Verlag OntoPrax Berlin

In Feindschaft vereint

Russland und Europa im Wandel der Zeit

Übersicht

1. Unwandelbares im Wandel der Zeit
2. Im Teufelskreis der Geschichte

Anmerkungen

„Ach dass doch jene Zeit, die ohne Zeit ist, käme
Und uns aus dieser Zeit, in ihre Zeiten nähme.“
Paul Fleming (1609-1640)

1. Unwandelbares im Wandel der Zeit

„Nichts ist so beständig wie der Wandel“ und nichts ist so beständig im Wandel wie das Unwandelbare. Diese historische Erfahrung kann getrost auf die russisch-europäischen Beziehungen übertragen werden, die seit Jahrhunderten und nicht zuletzt in den vergangenen achtzig Jahren auf Gedeih und Verderb miteinander in Feindschaft vereint sind.

Drei Ereignisse beeinflussten die Entfremdung zwischen Russland und dem Abendland: das Schisma von 1054; der Einfall der Tataren, deren Herrschaft über zweieinhalb Jahrhunderte dauern sollte (1224-1480) und die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen am 29. Mai 1453.

Die andersartige Entwicklung des orthodoxen Russlands wird allein schon an der Tatsache sichtbar, „dass Reformation an den Toren Russlands Halt gemacht hat“. Wie Ivan IV., der Schreckliche, zur Reformation stand, geht aus seiner denkwürdigen theologischen Disputation mit einem Prediger der böhmischen Brüder Rokyta hervor, der zur Gesandtschaft des polnischen Königs Sigmund II. August 1569 gehörte: „Ivan eröffnete seine Disputation mit den Brüdern mit der Anrede: >Ihr Schweine< und nannte Rokyta einen Ketzer, demgegenüber das Gebot Christi gelte, man solle die Perlen nicht vor die Schweine werfen“ (Matthäus 7,6).

Auf die Aufforderung des Zaren, seine Lehre schriftlich darzustellen, schrieb Rokyta u. a., „der Zar möge ihn … nicht für einen Ketzer halten, der der himmlischen Perlen unwürdig sei, denn er pflegte, wenn solche ihm durch das göttliche Wort gezeigt würden, sie nicht zu zertreten, sondern vom Boden aufzunehmen“.

Die Antwort des Zaren strotzte vor Schimpfworten und endete mit der Feststellung: „Nichtsdestoweniger bist du für mich ein Ketzer … Und du bist nicht nur ein Ketzer, sondern ein Diener des Antichristen und vom Teufel angestiftet. Deshalb verbieten wir dir, deine Lehre in unserem Land zu verkünden, bitten vielmehr unseren Herren Jesus Christus fleißig, dass er unser russisches Volk vor den Finsternissen eures Unglaubens bewahre.“1

Allein das überlieferte Narrativ aus dem 16. Jahrhundert zeigt drastisch die tiefe religiöse und politische Kluft zwischen Russland und dem Abendland. Die jahrhundertelang andauernde, historisch gewachsene Feindschaft durchzieht die russisch-europäische Geschichte faktisch bis zum heutigen Tage.

Unter dem aufschlussreichen Buchtitel „Perverses Abendland – barbarisches Russland“ schreibt Gabriele Scheidegger über „Begegnungen des 16. und 17. Jahrhunderts im Schatten kultureller Missverständnisse“: „Wenn Russen und Westeuropäer im 16. und 17. Jahrhundert zueinander in Kontakt kamen, herrschte selten eitel Freude. Meistens schieden sie naserümpfend oder gar ekelerfüllt voneinander und beide Seiten sahen sich in ihren Vorurteilen voll bestätigt.“2

„Die Positivisten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zogen“ – schreibt Scheidegger weiter – „lautstark gegen die Rückständigkeit Russlands zu Felde. Der Kronzeuge dieser Richtung ist Alexander Brückner, dieser >russifizierte … Droysen- und Rankeschüler<. … Brückner übernahm nicht nur die negativen Urteile der ehemaligen Russlandreisenden, er verstärkte sie noch durch sein eigenes Entsetzen: >Bis in die Zeit Peters des Großen hinein wird den Moskowiten von anderen Völkern einstimmig das denkbar ungünstigste Zeugnis ausgestellt. … Gewaltsamkeit, Verlogenheit, physischer und moralischer Schmutz, Unbildung und Aberglaube, asiatischer Hochmut und die verächtliche Unfähigkeit – dies sind die hervorstechenden Züge im Wesen von Staat und Gesellschaft, wie sie sich in Moskau und dessen Vertretern den westeuropäischen Beobachtern darstellen<.“3

