In Erwartung eines Kriegsendes
Übersicht
1. Eurasisches Europa?
2. Wohin steuert Europa?
3. Europa geht schweren Zeiten entgegen
Anmerkungen
„Если Европа вдруг захочет начать войну, и начнёт её,
то очень может быстро произойти ситуация, при
которой нам не с кем будет договариваться.“
(Wenn Europa plötzlich beschließt, einen Krieg zu beginnen,
und ihn auch beginnt, dann könnte sehr schnell eine Situation
eintreten, in der wir keinen haben, mit dem wir verhandeln können.)
(Putin, 2.12.2025)
1. Eurasisches Europa?
In einer Diskussionsrunde hat Dmitrij Trenin (ehem. Direktor des Carnegie Moscow Center, 2008-2022) am 29. November 2025 auf etwas hingewiesen, was den Moderator elektrisiert hat. Europa sei ein „westliches Eurasien“ (Западная Евразия). Geographisch gesehen, hat Trenin im Grunde nur etwas Selbstverständliches gesagt.
Was den Moderator aber elektrisiert hat, war die geopolitische Dimension dieser Feststellung. Denn die Frage, die sich stellt, lautet: Kann aus Europa als einem „westlichen Eurasien“ jemals geopolitisch auch ein eurasisches Europa werden?
Seit Jahrhunderten betrachtet sich Europa als ein „eigenständiger Kontinent“. Das mag ideologisch und kulturell, aber eben nicht geographisch bzw. geopolitisch stimmen!
Kann Europas Selbstwahrnehmung heute als eine selbstständige geopolitische Entität überhaupt noch stimmen? Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges betrachtete es sich als Teil des Westens bzw. der sog. „westlichen Wertegemeinschaft“. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Untergang des Sowjetreiches ist aus dem „Westen“ die „transatlantische Gemeinschaft“ unter Führung des US-Hegemonen geworden, die mittlerweile immer mehr Risse zeigt und auseinanderdriftet.
Bereits 2004 sprach Jürgen Habermas besorgt vor dem Hintergrund des umstrittenen Irak-Krieges vom „gespaltenen Westen“1. Europa müsse sich „auf seine eigenen Kräfte“ besinnen und moralische Autorität für das anbrechende 21. Jahrhundert werden, forderte er.
„Wenn ich heute sage, dass jene moralische Autorität, die die USA in der Rolle eines Anwalts der globalen Menschenrechtspolitik erworben hat, in Sterben liegt, dann klage ich doch nur – wie seinerzeit beim Protest gegen den Vietnamkrieg – deren eigene Prinzipien an“, rechtfertigt Habermas seine Kritik an der Kriegspolitik der Bush-Administration im Irak in einem Interview2.
Zwei Jahrzehnte später liegt nicht nur die „moralische Autorität“ der USA „in Sterben“, sondern auch die Einheit des „Westens“ bzw. der „transatlantischen Gemeinschaft“. Mit Trumps Amerika werden die geopolitischen und geoökonomischen Karten neugemischt.
In Zeiten der Irrungen und Wirrungen sind Propheten, insbesondere die des Niedergangs, sehr gefragt. Man erinnert sich allein an Oswald Spenglers Prophetie vom „Untergang des Abendlandes“ (1918), die seit mehr als 100 Jahre besteht. Der „Untergang“ lässt freilich immer noch auf sich warten.
Oder man denkt an eine weniger bekannte Voraussage wie die von General Douglas MacArthur (Oberbefehlshaber im Pazifikkrieg). 1944 sagte er: „Wir haben wieder den alten Fehler begangen, uns in europäische Streitigkeiten einzumischen, obwohl wir nicht hoffen dürfen, sie zu lösen, weil sie nämlich unlösbar sind … Europa ist eine sterbende Ordnung. Es ist erschöpft und am Ende.“3
Europas Streitigkeiten sind „unlösbar“, sagte der General. Drei Jahre nach seiner Äußerung fragte Churchill Mitte 1947 – den öden und verwüsteten Kontinent vor Augen: „Was ist Europa heute? Es ist ein Trümmerhaufen, ein Leichenhaus, ein Nährboden für Gift und Hass.“4
Noch kurz vor dem Untergang des „Tausendjährigen Reiches“ schrieb Goebbels in einem Leitartikel der Wochenzeitung „Das Reich“ unter der Überschrift „Das Jahr 2000“ vom 25. Februar 1945: Die Jalta-Vereinbarungen seien ein Ausverkauf der westlichen Positionen in Ostmitteleuropa an die Sowjetunion, wo „die Massenabschlachtung der Völker, wahrscheinlich noch unter dem Beifall der Londoner und New Yorker Judenpresse, begänne“.
