Verlag OntoPrax Berlin

Trumps „Grand Strategy“

Im Kriegsschatten der Großmächte

Übersicht

1. Zwei US-republikanischen Vordenker
2. Gefangen zwischen Kriegstüchtigkeit und Kriegsfähigkeit
3. Diplomatie statt Krieg

Anmerkungen

„Taktik ohne Strategie ist der Lärm vor der Niederlage.“
(Sun Tzu)

1. Zwei US-republikanischen Vordenker

Wer glaubt, dass Trumps Außen- und Sicherheitspolitik chaotisch, planlos und unberechenbar ist, der irrt. Seine theatralen und hochtrabenden Auftritte verdecken oft seine wahren Absichten und verschleiern bewusst die klare strategische Ausrichtung seines außenpolitischen Handelns.

Um genauer zu verstehen, was Trump außenpolitisch will und welche „Grand Strategy“ er eigentlich verfolgt, muss man seine Vordenker kennen, die im Verborgenen agieren und für die Ausformung und Ausformulierung seines außen- und sicherheitspolitischen Denkens von entscheidender Bedeutung sind. Zwei US-Geostrategen sind dabei besonders hervorzuheben: A. Wess Mitchell (geb. 1977) und Elbridge A. Colby (geb. 1979).

Mitchell war von 2017 bis 2019 stellvertretender Außenminister für europäische und eurasische Angelegenheiten in Trumps erster Amtszeit (2017-2021). Nach seinem Ausscheiden aus dem Amt 2019 hat er zusammen mit Elbridge Colby eine den US-Republikanern nahestehende Denkfabrik „The Marathon Initiative“ für strategische Studien gegründet.

Hervorzuheben ist, dass Mitchell Germanistik und Europastudien an der Georgetown University School of Foreign Service studiert und seinen Doktortitel in Politikwissenschaft 2017 an der Freien Universität Berlin mit der Doktorarbeit „The Grand Strategy of the Habsburg Empire 1700-1866. A Study in Interstitial Time-Management“ (Doktorvater: Eberhard Sandschneider) erworben hat.

Die Dissertation behandelt die Überlebensstrategien der Habsburgermonarchie vor dem Hintergrund der Großmächterivalität zwischen 1700 – 1866 unter den Bedingungen mangelhafter Ressourcen und zahlreichen Bedrohungen, vor denen die Donaumonarchie stand. Die der Dissertation zugrunde gelegten theoretischen Überlegungen dienen Mitchell für die Herausarbeitung seines Konzepts der „Grand Strategy“ für die USA, die unten eingehend untersucht wird.

Man hat bei der Lektüre den Eindruck, als hätte der junge US-Geostratege mit seinen Studien über die Geschichte der europäischen Großmächte des 18./19. Jahrhunderts sich ein Beispiel an Henry Kissinger nehmen wollen und in die Fußstapfen seines großen Vorgängers treten wollen. Kissinger entwickelte auf der Grundlage seiner 1954 verfassten Dissertation „The Congress of Vienna: Revolution, Legitimacy, and International Equilibrium“ später das Konzept eines globalen Machtgleichgewichts, basierend auf der Analyse des Wiener Kongresses und des darauffolgenden hundertjährigen Friedens in Europa.

Mitchells Bruder im Geiste, Elbridge Colby, ist Sicherheitsexperte, der von 2017 bis 2018 in der ersten Trump-Administration als US-Unterstaatssekretär für Verteidigungspolitik (U.S. Under Secretary of Defense for Policy) tätig war. Unter seiner Leitung wurde 2018 die National Defense Strategy (NDS) entworfen, in deren Mittelpunkt Chinas Aufstieg und die damit verbundenen „Gefahren für die nationalen Sicherheit der USA“ stand.