Im Zeitalter des Sozialdarwinismus kennen die Phantasmagorien über Russen und ihre rassenbiologischen Eigenschaften keine Grenzen. So schreibt der deutsch-baltische Kulturhistoriker Viktor Hehn (1813-1890) über die „russische Volksseele“ in den erst nach seinem Ableben 1892 erschienenen „Tagebuchblättern aus den Jahren 1857-1875“: „Der Russe besitzt eine große Gelenkigkeit der Glieder, aber diese gleicht mehr den Windungen allzu locker zusammengenähter Puppenteile, als dem freien, stählernen, maßvollen Fluss aller Bewegungen, den wir bei edel organisierten Völkern bewundern. Das russische Auge hat etwas Gläsernes und Oberflächliches, und hieran kann ein aufmerksamer Beobachter auch die jungen Schönheiten der höheren und höchsten Stände sogleich erkennen: da bricht kein Strahl aus den Jungesten der Seele, da spricht kein bewölkter Blick von schwärmerischem Entzücken. Hierzu stimmt der Mangel an spontaner Schöpferkraft und individueller Vertiefung, sowie an Idee und Idealität, der das russische Naturell auszeichnet. Alles, was Russland eigentümlich zu sein scheint, ist … entlehnt und von den Nachbarn aufgenommen. … erfunden hat Russland nichts. … Mit dem Mangel an produktiver Originalität hängt ein anderer Charakterzug, der Mangel an Idealität, im russischen Naturell zusammen. … Der Verführung durch Phantasie ist der Russe am wenigsten ausgesetzt.“4

Vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges beobachten wir eine deutliche Parallele zwischen einer rassenbiologischen Beurteilung und kulturellen Herabstufung der „minderwertigen“ russischen „Rasse“ und der geopolitischen Verunglimpfung und Herabwürdigung von „Putins Russland“.

Russland sei heute weder „Mastodon“ (Bismarck) noch ein auf tönenden Füßen stehender Koloss oder ein „lebensunfähiges Ungeheuer“ (Pasquale Mancini). Viel schlimmer: Russland unter Putin sei heute ein „faschistoides Regime“, vor dem man weder Angst noch Respekt, aber viel „Verachtung“ und „Abscheu“ empfinden müsse. Denn „das Grundproblem mit Russland“ sei – behauptet eine pseudowissenschaftliche Studie, die mit ihrer Hetze an die dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte erinnert, – „die Natur des Regimes, welches sich in einen faschistoiden Größenwahn hineingesteigert hat und offenbar unbeirrt an der Umsetzung seiner imperialen Pläne arbeitet: der Revision des Endes des Kalten Krieges zu russischen Bedingungen.“5

Solche Hasstiraden sprechen für sich und bedürfen keiner näheren Erläuterung.

2. Im Teufelskreis der Geschichte

Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges beginnt eine neue Epoche der Weltgeschichte; es markiert einen tiefen Einschnitt in der Geschichte Europas. Die Feststellungen vom britischen Historiker, Alan J. P. Taylor (1906-1990) und niederländischen Politiker, Hendrich Brugmans (1906-1997), dass „Europa aufgehört habe, das Zentrum der Welt zu sein“6 und dass „die europäischen Nationen … aufgehört (haben), die Hauptrolle im Schicksal der Menschheit zu spielen,“7 treffen den Kern einer welthistorischen Entwicklung, die bis heute andauert.

Der Aufstieg der Sowjetunion zu einer der zwei Supermächte der bipolaren Weltordnung führt zu einer erneuten Konfrontation zwischen Russland und Europa, indem sie freilich nur die vorangegangene in einer anderen Art und Weise fortsetzt.

Der Fall der Berliner Mauer (1989), die deutsche Wiedervereinigung (1990), das Ende der Sowjetunion (1991) und die Entstehung der unipolaren Weltordnung (1992) markieren erneut einen tiefen Einschnitt in der Geschichte Europas, in der die Beziehungen zwischen Russland und Europa nur scheinbar friedlich verlaufen; tatsächlich aber setzt sich eine von systemideologischen Ketten befreite, umso mehr geopolitisch und geoökonomisch geleitete Konfrontation fort und durch.