Dabei prägte er „das Schlagwort vom >Eisernen Vorhang<, der vor dem sowjetischen Machtbereich heruntergelassen worden sei, ein Schlagwort, dass sich Churchill einige Monate später – ohne Quellenangabe – zu eigen machte.“5
Und es kam nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, wie Goebbels es in seinem Propagandaartikel vorausgesagt hat, zur Spaltung Europas. Aber was hat man von Stalin denn nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges erwartet, als er eine Erneuerung des sog. „Cordon Sanitaire“ der Zwischenkriegszeit zwischen der Sowjetunion und Zentraleuropa – jenes Gürtels mittlerer und kleinerer Staaten vom Baltikum bis Rumänien mit Polen als Kern – anstrebte?
Es ist indes bis heute sehr umstritten, wer eigentlich für den Ausbruch des „Kalten Krieges“ und die Teilung Europas verantwortlich war. Selbstverständlich sind in Denken und Handeln Stalins genauso, wie Trumans, ideologische und imperiale, offensive und defensive Antriebe unentwirrbar vereint gewesen.
Es wäre aber fahrlässig und unverantwortlich, von Stalin seitens Truman zu erwarten gewesen, dass dieser nach einem solch grausamen Krieg und in Anbetracht der Vorgeschichte der 1930er-Jahre – um mit Golo Mann aus dem Jahr 1964 zu sprechen – „brav zu den Grenzen von Brest-Litowsk oder Riga“ zurückkehren würde6.
„Ein zaristischer Sieger“ – meinte Golo Mann weiter – „hätte Polen wieder geschluckt. Stalin hat das, der Ideologie zuliebe, nicht getan, Chruschtschow erst recht nicht. Darum ist, nationalpolitisch betrachtet, Polen heute besser dran als je seit 1772. Und der Wille, die Früchte des Sieges zu sichern, die grauenvolle Prüfung von Hitlers Krieg nicht noch einmal zu erleben, sollte in der russischen Politik der Nachkriegszeit keine Rolle gespielt haben? Der Wille, in den Randstaaten, die im Niemandsland zwischen den beiden Kriegen sich als so schwach, wetterwendisch und dem Feind Gelegenheiten bietend erwiesen hatten, eine feste, ihm günstige Ordnung zu schaffen, sollte die Hand Russlands nicht auch geführt haben? Die russische Position in der DDR, die Polen und Böhmen von Westen her kontrolliert, das wiederauferstandene Deutschland und seinen amerikanischen Bundesgenossen von der Oder fernhält, sollte nicht auch eine militärische Rolle spielen? Russland sollte den Krieg, begonnen von einem Gegner, in dessen Seele er nicht blicken kann, so wenig wir in die Seele der Russen blicken können, und dessen militärische Repräsentanten nur zu gern bramarbasieren, nicht auch fürchten, für den Ernstfall sich nicht bessere Ausgangsstellungen sichern wollen, als jene waren, die es 1941 besaß?“
Wie auch immer, die Folgen der Teilung Europas führte zu der Errichtung der Einflusssphären und der Zementierung des Status quo in Europa. „Es droht kein Krieg in und um Europa, wo und solange die Einflusssphären eisern fixiert sind“, schrieb Rudolf Augstein noch im Jahr 19827.
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts kam es nur scheinbar zur Überwindung der Spaltung Europas. Man lies Russland, wie nichts anders zu erwarten, außen vor und ignorierte Egon Bahrs Warnung davor, Russland aus der Mitgestaltung einer neuen europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung auszuschließen.
