunter viele Juden, wurden bestialisch ermordet. In die Mordtaten war auch OUN-Anführer Bandera involviert.

Im Juni 1941 wurden mehrere Tausend ukrainische Nationalisten nach einem gescheiterten Aufstand in den Lemberger Gefängnissen inhaftiert und im Zuge des Vormarsches der deutschen Truppen im Auftrag des russischen Volkskommissariats ermordet. Nach Lembergs Einnahme durch die deutsche Wehrmacht und das von Bandera mitinitiierte ukrainische Freiwilligenbataillon „Nachtigall“ kam es zu Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung Lembergs.

„Die OUN verhaftete Juden und trieb sie in Massen zu den Gefängnissen, in denen sich die Leichen der vormaligen Insassen befanden. Diese mussten sie aus Massengräbern und Zellen holen und zur Leichenschau in die Gefängnishöfe bringen. … Allein an diesem Tag wurden über hundert Menschen erschlagen und unzählige verletzt. Innerhalb der ersten drei Tage nach dem Einmarsch der Deutschen wurden ungefähr 7000 Juden umgebracht. >Volk! Das musst Du wissen! Deine Führung – das ist die Führung der ukrainischen Nationalisten, die OUN. Dein Führer – Stepan Bandera<, so lautete die Propaganda für diese Gräuel in einer Ansprache aus dem Führungskreis am 1. Juli.“11

Am 30. Juni 1941 rief Bandera in Lemberg den ukrainischen Staat auf, was allerdings die Deutschen nicht tolerierten. Die Nazis gestanden „ihren slawischen Kollaborateuren anders als das Kaiserreich keinerlei Eigenständigkeit als Gegenleistung für die antisowjetischen Hilfsdienste mehr zu. Bandera wurde festgenommen und bald ins KZ Sachsenhausen verschleppt, aus dem er erst im September 1944 entlassen wurde. Während er interniert war, begingen die OUN und die von ihr kontrollierte Ukrainische Aufstandsarmee (Ukrajinska Powstanska Armija, UPA) zahlreiche Massaker in den okkupierten ukrainischen Gebieten, darunter auch Morde an Jüdinnen und Juden. >Unsere Miliz führt jetzt gemeinsam mit den deutschen Organen zahlreiche Verhaftungen von Juden durch<, meldeten OUN-Milizionäre am 28. Juli1941 nach Berlin: >Vor der Liquidierung verteidigen sich die Juden mit allen Methoden<. Verknüpft mit derlei Mordaktionen, versuchte die OUN nach der gescheiterten zweiten Staatsgründung zumindest auf lokaler und regionaler Ebene staatsähnliche Strukturen in den deutsch besetzten Gebieten zu schaffen. Diese Art von Ordnungstätigkeit ließen die Nazis, weil sie ihnen die mörderische Besatzungstätigkeit erleichterte, auch durchaus zu.“12

Auf der Suche nach der eigenen ukrainischen Identität unternahmen die ukrainischen Nationalisten nun nach dem Zerfall des Sowjetreiches den Versuch, Bandera, UPA und OUN als Kämpfer für die ukrainische Unabhängigkeit zu verklären, wohl wissend, dass die ideologische Übereinstimmung zwischen Bandera und den Nazis frappierend war.

Der russische Historiker, Ilija Altmann, weist in seinem Werk „Opfer des Hasses. Der Holocaust in der UdSSR 1941-1945“ (2008) nach, dass die Pläne der OUN inhaltlich an die >Endlösung der Judenfrage< der Nazis anknüpfen. Noch vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht lautete der Beschluss eines OUN-Kongresses im April 1941: „Die Juden sind die am meisten ergebene Stütze des bolschewistischen Regimes und die Avantgarde des Moskauer Imperialismus in der Ukraine. OUN kämpft gegen die Juden, weil sie die Stütze des Moskauer bolschewistischen Regimes sind, gleichzeitig wird den Volksmassen erklärt, dass Moskau der Hauptfeind ist.“

Im Mai 1941 heißt es in einer Instruktion „Zum Kampf und die Tätigkeit der OUN während des Krieges“, dass „Juden im Gegensatz zu Polen und Russen auch in der Phase nach dem Krieg nicht assimilationsfähig sind, sie also vernichtet oder zwangsumgesiedelt werden müssten.“13

Der ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko (2005-2010) verlieh kurz vor Ende seiner Amtszeit Bandera die höchste Auszeichnung des ukrainischen Staates: den Titel „Held der Ukraine“. Den gleichen Titel verlieh Juschtschenko dem Kriegsverbrecher und Oberbefehlshaber der „Ukrainischen Aufstandsarmee“ (UPA), Roman Schuchewytsch (1907-1950), bereits am 12. Oktober 2007.

Erst die Ehrung Banderas löste 2010 eine Welle der Empörung im Ausland als auch in der Ukraine selbst aus. Das EU-Parlament protestierte mit einer Resolution gegen Banderas Glorifizierung. Mehrere jüdische Organisationen, darunter das Simon-Wiesenthal-Zentrum, verurteilten die Ehrung und wiesen darauf hin, dass Bandera Mitschuld am Tod von Tausenden Juden trage.14

Mit Petro Poroschenko, der nach dem Staatsstreich 2014 zum ukrainischen Staatspräsidenten am 7. Juni gewählt wurde, erreichte die Ehrung der OUN und UPA einen vorläufigen Höhepunkt. Am Tag der Gründung der UPA, dem 14. Oktober 2014, erlies Poroschenko einen Ukas zur Einführung eines neuen Feiertags zu Ehren der Verteidiger der Ukraine.

