Verlag OntoPrax Berlin

Chaos statt Kosmos?

Zur Frage nach der US-Führungsrolle in der Welt

Übersicht

1. Der „Messias-Komplex“?
2. Weder Sicherheit noch Frieden?

Anmerkungen

„Wenn aber der Krieg ein Greul, und der Friede unmöglich
ist, wo gibt es da noch einen Ausweg?“
(Raymond Aron)1

1. Der „Messias-Komplex“?

Unter dem Titel „Geschichte als andauerndes Chaos“ veröffentlichte der ungarische Schriftsteller und Radiojournalist George Urban 1982 ein „Gespräch mit Zbigniew Brzezinski“. In dem noch zurzeit des „Kalten Krieges“ stattgefundenen Gespräch sprach Brzezinski von der Geschichte als einem „stürmischen, chaotischen Vorgang, der einen andauernden Konflikt zwischen alternativen Lebenskonzepten umfasst“2. Geschichte als ein „stürmischer, chaotischer Vorgang“? Als Symbol der Unordnung und Leere steht Chaos in der griechischen Mythologie im Gegensatz zum Kosmos als die Verkörperung eines (schmuckvollen) Wohlgeordnet-Seins der Welt.

Genau dreißig Jahre später wiederholte Brzezinski nunmehr vor dem Hintergrund einer ganz anderen geopolitischen Realität in seinem letzten, 2012 erschienenen Werk „Strategic Vision: America and the Crisis of Global Power“ diesen Chaos-Gedanken. Der „Kalte Krieg“ der bipolaren Weltordnung ist im Jahre 2012 bereits seit gut zwanzig Jahren tot. Die entstandene unipolare Weltordnung verwandelte sich jedoch keineswegs in eine wohlgeordnete Weltordnung. Und es ist bereits längst vor dem Jahr 2012 klar geworden, dass die seit dem Untergang des Sowjetreiches bestehende US-Hegemonialordnung keinen richtigen Kosmos – keine das „Ende der Geschichte“ besiegelte wunderbare Welt – geschaffen hat.

Vielmehr driftete die unipolare Weltordnung immer mehr in eine Abwärtsspirale und befand sich in einem Schwebezustand, der weder Chaos noch Kosmos verkörperte und zwischen „Ordnung“ und „Unordnung“ schwankte.

Und so sinniert Brzezinski besorgt darüber, wie die Welt denn aussehen würde, wenn die USA nicht mehr der Hegemon bleiben würden. Nach seiner festen Überzeugung würde ohne die US-Hegemonie der Welt das Chaos drohen. In Anbetracht des triumphalen Sieges der westlichen liberal-demokratisch verfassten Gesellschaften über den Sowjetkommunismus fragt man sich freilich verwundert: Wie konnte das überhaupt passieren, dass das zwanzigjährige Bestehen der unipolaren Weltordnung keine wohlgeordnete Welt mit sich brachte? Wieso beschlich Brzezinski das ungute Gefühl, dass mit der US-Hegemonie einerseits etwas nicht stimme? Ohne den US-Hegemon würde aber nach seiner Lesart andererseits der Welt noch viel Schlimmeres widerfahren.

Kurz vor seinem Ableben nimmt Brzezinski in einem Spiegel Online-Interview vom 29. Juni 2015 zu der Frage Stellung, ob es einen neuen Kalten Krieg zwischen Russland und den USA gibt. Er stellt ernüchtern fest: „Wir sind längst im Kalten Krieg. Zum Glück ist es weiterhin unwahrscheinlich, dass daraus ein heißer Konflikt wird.“ Sollte dieses Eingeständnis Brzezinskis bedeuten, dass die unipolare Weltordnung der USA uns zu einem neuen „Kalten Krieg“ geführt und die US-Hegemonie es nicht geschafft hat, eine bessere Weltordnung zu errichten, um uns von einem neuen „Kalten Krieg“ zu bewahren? Sollte daraus nicht geschlussfolgert werden, dass ohne die US-Hegemonie die Welt womöglich besser geworden wäre?