„Sicherheitsfragen sind Machtfragen. Sie bleiben auch am Ende des Jahrhunderts zentral. Deshalb stelle ich sie an den Anfang. Und deshalb steht Russland am Anfang, wenn von einer neuen Ostpolitik die Rede sein soll,“ sagte Bahr in seinem Vortrag „Ungeteilte Sicherheit für Europa“ vor der Batory-Foundation in Warschau am 25. Juni 1994 und fügte prophetisch hinzu: „Der Zerfall der Sowjetunion hat dieses Land in Grenzen gelassen, in denen es während seiner tausendjährigen Geschichte noch nie existiert hat, mit mehr als 25 Millionen Russen außerhalb seiner Grenzen. … Sofern die Geschichte weitergeht wie bisher, ist voraussehbar, dass die russischen Grenzen nicht bleiben werden, wo sie heute sind. Eine solche Prophezeiung ist … risikolos, … weil nicht damit zu rechnen ist, dass Russland so schwach bleiben wird, wie es ist. … Der Kern der europäischen Stabilität ist also weniger die Frage des Verhältnisses Russlands zur Nato, sondern die gesicherte Stabilität der russischen Grenzen. Die garantierte Stabilität der russischen Grenzen ist die beste Sicherheitsgarantie für alle Staaten zwischen der Nato und Russland. Verteidigung vor Russland oder Sicherheit mit Russland – das wird die Alternative.“8
Die Clinton-Administration hat sich für die „Verteidigung vor Russland“ und gegen eine „Sicherheit mit Russland“ entschieden. Diese Entscheidung bedeutete letztlich eine Entscheidung gegen die „ungeteilte Sicherheit“ und für die Nato-Expansionspolitik, gegen eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur und für die Nato-Sicherheitsordnung.
Die Folgen dieser dreißig Jahre andauenden Nato-Expansionspolitik ist heute auf den ukrainischen Schlachtfeldern zu besichtigen. Europa hat sich geo- und sicherheitspolitisch von Russland so weit entfernt wie noch nie. Von einem geopolitischen oder gar ideologischen Projekt, das aus einem transatlantischen Europa ein eurasisches Europa machen sollte, kann darum gar keine Rede mehr sein. Bestenfalls wäre es eine (utopische) Zukunftsvision!
2. Wohin steuert Europa?
Was nun? Quo vadis, Europa? Wohin steuert Europa? Kehrt es erneut zu jenen Zeiten zurück, in denen es ein Normalzustand war, ein Kriegsschauplatz zu sein, auf dem einmal der eine, einmal der andere Rivale die Vorherrschaft für sich in Anspruch nahm. Francisco Goya (1746 – 1828) hat die Grausamkeiten eines europäischen Krieges in seinen 82 Grafiken „Los desastres de la guerra“ (Die Schrecken des Krieges), die in den Jahren 1810 bis 1814 entstanden sind, festgehalten und verewigt.
Von einem Diener gefragt, warum er „diese Barbareien der Menschen“ darstelle, antwortete Goya: „Um die Menschen für ewig zu mahnen, nie mehr Barbaren zu sein.“ Wenngleich der Einmarsch napoleonischer Truppen nach Spanien Auslöser für die Graphikfolge der „Desastres“ war, so prangerte Goya vielmehr den allseitigen Verlust jeder Menschlichkeit an.9
Seit Goyas Graphikfolge sind mehr als 200 Jahre vergangen und die „Barbareien der Menschen“ nehmen kein Ende. Ganz im Gegenteil: Die Brutalität des Krieges und der damit verbundene Hass nimmt sukzessive zu.
Quo vadis, Europa? Wo sieht sich Europa heute in einem neuen geopolitischen Umfeld nach einem absehbaren Ende des blutigen Ukrainekrieges?
Auf welche Seite begibt es sich? Bleibt es immer noch hinter den Mauern des Hasses gegen alles, was „Putins Russland“ verkörpert, verbarrikadiert oder bricht es zu neuen geopolitischen Ufern auf? Die EU-Europäer weigern sich nach wie vor zu begreifen, dass die „Verteidigung vor Russland“ statt einer „Sicherheit mit Russland“ keine Lösung mehr ist und in eine sicherheitspolitische Sackgasse führt.
Was hat Europa überhaupt an geo- und sicherheitspolitischen Alternativen? Es gibt nur drei: ein transatlantisches Europa zu bleiben, ein eurasisches Europa zu werden oder sich als eine eigenständige geopolitische Entität zu positionieren.
Der Rechtshistoriker, Dieter Simon (geb. 1935), merkte einst sarkastisch in einem vom DLF am 1. April 2007 gesendeten Essay „Europa. Wir und die anderen“ vor dem Hintergrund der geführten Diskussion über einen „Vertrag über eine Verfassung für Europa“, der durch die europäischen Regierungschefs am 29. Oktober 2004 unterzeichnet wurde, an: „Bislang haben die Europäer sich nicht darauf einigen können, wie groß Europa wirklich ist, wo es beginnt und wo es aufhört, wer wesenhaft dazugehört und wer eigentlich doch eher nicht. Das Land Europa ist >irgendwo<. … Und das Wesen der Union selbst ist >irgendwie<. Was immer die EU >ist< – sicher ist sie kein Staat.“
Was dann? Wo dieses „Irgendwo“ geopolitisch zu orten und wie dieses „Irgendwie“ ideologisch zu deuten ist, ist entscheidend für die heutige Selbstvergewisserung Europas vor dem Hintergrund der geopolitischen und geoökonomischen Umwälzungen unserer Zeit. Europas Verhältnis zur Außenwelt ist heute entscheidend durch den Ukrainekonflikt und den durch ihn sichtbar gewordenen Zerfall der unipolaren Weltordnung geprägt.