Im April 2015 hat das ukrainische Parlament das Gesetz „Über den rechtlichen Status der Teilnehmer des Kampfes für die Unabhängigkeit der Ukraine im 20. Jahrhundert“ eingenommen, das die OUN und UPA als Organisationen anerkannt hat, die „für die Unabhängigkeit der Ukraine im 20. Jahrhundert gekämpft haben.“

Das Gesetz legte fest, dass der Staat die Einrichtung von Memorialen, die Wiederherstellung von Denkmalen und die Verewigung der Namen und Pseudonymen der Kämpfer fördern soll.

Noch im Jahr 2009 glaubte Alexander Gogun zu wissen: „Die Radikalität und der Fanatismus beim Agieren der OUN, der Totalitarismus in der Ideologie, die Zusammenarbeit mit dem Dritten Reich, die durchgeführten ethnischen Säuberungen – all das bringt vielen Ukrainern Zweifel, ob die Nationalisten für eine solche unabhängige Ukraine gekämpft haben, in welcher man auch leben wollte.“15

Diese Zeiten, in denen man solche Zweifel hatte, sind längst vorbei. 16 Jahre später können wir konstatieren: In Zeiten der ausgerufenen „Zeitenwende“ in Deutschland, des grassierenden Russenhasses in der EU und der Machtergreifung der ukrainischen Nationalisten 2014 ist Bandera in der Ukraine und in Europa längst salonfähig geworden. Von Empörung und Entsetzen ist keine Spur mehr!

Schlimmer noch: Das demokratische Europa unterstützt die ukrainischen Antidemokraten tatkräftig mit Geld in ihrem „gerechten Hass“ gegen Russen und „Putins Russland“, toleriert die Exzesse des ukrainischen Ultranationalismus und seine Menschenrechtsverletzungen und liefert der Ukraine tonnenweise Waffen in ihrem „gerechten Krieg“ gegen die russischen Invasoren.

Heute sind die EU-Machteliten und die Eurokraten mit Ursula von der Leyen an der Spitze stolz darauf, zusammen mit den ukrainischen Nationalisten „Слава Україні“ (Ruhm der Ukraine) zu rufen. Wenn sie diese Anrede so bedenkenlos verwenden, dann sollten sie wenigstens deren Entstehungsgeschichte kennen.

Laut dem Historiker Alexander Zaitsev verbreitete sich diese Anrede in den 1930er-Jahren und wurde zum Slogan der OUN.16 Während des zweiten Kongresses in Rom im August 1939 übernahm die OUN offiziell den Gruß „Slawa der Ukraine! Slawa dem Führer!“, verbunden mit dem Erheben der rechten Hand.17  

Eine ähnliche Geste zeigten bekanntlich auch die NSDAP, die italienischen Faschisten, die Ustascha in Kroatien, die Falangisten in Spanien und die Hlinka-Garde in der Slowakei. Dass dieser Gruß eine Anlehnung an den Nazi-Gruß war, steht wohl außer Frage.

Ja, in einer „schönen heilen Welt“ leben wir heute! Und dann sagt man uns: Die Geschichte wiederhole sich nicht! Wirklich nicht?

Anmerkungen

1. Golczewski, F., Deutsche und Ukrainer. 1914-1939. Paderborn – München -Wien – Zürich 2010, 24.
2. Becker, J., Interview „EU-Expansionspolitik und die Ukraine-Krise“. Solidarwerkstatt-Blatt Österreich. 3.
Juni 2014.
3. Kissinger, H., Die Vernunft der Nationen. Über das Wesen der Außenpolitik. Berlin 1994, 782.
4. Kissinger (wie Anm. 3), 784, 788.
5. Junker, D., Power and Mission. Was Amerika antreibt. Freiburg 2003, 108.
6. Vgl. Nixons „Neue Friedensstrategie“, in: Europa-Archiv 25 (1970), 145-174.
7. Stürmer, M., Vernunft des nuklearen Friedens scheint vergessen, 16.09.2014.
8. Gogun, A., Stepan Bandera – ein Freiheitskämpfer? 13. Oktober 2009; Salomon, L./Hobe, I./Tulatz, H.,
Nazikollaborateur als neuer Held der Ukraine, Beiträge – jüdisches Berlin, 1. April 2010.
9. Vgl. Kronauer, J., Die ukrainische Sache. Junge Welt, 21. Juni 2012.
10. Zitiert nach Gogun (wie Anm. 8).
11. Zitiert nach Salomon u. a. (wie Anm. 8).
12. Kronauer (wie Anm. 9).
13. Zitiert nach Salomon u. a. (wie Anm. 8).
14. Vgl. Salomon u. a. (wie Anm. 8).
15. Gogun (wie Anm. 8).
16. Александр Зайцев, Споры о Бандере: размышления над книгой Гжегожа Россолиньского-Либе Жизнь и посмертная жизнь украинского националиста (Grzegorz Rossolinski-Liebe: Stepan Bandera — The Life and Afterlife of a Ukrainian Nationalist). Форум новейшей восточноевропейской истории и культуры. Русское издание. Т. 12 (2015), С. 282 ff.
17.  Павло Гай-Нижник Самолегітимізація ОУН(р) і визначення моделі майбутньої Української Держави на ІІ Великому зборі ОУН (квітень 1941 р.) Архивная копия от 27 ноября 2018 на Wayback Machine. Вісник Львівського університету. Серія історична. — Вип.53. До 75-річчя Української Повстанської Армії. Львів: ЛНУ ім. Івана Франка, 2017, С.286-310.

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