Seit Trumps Rückkehr an die Macht im Januar 2025 hat Colby seinen alten Job zurückbekommen. 2019 gründete Colby zusammen mit Mitchell die eben erwähnte Denkfabrik „The Marathon Initiative“. Die Denkfabrik bezweckt nach eigenen Angaben „eine gründliche Auseinandersetzung mit den Herausforderungen, vor denen die USA im Zeitalter des Großmächtewettbewerbs stehen.“

Die beiden US-Republikaner haben bereits vor vier bzw. fünf Jahren zwei Strategiepapiere vorgelegt, die Trumps außen- und geopolitische Ansichten anscheinend bis heute prägen. Während Colby am 20. September 2020 seine Schrift über die Rolle der Verbündeten in der US-Militärstrategie unter dem Titel „Hearing on the Role of Allies and Partners in U.S. Military Strategy and Operations“ veröffentlichte, erschien Mitchells umfangreiche Studie „A Strategy for Avoiding Two-Front War“ (Eine Strategie zur Vermeidung eines Zweifrontenkrieges) am 21. August 2021 in der National Interest.

Die beiden Schriften sind geistesverwandt, auch wenn sich Mitchells Studie theoretisch fundierter und tiefgründiger darstellt. Colby betont in seiner Veröffentlichung die entscheidende Bedeutung von Verbündeten und Partnern für die US-Militärstrategie in einer Welt, die zunehmend von der Großmächterivalität geprägt ist.

Trump denkt im Übrigen nicht anderes als Colby, auch wenn er mit seiner Kritik der europäischen Nato-Verbündeten nach außen einen gegenteiligen Eindruck vermittelt. Seine vermeintliche Infragestellung des Nato-Bündnisses ist nichts weiter als ein Theaterdonner und dient allein dazu, die Verbündeten sicherheitspolitisch zu erpressen, um sie finanziell zur Kasse zu bitten.

Trumps Kritik ist in der Geschichte des Bündnisses auch alles andere als neu. Noch 2004 stellte Ulrich Menzel fest: „Nicht nur sicherheitspolitisch ist Europa Trittbrettfahrer der USA, auch die sozialstaatliche Abfederung des europäischen Paradieses ist nur möglich, weil die USA den Militärausgaben gegenüber den Sozialausgaben mehr Gewicht beimessen.“1

Freilich betätigt sich Trump in seiner nicht gerade zimperlicher Art wie ein Schutzgelderpresser, der nicht einmal im Traum daran denkt, auf die Nato-Allianz zu verzichten. Ganz im Gegenteil: Er braucht die Nato-Allianz mehr denn, um alle militärischen und ökonomischen Ressourcen im Indopazifik im Kampf gegen China zu konzentrieren.

Colby ist genau dieser Auffassung, wenn er schreibt: Verbündete sind für die Grand Strategy in Anbetracht einer immer schärfer werdenden Konfrontation mit China von zentraler Bedeutung. Die USA können nicht mehr allein agieren, da sie mittlerweile nicht so mächtig sind wie früher. China hat bereits eine größere Wirtschaftskraft nach Kaufkraftparität und könnte in den kommenden Jahrzehnten ökonomisch über die USA hinauswachsen.

Diese 2020 niedergeschriebenen Überlegungen sind bereits heute eine geoökonomische Realität. Die USA stehen vor einer Vielzahl von Bedrohungen, insbesondere durch China und Russland, die eine strategische Antwort erfordern, behauptet Colby: China strebe nach einer regionalen Hegemonie in Asien, wohingegen Russland eine Bedrohung für die Nato darstelle, insbesondere in Osteuropa.

Die US-Verteidigungsstrategie müsse sich an den veränderten globalen Machtverhältnissen orientieren und Prioritäten setzen. Die NDS 2018 priorisiere darum China als Hauptkonkurrenten und lege den Fokus auf Asien. Die USA sollten zwar Partnerschaften in Südostasien, Südasien und im Indopazifik ausbauen und Länder wie Indien, Vietnam und Indonesien dazu motivieren, gegen die chinesische Hegemonie vorzugehen.