Heute können wir mit Fug und Recht behaupten: Die Unipolarität leitete nicht „das Ende der Geschichte“ ein, sondern war eine Übergangszeit – ein Ausnahmefall, der keine Chance hatte, dauerhaft zu bestehen.
Aber genau diese Illusion hegen die europäischen Macht- und Funktionseliten immer noch und können Putin nicht verzeihen, dass er mit seiner Invasion in der Ukraine ihren Traum von der ewig andauern sollenden unipolaren Glücksseligkeit, die ihnen eine weitere fünfhundertjährige Vormachtstellung in der Welt garantieren sollte, zerstört hat.
Der Traum ist mittlerweile zum Alptraum geworden! Die europäischen Träume und Illusionen hatten noch nie eine so harte Bauchlandung wie mit diesem Krieg erlitten. Eine Wiederherstellung der Unipolarität ist in dieser Situation nur möglich, wenn es der EU gelingt, den Krieg in der Ukraine zu gewinnen und Chinas ökonomischen und technologischen Aufstieg auszubremsen.
Das ist aber nicht zu erwarten und auch nicht einmal zu wünschen, hat die unipolare Weltordnung doch gezeigt, dass sie statt einer friedlichen Welt eine „Weltgewaltordnung“10 errichtet hat. Und jetzt tun sich die Europäer schwer, sehr schwer, sich von der Unipolarität und der von dieser geschaffenen Nato-Sicherheitsordnung in Europa zu lösen, die sie als „gesamteuropäisch“ verklärten und Russland ein Mitbestimmungsrecht an dieser vermeintlichen „Sicherheitsordnung“ verweigerten.
Und nun müssen sie jetzt auch die Verantwortung für diesen sicherheitspolitischen Affront tragen, den sie aber nicht tragen wollen und mit wüsten Beschimpfungen Russlands wegen seiner „Aggression“ davon ablenken.
Ja, die Europäer! Sie verwechseln „Great Game“ mit einem Sandkastenspiel, möchten aber gleichzeitig eine bedeutsame geopolitische Rolle spielen. Bereits im November 2019 erklärte die deutsche EU-Kommissionspräsidentin, Ursula von der Leyen, hochtrabend: Ihre Kommission werde eine „geopolitische Kommission“ sein. Bis heute ist es ihr Geheimnis geblieben, was sie darunter verstanden wissen will.
Quo vadis, Europa? Für Hegel stand es vor zweihundert Jahren noch fest, dass sich die Weltgeschichte um die christliche Achse drehe und von den altorientalischen Reichen zu Europa hinbewege, um sich im Europa des 19. Jahrhunderts dank den Errungenschaften der französischen Revolution endgültig zu vollenden.
Die mit der französischen Revolution ausgelöste, alles überstrahlende welthistorische Entwicklung: „ein herrlicher Sonnenaufgang“, den „alle denkenden Wesen“ mitgefeiert haben und mit dem „ein Enthusiasmus des Geistes … die Welt durschauert (hat), als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen“11, ist heute zum Stillstand gekommen.
Mehr noch: Dieser welthistorische Prozess hat sich 200 Jahre nach Hegels geschichtsphilosophischen Vorlesungen umgekehrt. Heute wird es immer deutlicher, dass die Bewegung der Weltgeschichte in rückläufiger Weise vor sich geht und sich von Europa nach Asien, nach Osten und Süden hinbewegt, seit dem fulminanten Aufstieg Chinas, einer Wiedererstarkung Russlands und Emanzipation des sog. „Globalen Südens“.
Und Europa? Es fällt geopolitisch und geoökonomisch immer mehr und immer weiter zurück, und zwar nicht, weil es schwächer geworden ist, sondern weil die anderen Völker dieser Welt stärker werden, sich aufholen und gegenüber ihren ehem. europäischen Kolonialherren immer selbstbewusster und selbstsicherer auftreten. Findet heute womöglich nach einer jahrhundertelang fortschreitenden Europäisierung und Amerikanisierung der Welt eine umgekehrte Entwicklung zur Enteuropäisierung und Entamerikanisierung der Menschheit statt?