Oder stimmt Brzezinskis Postulat von 1982 doch, dass die Weltgeschichte nicht weiter als ein unkontrollierter und ungeordneter „chaotischer Vorgang“ sei und Chaos sozusagen ohne unser Zutun geschehe? Gelangten wir also vom „Kalten Krieg“ der bipolaren Weltordnung zu einem „Kalten Krieg“ der unipolaren Weltordnung wirklich ohne das eigene Zutun? Oder verdanken wir vielmehr den USA die Entwicklung zu einem neuen „Kalten Krieg“? Diese „ungeheure“ Behauptung hätte Brzezinski vermutlich empört weit von sich gewiesen.

1982 – 2012 – 2022! Innerhalb von nur vierzig Jahren hat die Welt seltsame Metamorphosen erlebt: Vom „Kalten Krieg“ der bipolaren Weltordnung über die unipolare Weltordnung des US-Hegemonen zurück zum „Kalten Krieg“ einer Weltunordnung, der nunmehr unter ganz anderen Vorzeichen stattfindet! Findet etwa vor unseren Augen eine ewige Wiederkehr des Immergleichen statt? Und würde der Welt wirklich – wie Brzezinski mutmaßte – ohne den US-Hegemon Chaos drohen?

An Brzezinskis Credo hält das außenpolitische US-Establishment nach wie vor fest. So nahm der US-Außenminister Antony Blinken in einem Interview vom 17. Oktober 2022 zur künftigen Weltordnung Stellung, indem er im Grunde nichts Neues sagte und nur noch Brzezinski paraphrasierte: „Aus unserer Sicht geht es heute um den Wettbewerb um eine künftige Weltordnung. Welche Werte sollte sie nach dem Ende des Kalten Krieges widerspiegeln? Es war bereits nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges klar, dass die Welt sich nicht selbst organisieren kann. Für die USA haben wir folgende Wahl: Wenn wir nicht die Führungsrolle bei der Ausformung der künftigen Weltordnung übernehmen, dann geschieht eins von beiden: Entweder wird diese Rolle jemand anderer wie etwa China übernehmen, das mit unseren Werten und Interessen nicht übereinstimmt. Oder wird die Führungsrolle – was noch schlimmer ist – von keinem besetzt; in diesem Falle bekommen wir ein Vakuum, das mit schlechten Dingen gefüllt wird. Deswegen möchten wir diesen Prozess anführen, um die bessere Welt zu schaffen.“

Ohne den US-Hegemon würde der Welt auch nach Blinkens Glaubensbekenntnis nur Chaos drohen. Und das sagt ein US-Außenminister dreißig Jahre nach dem Bestehen „seiner“ unipolaren Weltordnung, die zu einem erneuten „Kalten Krieg“ geführt hat. Wieso beansprucht der gescheiterte Hegemon schon wieder eine Führungsrolle in der künftigen Weltordnung?

Hinter diesem erneuten Führungsanspruch der USA steht die US-amerikanische außenpolitische Tradition der vergangenen hundert Jahre. Blinken verkörpert mit seiner Äußerung – bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt – eben diese Tradition der US-Demokraten, die längst vom Mythos ergriffen sind, dass der Welt ohne die USA angeblich Chaos drohe.

In der Tradition eines Woodrow Wilson stehend, der die Welt für die Demokratie sicher machen wollte, machten vor allem die US-Demokraten die Missionierung der „westlichen Werte“ zum Credo ihrer Außenpolitik. Bereits der 32. Präsident der Vereinigten Staaten, der US-Demokrat Franklin D. Roosevelt, war mit dem Vorwurf eines „Messias-Komplexes“3 behaftet.

Roosevelts „Messias-Komplex“ erntete allerdings im Gegensatz zum heutigen außenpolitischen US-Establishment vom damaligen konservativen Spektrum der amerikanischen Elite Hohn und Spott. Dieses „kindische Sendungsbewusstsein“ – spottete der Historiker Charles A. Beard (1874-1948) – sei „nur dem der Bolschewisten gleichzusetzen, die ebenfalls das Evangelium des einen Modells für die ganze Welt verkündeten.“4 Die polemische Pointe an die Adresse der Außenpolitik Roosevelts seitens eines „isolationistischen Historikers“ verrät ungewollt einen Verwandtschaftscharakter einer jeden ideologisch geleiteten und hegemonial ausgerichteten Außenpolitik, die immer darauf hinaus ist, die eigene Rechts-, Verfassungs- und Lebenskultur der ganzen Welt oktroyieren zu wollen.