Sie sollten aber gleichzeitig vorsichtig bei der Erweiterung formeller Allianzen sein, um ihre Glaubwürdigkeit nicht zu gefährden. Noch wichtiger ist dabei, dass sie ihre Verbündeten dazu anregen, mehr Verantwortung für die Sicherheit zu übernehmen, was insbesondere die Lastenverteilung betrifft, da viele Länder sich davor drücken.

Summa summarum betont Colby die Notwendigkeit, die militärischen Fähigkeiten gegenüber China und Russland im Zeitalter der ausgebrochenen Großmächterivalität aufrechtzuerhalten bzw. auszubauen.

2. Gefangen zwischen Kriegstüchtigkeit und Kriegsfähigkeit

Trumps sog. „Friedensinitiativen“, wo auch immer sie stattgefunden haben sollen und immer noch stattfinden, dienen in Wahrheit nicht dazu, einen wie auch immer gearteten Frieden zu stiften, sondern seine „Grand Strategy“ durchzusetzen. Man sollte sich nicht von seinen Auftritten als selbsternanntem „Friedensstifter“ blenden lassen. Seine aggressiven, oft martialischen Äußerungen und Taten (wie die Bombardierung Irans, Angriffe gegen die Huthi-Stellungen im Jemen oder neuerdings die US-Angriffe auf Boote aus Venezuela) sprechen für sich.

Was aber genauer unter Trumps „Grand Strategy“ zu verstehen ist, kann man dem im Jahr 2021 veröffentlichtem Strategiepapier „A Strategy for Avoiding Two-Front War“ von A. Wess Mitchells entnehmen, das heute noch aktueller denn je ist.

Die Vermeidung eines Zweifrontenkrieges mit China und Russland müsse zur Ultima Ratio der US Grand Strategy werden, schreibt Mitchells. An die Stelle der bis jetzt geltenden „strategischen Gleichzeitigkeit“ (strategic simultaneity) – einer Strategie, zwei Kriege gleichzeitig zu führen, muss dasjenige treten, was Mitchell vier Jahre später die „strategic diplomacy“ nennen wird2.

Eine Diskussion darüber, wie der Zweifrontenkrieg geführt werden muss, sollte es dazu kommen, muss laut Mitchell einer ganz anderen Diskussion weichen, die nicht nur auf die Logik des Krieges, sondern auch auf die der Diplomatie setzt. Das Ziel der Diplomatie soll es sein, einen Zweifrontenkrieg zu verhindern und dadurch die „strategische Gleichzeitigkeit“ (strategic simultaneity) zu vermeiden.

Und genau diese Strategie verfolgt Trump heute in seiner zweiten Amtszeit ziemlich konsequent, wenn man die Ukraine- und Russlandpolitik der Trump-Administration seit dem 20. Januar 2025 Revue passieren lässt. Trump setzt einerseits eindeutig und für jedermann sichtbar auf eine Annährung zu Russland beinahe um jeden Preis, um den Krieg in der Ukraine diplomatisch zu lösen, und greift andererseits China frontal an.

Trumps strategisches Ziel ist dabei nicht Frieden, sondern die Einhegung des Krieges zwischen zwei nuklearen Leviathans, nicht Friedensschaffung in der Ukraine, sondern Kriegsvermeidung zwischen Russland und der Nato auf ukrainischem Boden. Trump ist von der Idee geradezu besessen, einen „Dritten Weltkrieg“ zu verhindern. Nur einige Schlagzeile aus den Medien dazu:

„Ich werde den dritten Weltkrieg verhindern, ganz einfach“ (Trumps Rede auf dem Kongress der US-Republikaner am 5. März 2023);

„Trump warnt vor >drittem Weltkrieg<, wenn er die Wahl verliert“ (FAZ, 26. Juli 2024).

„1000 Tage Krieg gegen die Ukraine: Jetzt muss Trump den Dritten Weltkrieg verhindern“ (NOZ, 19. November 2024) usw.