Und nun stehen wir vor einer neuen Ära der russisch-europäischen Beziehungen, die mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine am 24. Februar 2022 einsetzte und den Anfang vom Ende der unipolaren Weltordnung einläutete. Erneut markiert dieses Ereignis einen tiefen Einschnitt in der Geschichte Europas und in den russisch-europäischen Beziehungen.

Und so erlebt Europa in nur einem einzigen Menschenalter drei verschiedene Epochen der Weltgeschichte, in denen Blüte und Zerfall der Ordnungen sich gegenseitig ablösen und nichts bleibt so, wie es mal war.

Nur eins bleibt konstant: die unüberwindbare Feindschaft zwischen Russland und Europa. Diese Konstante trotzt und entzieht sich mit erstaunlicher Beharrlichkeit der Vergänglichkeit. Sie will nicht vergehen und entzieht sich der Wandelbarkeit der Zeit und wandelt ihrerseits unvergänglich durch alle Zeiten und Epochen der europäischen Geschichte hindurch in den bestehenden und neu entstehenden Machtstrukturen der zeitlosen Gegenwart.

Wer dazu fähig ist, unsere von historischem Kontext losgelösten Tageswertungen und unsere täglich glorifizierten Wertvorstellungen, die sich meistens als leere und irreführende Schlagwörter darstellen, auszublenden, der kann rasch die machtrelevante Konstante in den Beziehungen zwischen Russland und Europa erkennen, die allzu gern verschleiert wird. Keine Zeit und keine Epoche der europäischen Geschichte lebten ohne verschleierte Machtwirklichkeit.

Aber das, was wir heute erleben, überschreitet alles bis jetzt Bekannte. Eine solche Unredlichkeit und Unverfrorenheit, mit denen wir im Ukrainekrieg konfrontiert werden, müssen erst ihresgleichen suchen.

Nichts ist so beständig wie der Wandel und nichts ist so beständig im Wandel wie das unwandelbare Feindbild Russland, das uns alle Zeiten und Epochen hindurch begleitet. Und so sind wir heute erneut wie seit eh und je mit Russland als imaginärem Feindesland konfrontiert und stürzen uns schon wieder in einen nie enden wollenden Kampf gegen das „Reich des Bösen“ (Evil Empire), wie Ronald Reagan einst die Sowjetunion bezeichnete, ohne dabei die Folgen dieser sinnentleerten Behauptung zu bedenken.

Ohne wissen zu wollen, was auf uns zukommt, schlittern wir schon wieder rat- und hilflos in eine ungewisse Zukunft und laufen Gefahr, die Geschichte zu wiederholen, statt aus der Geschichte zu lernen, um zu wissen, wie vergeblich wir uns zum wiederholten Mal an Russland abmühen und wie sinnlos es ist, Russland erneut zum Feind zu machen.

Der Grund besteht darin, dass wir die Geschichte entweder aus opportunen Erwägungen verklären oder aus Ignoranz verkennen und dadurch weder der Geschichte noch der Gegenwart gerecht werden. Mehr noch: Die Berufung auf die Geschichte aus Gründen der Opportunität könnte eine gefährliche Eskalation und/oder Gegenreaktion auslösen, die man hätte vermeiden können, hätte man die absehbaren Folgen des eigenen Handelns vorausgesehen, sodass wir uns oft ungewollt in Gefahren begeben, die allein der Verklärung der Geschichte und Gegenwart zu verdanken sind.

Eine vergleichbare Entwicklung fand gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges statt und führte zum „Kalten Krieg“ und der sog. „Eindämmungspolitik“, deren Begründung sich u. a. auch aus der Verklärung der Geschichte der Vorkriegszeit ergeben hat.

Obschon die Voraussetzungen der Vor- und Nachkriegszeit kaum miteinander vergleichbar waren und mit den tatsächlichen Gegebenheiten nach dem Kriegsende nicht übereinstimmten, rechtfertigte Washington den Ausbruch des „Kalten Krieges“ auch mit den Erfahrungen aus der Vorkriegszeit:

Zum einen propagierte die Truman-Administration, die den sich formierenden „Westen“ um sich geschart hat, angeblich aus der Erfahrung mit der NS-Expansionspolitik die „Politik der Stärke“ gegenüber der Sowjetunion.