Dieser „Messias-Komplex“ führte in den vergangenen dreißig Jahren zu Chaos, Verwüstung, Verelendung und Zerstörung zahlreicher Länder der nichtwestlichen Welt. Der gedemütigte Nichtwesten lässt freilich bis heute die westliche Welt nicht in Ruhe und kommt wie ein Bumerang rachsüchtig immer wieder und immer öfter mit Attentaten, Terror und Zerstörung in den Westen zurück, um dessen „heile Welt“ auch leidend sehen zu können.

Um der entstandenen Chaoswelt einen Schein der Legalität zu verpassen, beansprucht der Westen für sich – wie selbstverständlich – eine völkerrechtliche Deutungshoheit, die zwar seinem hegemonialen Selbstverständnis entspricht, nichtsdestoweniger aber im eklatanten Widerspruch zum Gewaltverbot der UN-Charta steht. Die eigenmächtige, normative Umdeutung des UN-Rechts sucht der Westen gleichzeitig derart flexibel zu handhaben, dass er nicht einmal die Selbstbindung an die eigene Rechtsauslegung zu akzeptieren gewillt ist. Die hegemoniale Weltordnung beansprucht schlicht ein freies Ermessen selbst zur Rechtsauslegung der eigenen Selbstermächtigung. Das ist aber eine Entleerung des UN-Völkerrechts und dessen Substituierung durch das sich selbst legitimierende US-Hegemonialrecht. Seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine hat sich daran nichts geändert.

Die Selbstlegitimation führt freilich dazu, dass die von den USA vorangetriebene Entwicklung neuer Verhaltensnormen und Spielregeln in den internationalen Beziehungen – die sog. „regelbasierte Weltordnung“ – eine universale Geltung beanspruche, „ohne sich jedoch in gleicher Weise auf die Schaffung von Verfahrensregeln für die Umsetzung dieser Normen im Rahmen des UN-Systems einzulassen“5. Das ist aber nichts anderes als eine typische Vorgehensweise einer Hegemonialmacht, welche die anderen Staaten und Nationen dazu verpflichtet, sich an Verträge und Vereinbarungen genauso wie an Verhaltensnormen und Spielregeln zu halten, ohne sich selbst daran binden zu lassen. Nach innen liberal, nach außen hegemonial: Das ist bis heute der Motor der in den letzten dreißig Jahren bestehenden und vom US-Hegemon dominierten unilateralen Weltordnung.

Diese unipolare Weltordnung will der amtierende US-Außenminister Antony Blinken bis auf weiteres festschreiben. Wie er das erreichen will, das weiß er vermutlich selber nicht, sonst würde er nicht – wie Zbigniew Brzezinski bereits zehn Jahre zuvor – darüber besorgt sein, dass die Welt ohne die US-Führungsrolle ins Chaos stürzen würde, falls solche „dunklen Mächte“ wie China die Führungsrolle in der Welt übernehmen würden.

Mit welchem Recht beanspruchen die USA diese Führungsrolle? Wenn man die vergangenen dreißig Jahre Revue passieren lässt, so hat die US-Führungsmacht mehr Chaos als Kosmos, mehr Weltunordnung als Weltordnung, mehr Elend für viele als Wohlstand für alle geschaffen. Die USA haben ihr Recht auf die Weltführerschaft längst verwirkt und unsereiner stellt in der letzten Zeit immer wieder die Frage aller Fragen: Wieso braucht „die“ Welt überhaupt die Führung einer einzigen Nation? Sollte man vielleicht versuchen, unseren Kosmos auch ohne irgendeine Führungsnation zu schaffen? Es stellt sich erneut die altehrwürdige Frage der europäischen Geschichte: Hegemonie oder Gleichgewicht?