Diese Idee fixe begleitet Trump sein Leben lang. Darauf angesprochen, wie er „die Zukunft der Welt“ sieht, sagte der vierundvierzigjährige Trump im März 1990 in einem Interview für das Playboy-Magazin: „Ich denke oft an einen Atomkrieg. … Er ist die größte Katastrophe, die größte Bedrohung für die Welt, und niemand spricht über die Einzelheiten. Es ist wie eine Krankheit – niemand glaubt, dass er sie bekommt, bis er sie hat. … Ich halte es für die größte Dummheit, dass die Leute glauben, es werde keinen Atomkrieg geben, weil sie wissen, wie zerstörerisch er sein wird. Und das ist ein blanker Unsinn.“

Bis jetzt gestaltet sich freilich Trumps Verhinderung des „Dritten Weltkrieges“ in der Ukraine ziemlich schwierig. Freund wie Feind versuchen Trumps Ukraine- und Russlandpolitik zu torpedieren und zu konterkarieren.

Trumps Russlandpolitik stehen einerseits die europäischen Bündnisgenossen im Wege. Sie versuchen seine Annährung an Russland um jeden Preis – auch um den Preis einer Weiterführung des Krieges3 – zu desavouieren, weil sie im Gegensatz zu Trumps Grand Strategy nicht global, sondern regional, nicht geopolitisch, sondern ideologisch, nicht geostrategisch, sondern eurozentrisch denken und handeln.

Europa geht es in seinem Kampf gegen Russland nicht um die globale Politik des US-Hegemonen, dem es um die Aufrechterhaltung der Welthegemonie Amerikas geht, sondern um die ideologische Bekämpfung des „ewigen Feindes“ Russland, das angeblich die „politische Ordnung“ Europas (Friedrich Merz) zerstören will.

Diese europäische perturbatio animi (Geistesverwirrung) vernebelt den Blick darauf, dass die EU-Europäer sich, indem sie Trump aus ihrer kurzsichtigen ideologischen Borniertheit im Wege stehen, selbst schaden. Im Falle des Niedergangs der US-Hegemonie werden nämlich die EU-Europäer diejenigen sein, die zuallererst unter die Räder kommen. Sie verlieren dann nicht nur die USA als Schutzpatron, sondern auch ihre geoökonomische Machtstellung, die schon jetzt gewaltig wackelt.

Im Falle der Kriegsniederlage der Ukraine (und nichts spricht heute dagegen) wird Europa geopolitisch erst recht marginalisiert und es besteht dann die Gefahr des Zerfalls der Europäischen Union.

Andererseits stößt Trumps Zollpolitik auf mächtigen Widerstand Chinas und der anderen BRICS-Staaten, allen voran Indien und Brasilien. Trump muss sich mittlerweile eingestehen, dass er mit seinem Zoll-Krieg nicht weitergekommen ist. Hinzu kommt ein militärstrategisches Problem. Zwar ist es ratsam, einen Zweifrontenkrieg zu vermeiden. Die Frage ist aber, ob die USA heutzutage überhaupt in der Lage sind, wenigstens einen Angriffskrieg gegen eine Supermacht wie China zu führen.

Selbst wenn man annimmt, dass so ein Krieg allein und ausschließlich konventionell und nicht atomar geführt werden soll, ist es fraglich, ob er für die USA führbar, geschweige gewinnbar wäre. Mindestens drei Gründe sprechen gegen die US-Chancen, den Krieg gegen China erfolgreich zu bestehen.

Die US-Rüstungsindustrie würde zum einen gelähmt, sollte China von heute auf morgen die Lieferung der Seltenen Erden stoppen, ohne die die Rüstungsproduktion schnell zum Stillstand kommen würde. Von 2020 bis 2023 bezogen die USA rund 70 % ihrer Seltenen-Erden-Importe aus China.

Die USA haben sich ferner in den vergangenen drei Jahrzehnten deindustrialisiert und besitzen nicht mehr ausreichende Rüstungskapazitäten mit entsprechend qualifiziertem Fachpersonal, um einen Krieg mit derart massivem Einsatz von Menschen und Kriegsmaterial wie in der Ukraine führen zu können.