Europa ist geopolitisch nicht mehr gefragt, wird geoökonomisch zweitrangig und verliert fortscheitend an Bedeutung. „Die Zukunft hat schon begonnen“, überschrieb einst der Zukunftsforscher, Robert Jungk (1913-1994), 1952 sein Werk, das bereits kurz nach seinem Erscheinen in alle Weltsprachen übersetzt wurde.
Dreiundsiebzig Jahre danach bleibt die Zukunft ungewisser denn je. Und was tut Europa mit seinem Führungspersonal? Es blickt ängstlich und besorgt, zugleich aber aggressiv, selbstüberschätzend und unbelehrbar, wie es immer schon war, in die Zukunft, nachdem es sich im Ukrainekonflikt verkalkuliert hat und nicht weiß, wie es weitergehen soll.
Die Zukunft gehört heute den anderen, nichteuropäischen Staaten, Völkern, Kulturen und Nationen, was Europa weder akzeptieren noch tolerieren will. Ihm wird aber nichts anderes übrigbleiben, als zu akzeptieren, dass der Rest der Welt heute in der Lage und willig ist, auch ohne die Europäer mit ihren ewigen Belehrungen, Maßregelungen und Anmaßungen zu leben.
3. Europa geht schweren Zeiten entgegen
Europa hat bereits seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges aufgehört, „die Hauptrolle im Schicksal der Menschheit zu spielen“12. Und jetzt besteht die Gefahr, dass es in der großen Weltpolitik wegen seinem unreifen, inkompetenten, zugleich aber selbstgerechten und selbstverliebten Führungspersonal nicht nur marginalisiert wird, sondern auch ungewollt und unbedarft in einen Krieg schlittert, den es nicht überleben wird.
Der „kriegerische Geist“ der europäischen Kultur13 lebt trotz der fehlenden militärtechnologischen Fähigkeiten und rüstungsindustriellen Kapazitäten ungebrochen fort. Hinzu kommt eine Selbstindoktrination, die die Außenwelt karikiert und vermittels des selbstgeschaffenen Weltbildes zu einem abstoßenden Zerrbild macht, wodurch die geopolitische Realität verzerrt wahrgenommen und verkannt wird.
Genau hier liegt aber das Kernproblem – das Problem des Zerrbildes sowohl der eigenen verkannten Innenwelt, in der wir leben, als auch der Außenwelt, die wir nicht genug kennen, uns aber einbilden, sie bestens begreifen zu können. Diese Inkongruenz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung, Anspruch und Wirklichkeit, Macht und Ohnmacht macht es Europa unmöglich, das heutige Weltgeschehen entscheidend zu beeinflussen, solange es seinen militanten Geist und sein indoktriniertes Weltbild nicht überwindet.
Gewiss, im heutigen geopolitischen Umfeld, in dem die US-Hegemonie immer kraftloser wird und den immer mächtiger werdenden ökonomischen und militärischen Großmachtkonkurrenten gegenübersieht, kann es den Anschein haben, als ob Europa trotz alledem stark genug ist, um den Herausforderungen unserer Zeit gewachsen zu sein.
Dieser Anschein trügt. Der Krieg in der Ukraine hat gezeigt, wie stark die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Volkswirtschaften eingebrochen ist, seitdem die EU beschloss, den Krieg in der Ukraine mit hunderten Milliarden Euro zu finanzieren und gleichzeitig alle Wirtschaftsbeziehungen zu Russland zu kappen und es mit Sanktionen zu belegen.
Die Folgen sind drastisch reduzierte Lieferungen von billigen Rohstoffen aus Russland, Verlust von hunderten Milliarden an profitablen Geschäften und entgangenen Gewinnen. „Deutschlands wirtschaftliche Verluste nach zwei Jahren Krieg in der Ukraine werden voraussichtlich deutlich über 200 Milliarden Euro liegen“, sagte DIW-Präsident, Marcel Fratzscher, bereits im Februar 2024.
„Zuallererst haben die hohen Energiepreise das Wachstum in Deutschland im Jahr 2022 um 2,5 Prozentpunkte bzw. 100 Milliarden Euro und im Jahr 2023 bisher um einen ähnlichen Betrag reduziert“, präzisierte Fratzscher die Zahlen. Und das sind nur die „direkten finanziellen Kosten“ allein in Deutschland, ohne ganz Europa zu berücksichtigen.