2. Weder Sicherheit noch Frieden?

Wer in den Jahren 2014 bis 2021 die Augen offen hielt, der konnte sich denken, dass eine wachsende Konfrontation zwischen Russland und dem Westen auf dem Felde der Ukrainepolitik unweigerlich zu einer Eskalation – wenn nicht gar zu einer militärischen Konfrontation – führen wird. Wäre der gegenwärtige Ukrainekonflikt allein regionaler Natur, so hätte man hoffen dürfen, dass er sich nicht zu einer geopolitischen, geoökonomischen und mittelbaren militärischen Konfrontation zwischen Russland und dem gesamten Westen (der EU, den USA und der Nato) auswachsen würde.

Dieser Konflikt hat das Zeug, die in den vergangenen dreißig Jahren ausgebildete unipolare Weltordnung von Grund auf zu verändern. Es steht für die beiden Antagonisten viel – wenn nicht gar alles – auf dem Spiel.

Erleidet Russland in welchem Sinne auch immer eine militärische Niederlage, steht die Zukunft Russlands als eurasische Raummacht zur Disposition. „Wenn die Ukraine verliert“, dann verliert laut Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg „auch die Nato“. Und nicht nur das: Erleidet der Westen auf ukrainischem Boden eine indirekte militärische Niederlage, so steht nicht nur die US-Hegemonialstellung und die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts entstandene hegemoniale Dysbalance in Europa6, sondern auch die unipolare Weltordnung als solche zur Disposition. Es geht nicht mehr und nicht weniger als um die Rückkehr der Großmächterivalität in einem nie enden wollenden Machtkampf um Hegemonie und Gleichgewicht.

In einem am 3. Januar 1972 in der Zeitschrift Time erschienenen Interview äußerte sich der US-Präsident Richard Nixon vor dem Hintergrund seiner Entspannungspolitik zu dem in Rede stehenden Thema: „Wir sollten bedenken, dass der einzige Abschnitt der Weltgeschichte, in dem wir eine längere Friedensphase hatten, in eine Zeit des Gleichgewichts der Kräfte fiel. Die Gefahr eines Krieges entsteht, wenn eine Nation sehr viel stärker wird als ihre potentiellen Konkurrenten. Ich glaube deshalb an eine Welt, in der die Vereinigten Staaten ein machtvolles Land sind. Ich denke, die Welt wird sicherer und besser sein, wenn die Vereinigten Staaten, Europa, die Sowjetunion, China und Japan stark und gesund sind und sich gegenseitig das Gleichgewicht halten, ohne den einen gegen den anderen auszuspielen, wenn es also ein wirkliches Gleichgewicht gibt.“7

Nixons Auslassungen kommentierend, empörte sich Raymond Aron (ebd.), der ein Gegner der Entspannungspolitik war, über diese „merkwürdige, nahezu absurde Definition des idealen Friedensystems“. Seine Empörung bezog sich vor allem auf die Zauberzahl fünf der „Hauptakteure“, die „doch keine Zauberkraft“ besitze. Und „im Übrigen“ – fügte Aron zu Recht hinzu – „gibt es die fünf Akteure, die der amerikanische Präsident aufzählte, nur in seiner Phantasie.“ (ebd.)

Im Gegensatz zum „europäischen Mächtekonzert“ des 19. Jahrhunderts, welches das Mächtegleichgewicht gewährleisten konnte, „weil jeder die Kräfteverhältnisse unter Berücksichtigung aller übrigen kalkulierte“ (Aron, ebd., 214), gab es ein solches Mächtegleichgewicht zurzeit der bipolaren Weltordnung nicht. Das Gleichgewicht wurde allein von den beiden Supermächten gewährleistet.

Dessen ungeachtet ignorierte Aron zu Unrecht Nixons zwei entscheidenden Denkanstöße: (1) „Die Gefahr eines Krieges entsteht, wenn eine Nation sehr viel stärker wird als ihre potentiellen Konkurrenten“; (2) Als „machtvolles Land“ sollten die USA, statt eine Führungsrolle zu übernehmen, eine Weltordnung aufbauen, die auf Grundlage eines Gleichgewichtssystems bestehe, in dem der eine nicht den anderen ausspiele.