Zum Vergleich: Russland hat nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gigantische Überkapazitäten im Bereich der Rüstungsindustrie aufgebaut, die nach dem Untergang des Sowjetreiches nur teilweise vernichtet bzw. abgebaut; vieles wurde aber einfach stillgelegt. Russland konnte deswegen beim Kriegsausbruch in der Ukraine auf die stillgelegte militärische Infrastruktur zurückgreifen, sie schnell reaktivieren, modernisieren und ausbauen. China rüstet sich ebenfalls massiv auf.

Zum zweiten sind die USA, was die Hyperschallgeschwindigkeitstechnologie betrifft, gegenüber China und vor allem gegenüber Russland um Jahre in Hintertreffen geraten. Ohne diese moderne Militärtechnologie kann heute kein globaler Krieg geführt, geschweige gewonnen werden. Alle Flugzeugsträger der US-Navy werden heute zur leichten Zielscheibe und können schnell ausgeschaltet bzw. vernichtet werden. In einem solchen Falle bliebe dann den USA als Ultima Ratio nichts anderes übrig, als ihr Nukleararsenal einzusetzen.

Zum dritten besteht schon jetzt de facto ein quasi-Bündnis zwischen Russland und China. China kann nicht zulassen, dass Russland den Ukrainekonflikt verliert, da dies den USA ermöglichen würde, ihre Aufmerksamkeit auf Asien zu richten. Dies soll der chinesische Außenminister Wang Yi bei einem nichtöffentlichen Treffen mit Kaja Kallas (Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik), erklärt haben, berichtet die South China Morning Post am 10. Juli 2025 unter Berufung auf Quellen.

Auch Russland würde höchstwahrscheinlich nicht zulassen, dass China verliert, sollte es zum Krieg zwischen den USA und China kommen.

Und was die europäischen Nato-Verbündeten angeht, so haben sie nie einen solchen mit den USA und Sowjetrussland vergleichbaren militärisch-industriellen Komplex aufgebaut, vom Nuklearpotenzial ganz zu schweigen. Um mit Russland gleichzuziehen, würden sie, wenn überhaupt, Jahrzehnte brauchen.

Selbst wenn die EU-Europäer ihre Rüstungsindustrie rasch aufgebaut hätten, wozu wollen sie sich massiv aufrüsten? Um gegen Russland in den Krieg ziehen zu können? Das wäre, gelinde gesagt, Selbstmord. Russland hat wiederum seinerseits trotz anderslautender Behauptungen gar nicht vor, die Nato-Staaten anzugreifen.

Zuletzt wies Putin am 2. Oktober 2025 bei einem Treffen des Valdai International Discussion Club Behauptungen, Russland könne die Nato angreifen, als „Schwachsinn“ (чушь) zurück.

„Die herrschenden Eliten und das vereinte Europa schüren weiterhin Hysterie, als würde der Krieg mit Russland vor der Tür stehen. Sie wiederholen diesen Schwachsinn, dieses Mantra immer und immer wieder“, sagte Putin und fügte sodann ziemlich aufgeregt hinzu: „Manchmal sehe ich mir an, was sie da sagen und wie sie sprechen. Und ich glaube, sie können doch selber daran nicht glauben, dass Russland die Nato angreifen wird – es ist einfach unmöglich daran zu glauben. Sie versuchen aber trotzdem, ihre eigenen Leute darin zu überzeugen.“

Zumindest eine Person glaubt nicht an diesen „Schwachsinn“ und die heißt: Donald John Trump.

3. Diplomatie statt Krieg

Kommen wir zu Mitchells Strategiepapier zurück. Darin befürwortete er zwar einen konfrontativen Kurs gegenüber China, bemängelte aber zugleich eine fehlende Neuausrichtung der diplomatischen Prioritäten und Ressourcen, um sich auf den Indopazifik zu konzentrieren, wie die NDS 2018 fordert. „Diese Fehlausrichtung der militärischen und diplomatischen Power der USA ist weder wünschenswert noch tragbar“ (This misalignment in the objects of U. S. miltary and diplomatic power ist neither desirable nor sustainable), stellte Mitchell apodiktisch fest.