Dass das Axiom der sowjetischen Expansionspolitik eher auf George F. Kennan als auf die NS-Kriegspolitik zurückzuführen war und nur als Vorwand für die Eindämmungspolitik der Truman-Administration diente, spielte dann schon gar keine Rolle.

Kennans berühmt gewordenes „langes Telegramm“ vom 22. Februar 1946 beschrieb die sowjetische Außenpolitik als aggressiv und expansiv, die er auf das „Wesen“ des Sowjetsystems zurückführte. Das „Wesen“ des Systems zwinge die Sowjetführung dazu, die Außenwelt ideologisch bedingt als böse, feindselig und gefährlich zu betrachten.

„In Kennans Sicht galt das Dogma von der feindseligen kapitalistischen Umwelt unabhängig von den tatsächlichen Erfahrungen der Sowjetführung …, folglich war es auch durch noch so große Kooperationsbereitschaft der USA nicht möglich, der Sowjetpolitik ihre Aggressivität zu nehmen. … Die Sowjets würden alles tun, um das sozialistische Lager zu stärken und zugleich die kapitalistischen Nationen zu schwächen und untereinander aufzuhetzen.“8

Zum anderen wird heute Churchills These, die Appeasement-Politik habe Hitler den Weg zum Weltkrieg geebnet, propagandistisch gegen „Putins Russland“ instrumentalisiert und jede mögliche Verhandlung mit der russischen Führung als „Appeasement-Politik“ denunziert und bis zu Trumps zweiter Amtszeit strikt abgelehnt.

Zum dritten ist es zum guten Ton geworden, Nationalsozialismus mit Sowjetkommunismus gleichzusetzen und unter dem Begriff des Totalitarismus zu subsumieren, um anschließend Putin entweder als Hitlers Wiedergänger oder als Stalins Nachfolger zu denunzieren.

All das verleitet uns geradezu automatisch dazu, in Russland das „Reich des Bösen“ zu sehen, das mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen ist. Nichts ist so beständig wie der Wandel und nichts ist so beständig im Wandel wie der Hass auf Russland und sein Führungspersonal. Wie lange noch? Nicht mehr lange, wenn man an solche „geistreichen“ Sprüche wie jene der ehem. litauischen Präsidentin, Dalia Grybauskaite (2009-2019), denkt.

Am 12. Mai 2025 ließ sie sich dazu hinreißen zu behaupten: „Nukleare Abschreckung war nach dem Zweiten Weltkrieg während des Kalten Krieges wirksam, heute aber nicht mehr. Kein Schutzschirm wird helfen, denn heute gibt es völlig andere Waffen, die Art des Krieges ist völlig anders. Atomwaffen machen niemandem mehr Angst.“9 Was soll man dazu noch sagen?

Anmerkungen

1. Benz, E., Die russische Kirche und das abendländische Christentum, in: Zeitschrift f. Religions-
und Geistesgeschichte 1 (1948), 34-59 (40 ff.).
2. Scheidegger, G., Perverses Abendland – barbarisches Russland. Begegnungen des 16. und 17. Jahrhunderts
im Schatten kultureller Missverständnisse. Zürich 1993, 9.
3. Scheidegger (wie Anm. 2), 26.
4. Hehn, V., De moribus Ruthenorum. Zur Charakteristik der russischen Volksseele. Tagebuchblätter aus den
Jahren 1857-1875. Hrsg. v. Theodor Schiemann. Berlin 1892, 6 ff.
5. ISPK: „Die militärische Lage in der Ukraine seit Beginn des russischen Überfalls und die Aussichten für eine
Beendigung des Krieges“. 12. Juli 2022, S.17
6. Zitiert nach Geiling, M., Außenpolitik und Nuklearstrategie. Eine Analyse des konzeptionellen Wandels der
Amerikanischen Sicherheitspolitik gegenüber der Sowjetunion (1945-1963). Köln Wien 1975, 1.
7. Brugmans, H., Die Mission Europas in der heutigen Weltsituation, in: Europa – Erbe und Aufgabe.
Internationaler Gelehrtenkongress Mainz 1955, hrsg. u. eingl. v. Martin Göhring. Wiesbaden 1956, 313-322
(313).
8. Zitiert nach Loth, W., Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941-1945. München 1980,
121.
9. Zitiert nach Silnizki, M., Der Wahnsinn der Macht und die Macht des Wahnsinns. Zwischen dem „prekären
Status quo“ und der entgrenzten Eskalation. 25. Mai 2025, www.ontopraxiologie.de.

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