Dass Aron auf diese Denkanstöße nicht einging, ist zwar mehr als verständlich, waren sie doch unter den Bedingungen der bipolaren Weltordnung geopolitisch irrelevant. Umso bedeutsamer wurden sie aber nach dem Ende des „Kalten Krieges“. Die entstandene unipolare Weltordnung hat zum einen – wie Richard Nixon zutreffend vorausgesehen – zahlreiche Kriege mit sich gebracht, weil die USA auf keine Gegenmacht Rucksicht nehmen musste. Und zum anderen entstand eine US-Hegemonialordnung, welche jedes Gleichgewichtssystem deklassieren konnte.

Nach Irrungen und Wirrungen des dreißigjährigen Bestehens der unipolaren Weltordnung ist ein Erosionsprozess der US-Hegemonie nicht mehr zu übersehen. Sie wird zunehmend in Frage gestellt und der US-Hegemon verliert immer mehr seine weltweite Dominanz. Und so befindet sich die unipolare Weltordnung heute in einem Schwebezustand, in dem einerseits die US-Hegemonie allmählich ihre geopolitische und geoökonomische Weltmachtstellung verliert, andererseits aber keine Machtbalance existiert, welche die ins Schwanken geratene unipolaren Weltordnung ausbalancieren könnte.

Und hier entsteht ein unüberwindbarer Konflikt zwischen den USA und den anderen Groß- und Kleinmächten. Der US-Hegemon fährt einerseits wie gehabt weiter so, als hätte er alles nach wie vor im Griff. Andererseits entgleitet ihm zunehmend die Entwicklung. Der globale Trend entfernt sich sogar in beschleunigter Weise von seiner unipolaren Weltordnung und wendet sich immer mehr den multipolaren Machtstrukturen zu. Deswegen übernahm die Biden-Administration nahtlos die geoökonomische Chaosstrategie der Trump-Administration gegen China8, indem sie diese um das geoökonomische Sanktionsregiment gegen Russland sowie eine energiepolitische Aushöhlung der EU-Wettbewerbsfähigkeit erweiterte und zudem noch mittels eines mittelbaren militärischen Drucks auf Russland im Ukrainekonflikt geopolitisch weiter radikalisierte.9

Vor dem Hintergrund dieser Großmächterivalität befinden wir uns in einem ordnungspolitischen Schwebezustand zwischen der dysfunktional gewordenen unipolaren Weltordnung und einer chaotisierten Welt, die auf der Suche nach einem neuen Ordnungsprinzip ist. Jedes Ordnungsprinzip setzt Grundbedingungen voraus, die an den jeweiligen geopolitisch, geoökonomisch und geokulturell determinierten Interessen gebunden sind. Heute fehlt jedoch ein derartiges Ordnungsprinzip, worauf sich alle verständigen und die gemeinsam formulieren Determinanten einer künftigen Weltordnung aufstellen könnten.

Die geopolitischen und geoökonomischen Interessen sind derart divergierend und entgegengesetzt, dass die einen ihre Chaosstrategie als „friedensstiftende“ beharrlich in der Erwartung weiterverfolgen, dass sie ihnen die Aufrechterhaltung ihrer Hegemonialstellung ermöglichen wird. Die anderen sehen hingegen in einer antihegemonialen Weltordnung die „friedensstiftende“ Funktion eines jeden Ordnungsprinzips, sodass die beiden Ordnungsentwurfe keinen gemeinsamen Nenner haben.

Die nach dem Ende der bipolaren Weltordnung entstandene hegemoniale Dysbalance in Europa musste früher oder später zu Konflikten und Spannungen führen. Dieses Ordnungsprinzip der europäischen Sicherheits- und Friedensordnung ist allein dem Umstand geschuldet, dass die USA sich nach dem Ende des „Kalten Krieges“ als die gesamteuropäische Ordnungsmacht etablierten und zur Hegemonialmacht zu Lande und zur See in Europa aufgestiegen sind. Stellt man dieses Ordnungsprinzip in Frage, so stellt man automatisch die US-Hegemonialstellung in Europa in Frage. Das bedeutet aber im Umkehrschluss, dass man Russland in diesem Falle dann zwangsläufig als Großmacht anerkennen und seine existenziellen Sicherheitsinteressen akzeptieren müsste, was wiederum zur Infragestellung des hegemonialen Ordnungsprinzips der USA führen würde.