Die USA müssen seiner Meinung nach entweder die Funktionsfähigkeit der bestehenden Allianzen verbessern, um dem Druck der „strategischen Gleichzeitigkeit“ standzuhalten, oder die Verteidigungsbudgets drastisch erhöhen. Aber selbst das würde nicht ausreichen.

Statt das Militär stets einzusetzen, fordert Mitchell vielmehr diplomatisch orientierte Konfliktlösungen, um den gleichzeitigen Kampf gegen zahlrechen Feinde zu vermeiden.

„Statt zu versuchen, Russland und China gleichzeitig einzudämmen, müssen die USA einen Weg finden, ihre Auseinandersetzung mit den beiden Großmächten zeitlich zu staffeln, um sicherzustellen, dass sie in Falle eines Krieges nicht gleichzeitig mit den beiden kämpfen müssen.“

Was empfiehlt Mitchell nun konkret? „Das Ziel der amerikanischen Diplomatie und die Krux unserer Strategie zur Vermeidung des Zweifrontenkrieges“ (The aim of American diplomacy and the crux of our strategy for avoiding a two-front war) sollte es sein, „Russlands Dilemma zu verschärfen und die Bedrohung für uns zu verringern, und zwar schneller, als China sein ehrgeiziges militärisches Potenzial als Großmacht ausschöpfen kann.“

Die USA müssen dabei nach der Methode „Zuckerbrot und Peitsche“ vorgehen: Einerseits wird Russland vor weitreichenden Konsequenzen für seine „Expansion nach Westen“ (westward expansion) gewarnt, die eine weitaus schwerere Niederlage als die in der Ukraine sein könnten; gleichzeitig werden aber andererseits neue Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit mit dem „Westen“ und Investitionen in Russland angeboten.

„Kurzum: Das Ziel sollte es sein, Amerikas Gleichzeitigkeitsproblem zu lindern, indem wir Russland Anreize schaffen, weniger eine europäische und mehr eine asiatische Macht zu sein“ (Simply put, the goal should be to alleviate America´s simultaneity problem by giving Russia incentives to be less of a European power – and more of an Asian one).

Als „eine asiatische Macht“ sollte Russland sodann in Konkurrenz mit einer anderen asiatischen Macht China treten, statt sich gegen die USA zu stellen. Russland werde nämlich als Großmacht unterschätzt. „Tatsächlich führt Moskau, wie eine wachsende Liste feindseliger russischer Aktionen zeigt, bereits jetzt eine Art Krieg gegen Amerika“, behauptet Mitchell. Offenbar spielt er auf Russlands Einmischung in den US-Wahlkampf 2016 an, die von den US-Demokraten unter Hillary Clinton propagandistisch ausgeschlachtet wurde. Diese vermeintliche Einmischung hat sich allerdings längst als Fake News herausgestellt.

Die beiden Großmächte Russland und China seien strategische Rivalen der USA und die Aktionen einer von ihnen eröffnen der anderen Chancen, die sonst vielleicht nicht bestanden hätten, selbst wenn sie unkoordiniert erfolgen.

„Russlands Vorgehen im Baltikum würde China eine günstige Ausgangslage für ein Vorgehen gegen Taiwan bieten. … Allein die Präsenz eines risikofreudigen Russlands könnte, anders gesagt, ein aggressiveres China auslösen, als es sonst der Fall gewesen wäre“, mutmaßte Mitchell bereits im Jahr 2021.

Als hätte der Nato-Generalsekretär, Mark Rutte, Mitchells Mutmaßung gekannt, sagte er neulich genau das Gleiche nur in umgekehrter Reihenfolge, indem er sich am 14. Oktober 2025 zur Äußerung verleiten lies: „Wenn China gegen Taiwan vorgehen würde, wäre es wahrscheinlich, dass Peking seinen Juniorpartner Russland unter Wladimir Putin zwingen würde, bestimmte Maßnahmen gegen die Nato zu ergreifen, um uns zu beschäftigen“. Nun ja, Phantasieren sei erlaubt, wenn man sonst nichts zu tun hat!