Und heute? 400, 600 Milliarden oder 1 Billion Euro Verluste und mehr? Europas Außenpolitik ist seit dem Kriegsausbruch eine Politik der vertanen Chancen und enttäuschten Hoffnungen14. Wie geht es nun weiter? Machen wir uns keine Illusionen! Europa wird an die Peripherie der Weltpolitik zurückgedrängt und ist zum Zipfelchen Eurasiens und zum Anhängsel von Trumps Amerika geworden.
Gleichviel ob wir hochtrabende Ankündigungen machen und/oder Ansprüche auf eine geopolitische Rolle Europas in der Weltpolitik stellen, um in einem „Great Game“ spielen zu können, die Weltlage ist, wie sie ist, und wir sind nicht dabei. Die Gespräche zwischen Trump und Putin zur Beilegung des Ukrainekonflikts unter Ausschluss der Europäer machen deutlich, dass Europa protestieren, lamentieren, sich empören und bestenfalls am Katzentisch der Geschichte sitzen darf. Mehr aber auch nicht!
Europa hat sich selbst mit seiner gescheiterten, weil anachronistischen Russlandpolitik isoliert und marginalisiert. Wird Europa nun geopolitisch zum eurasischen Europa oder bleibt es ideologisch ein Teil der atlantischen Welt und Kultur und verkörpert gemeinsam mit Nordamerika eine atlantische Weltkultur? Oder bleibt es allein geographisch „westliches Eurasien“, wie Dmitrij Trenin es bezeichnete?
Quo vadis, Europa? Wohin steuert Europa? Bleibt die Zukunft Europas offen oder ist es schon längst in einem langfristigen Abwärtstrend begriffen und wird darum noch abhängiger von der US-Geo- und Sicherheitspolitik?
„Die Zukunft hat schon begonnen“, schrieb der Zukunftsforscher, Robert Jungk, 1952. Im Jahr 2025 können wir dessen nicht mehr gewiss sein! Europa geht schweren Zeiten entgegen. Es hat seine besten Zeiten hinter sich.
Anmerkungen
1. Habermas, J., Der gespaltene Westen. Kleine Politische Schriften X. Frankfurt 2004.
2. Habermas im Interview: Gegenmacht Kerneuropa? Nachfragen, in: Habermas (wie Anm. 1), 52-59 (52).
3. Zitiert nach George W. Ball, Disziplin der Macht. Voraussetzungen für eine neue Weltordnung. Frankfurt
1968, 36.
4. Zitiert nach Ball (wie Anm. 3), 36.
5. Hillgruber, A., Die Zerstörung Europas. Beiträge zur Weltkriegsepoche 1914 bis 1945. Berlin 1988, 357.
6. Mann, G., Wenn der Westen will, in: Neue Rundschau 75 (1964), 592-610 (600).
7. Augstein, R., „Lieber rot als tot“? Der Spiegel 8/1982 (21.02.1982).
8. Siehe auch Silnizki, M., Verteidigung vor Russland“ statt „Sicherheit mit Russland“? Im Zangengriff zwischen
„Sendungsideologie“ und Machtpolitik. 14. April 2024, www.ontopraxiologie.de
9. Vgl. die Ankündigung: „Die Schrecken des Krieges (Los Desastres de la Guerra)“. Bild der 6. Woche – 10.
bis 17. Februar 2003 (museen.koeln).
10. Näheres dazu Silnizki, M., Im Würgegriff der Gewalt. Wider Apologie der „Weltgewaltordnung“. 30. März 2022, www.ontopraxiologie.de
11. Hegel, G. W. F., Die neue Zeit, in: des., Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Leipzig 1924, 514-
563 (552).
12. Brugmans, H., Die Mission Europas in der heutigen Weltsituation, in: Europa – Erbe und Aufgabe.
Internationaler Gelehrtenkongress Mainz 1955. Wiesbaden 1956, 313-322 (313).
13. Silnizki, M., Der „kriegerische Geist“ der europäischen Kultur. Deutschland und Europa im Kriegsmodus.
31. August 2025, www.ontopraxiologie.de.
14. Silnizki, M., Vertane Chancen, enttäuschte Hoffnungen. Nordkorea, Nicholas Spykman und „the Future of
American Power“. 9. November 2025, www.ontopraxiologie.de
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