Und so befindet sich die europäische Sicherheits- und Friedensordnung in einer Sackgasse, weil die hegemoniale Dysbalance in Europa einerseits als sicherheitspolitisches Ordnungsprinzip versagt und zu weniger und nicht zu mehr Sicherheit geführt hat. Ein neues gesamteuropäisch formuliertes Ordnungsprinzip ist andererseits nicht in Sicht. Wie auch immer man es drehen und wenden will, alles dreht sich im Kreis: Ohne die US-Hegemonialstellung ist keine Nato-Sicherheitsordnung denkbar, ohne eine Respektierung der russischen Sicherheitsinteressen keine Friedensordnung in Europa möglich. Sicherheit wird hier gegen Frieden ausgespielt und man bekommt am Ende weder Sicherheit noch Frieden.

Diese Sicherheits- bzw. Friedenskonstellation nützt nur einer einzigen Weltmacht – den USA, die glauben, auf diese Weise ihre Führungsrolle in Europa und in der Welt aufrechterhalten zu können. Der Kriegsausbruch in der Ukraine hat die bis dahin bestehende sicherheits- und friedenspolitische Illusionsblase in Europa platzen lassen und es liegt nunmehr an den geopolitischen Rivalen, was sie daraus machen: >Krieg ohne Ende< bzw. >Chaos statt Kosmos< oder eine gesamteuropäische Sicherheits- und Friedensordnung bzw. >Kosmos statt Chaos<!?

Bekämpfen die USA Russland mittels einer militärischen und wirtschafts- bzw. energiepolitischen Chaotisierung der europäischen Sicherheits- und Wirtschaftsordnung, so eskalieren die USA handelspolitisch und in der letzten Zeit zunehmend technologisch ihren globalen Machtkampf gegen China als den wichtigsten geopolitischen Herausforderer der US-Hegemonie im 21. Jahrhundert. So verhängte die Biden-Administration vor zwei Wochen am 7. Oktober 2022 die neuen Halbleitersanktionen gegen China, die zu zahlreichen bereits bestehenden Restriktionen gegen Konzerne der chinesischen High-Tech-Branchen hinzukommen, worunter beispielsweise der Mobilfunkkonzern Huawei gezählt werden kann.

„Sie zielen insbesondere darauf ab, chinesische Firmen in den technologisch am weitesten fortgeschrittenen Bereichen, etwa Künstliche Intelligenz (KI) und Supercomputing, aus dem Feld zu schlagen. Dazu hat Washington den Export von Halbleitern, die für diese Bereiche unverzichtbar sind, untersagt; das gilt auch für Halbleiter von Herstellern außerhalb der Vereinigten Staaten, sofern sie mit Hilfe von US-Geräten produziert wurden. Darüber hinaus dürfen US-Unternehmen keine Geräte zur Halbleiterproduktion mehr an chinesische Firmen liefern, die ihrerseits KI- und Supercomputingchips herstellen. Ziel ist es also, die Volksrepublik nicht nur von den avanciertesten High-Tech-Halbleitern abzuschneiden, sondern ihr auch jegliche Chance zu nehmen, sie selbst zu produzieren. Manche Experten sprechen bereits von einem US-amerikanischen >Enthauptungsschlag< für die chinesische Spitzentechnologie mit gravierenden Folgen für alle Anwendungsbereiche bis hin zum Militär.“10

Was wir hier beobachten dürfen, ist eine US-amerikanische Geostrategie, die im Grunde bis heute aus dem Modus des „Kalten Krieges“ nicht ausgestiegen ist und die Mentalität des „Kalten Krieges“ bis heute nicht überwinden konnte. Diese Mentalität ist die Mentalität einer permanenten Konfrontation bzw. eines „permanenten Krieges“ (Raymond Aron).

Hegemonie kann aber in Verbindung mit der Einstellung zu einer permanenten Kriegsführung ein explosives Gemisch von eigener Machtüberschätzung und der Unterschätzung der Gegenmacht bilden, das einen immer schärfer werdenden Machtkampf der geopolitischen Rivalen zur unkontrollierten Eskalation führen könnte.