Vor dem Hintergrund all dieser Überlegungen kommt Mitchell zur Überzeugung, dass die Diplomatie es richten kann und dazu beitragen muss, die Kluft zwischen den militärischen Ressourcen und Bedrohungen zu überbrücken, indem sie einen der Hauptrivalen weniger bedrohlich mache. Mitchells Strategiepapier beruht, wie oben gesehen, offenkündig auf seinen theoretischen Studien über den Überlebenskampf der Habsburgermonarchie.

Wie auch immer, Mitchells Kernthesen führen uns direkt zu Trumps Ukraine- und Russlandpolitik. Trump geht es nicht darum, wie manche zu wissen glauben, Russland von China abspenstig zu machen. Sein Anliegen ist vielmehr Russland für sich zu gewinnen oder zumindest bei einer zunehmenden Konfrontation mit China zu neutralisieren. Darin besteht im Wesentlichen Trumps „Grand Strategy“ und dafür ist er bereit, die Ukraine fallen zu lassen bzw. zu opfern.

Um eine solche Strategie erfolgreich umzusetzen, bieten sich laut Mitchell drei Optionen an:

  1. Den schwächeren Rivalen „umdrehen“ („Flip“ the weaker). Diese Option besteht darin, sich mit dem Schwächeren von beiden Rivalen zu verbünden, um die Ressourcen auf den Stärkeren zu konzentrieren.
  2. Den Wettbewerb mit dem Stärkeren hinauszuzögern (Defer competition with the stronger). Die zweite Option besteht darin, die Rivalität mit dem stärkeren Gegner hinauszuzögern, um den schwächeren zunächst zu erledigen.
  3. Beide Rivalen kooptieren (Coopt both rivals). Diese Option wäre die eleganteste Lösung, in der beide Rivalen in kooperative Strukturen eingebunden werden, die Konflikte verhindern oder abmildern.

Trumps Russlandpolitik der vergangenen zehn Monate seit seinem Amtseintritt am 20. Januar 2025 zeigt, dass er in Kombination dieser drei Optionen versucht, Russland umzudrehen, für sich zu gewinnen und/oder mit Kooperationsversprechungen an sich zu binden.

Mit seiner „Grand Strategy“ hatte Trump allerdings bis jetzt keinen durchschlagenden Erfolg. Zu stark weht ihm ein eisiger transatlantischer Wind ins Gesicht. Seine Gegner kommen aus den eigenen Reihen diesseits und jenseits des Atlantiks und legen ihm Steine in den Weg, damit seine Annährung an Russland scheitert.

Immerhin hat er es aus seiner Sicht geschafft, die Gefahr des „Dritten Weltkrieges“ einzuhegen, die US-Finanzierung und US-Waffenlieferungen an die Ukraine drastisch zu reduzieren und Russland zumindest rhetorisch zu signalisieren, dass er Verständnis für Russlands Sicherheitsinteressen hat.

Was aus dieser Gemengelage wird, wird sich noch herausstellen. Es ist jedenfalls, wie der Volksmund sagt, noch nicht aller Tage Abend. Bis auf Weiteres geht aber Krieg unvermindert weiter. C’est la vie!

Anmerkungen

1. Menzel, U., Paradoxien der neuen Weltordnung. Politische Essays. Suhrkamp 2004, 113.
2. A. Wess Mitchell, The Return of Great-Power Diplomacy. How Strategic Dealmaking Can Fortify
American Power. Foreign Affairs, 22. April 2025.
3. Vgl. Silnizki, M., Kriegspartei versus Friedenspartei. Wer obsiegt in diesem Schaukampf? 16. März 2025,
www.ontopraxiologie.de.

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