So wie die Dinge heute aussehen, kann man zu einer neuen Sicherheits- und Friedensordnung in Europa erneut – wie bedauerlich das auch klingen mag – allein auf dem Wege über eine Globalisierung des Krieges kommen. Der vergangene „Kalte Krieg“ der untergegangenen bipolaren Weltordnung war zwar „permanent“, aber „begrenzt“, und zwar „nicht weil der Kampfpreis beschränkt wäre, sondern weil die Kriegsführenden im stillschweigenden Einvernehmen darauf verzichteten, alle Mittel der Kriegsführung, die sie besitzen, zum Einsatz zu bringen.“11

Die Quintessenz dieser permanenten, aber begrenzten Konfrontation war, dass der „Kalte Krieg“ der Supermächte eine unmittelbare Gewaltanwendung ausschloss12 und deswegen auch „kalt“ geblieben ist. Der Ukrainekrieg, der auf einem begrenzten Kriegsschauplatz stattfindet, hat hingegen das Zeug entgrenzt zu werden, weil der US-Hegemon mit seinen Nato-Bündnispartnern zu keinem Kompromiss und Russland zu keiner Kapitulation bereit ist. Vor diesem Hintergrund werden wir weder Sicherheit noch Frieden, wohl aber eine permanente Konfrontation bekommen. Im Gegensatz zum „Kalten Krieg“ der bipolaren Weltordnung hat der Westen heute Russland gegenüber ein selbstüberschätzendes militärisches und ökonomisches Überlegenheitsgefühl, das in sich die Gefahr birgt, Chaos statt Kosmos zu priorisieren. In diesem Falle steuern wir unweigerlich auf eine direkte militärische Konfrontation zwischen Russland und dem Westen. Dann wird der Krieg – um Raymond Aron zu paraphrasieren – kein Greul mehr, der Friede aber unmöglich sein. Dann gibt es in der Tat nur einen „Ausweg“: Der globale Krieg!

Anmerkungen

1. Aron, R., Der permanente Krieg. Frankfurt 1953, 221.
2. Urban, G., Geschichte als andauerndes Chaos. Gespräche mit Zbigniew Brzezinski, in: ders., Gespräche mit Zeitgenossen. Acht Dispute über Geschichte und Politik. Basel 1982, 205-227 (206).
3. Zitiert nach Detlef Junker, Nationalstaat und Weltmacht, in: Weltpolitik II. 1939-1945. 14 Vorträge. Hrsg. v. Oswald Hanser. Göttingen 1975, 17-36 (33 f.).
4. Zitiert nach Junker (wie Anm. 3), 34.
5. Brock, L., Universalismus, politische Heterogenität und ungleiche Entwicklung: Internationale Kontexte der Gewaltanwendung von Demokratien gegenüber Nichtdemokratien, in: Geis u. a. (Hrsg.), Schattenseiten des Demokratischen Friedens. Frankfurt/New York 2007, 45-68 (66).
6. Vgl. Silnizki, M., Posthegemoniale Dysbalance. Zwischen Hegemonie und Gleichgewicht. 31. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
7. Zitiert nach Aron, R., Die imperiale Republik. Die Vereinigten Staaten von Amerika und die übrige Welt seit 1945. Stuttgart Zürich 1975, 214.
8. Vgl. Silnizki, M., Geo-Bellizismus. Über den geoökonomischen Bellizismus der USA. 25. Oktober 2021, www.ontopraxiologie.de.
9. Vgl. Silnizki, M., Expansionismus. Zur ewigen Wiederkehr des Gleichen. 29. August 2022; ders., Die US-Eindämmungsstrategie Europas. Russland und die EU im Lichte der US-Geoökonomie. 10. Oktober 2022, www.ontopraxiologie.de.
10. „China niederkonkurrieren“, german-foreign-policy.com. 20. Oktober 2022; vgl. auch Koch, M./Hofer, J., Halbleiter: In den Mühlen der Weltpolitik, in: Handelsblatt vom 20. Oktober 2022, 18.
11. Aron (wie Anm. 1), 222.
12. Vgl. Aron (wie Anm. 1), 232 f.

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