Verlag OntoPrax Berlin

Im Wandel der Nachkriegsordnungen

Auf dem Wege zu einem zivilisatorischen Pluriversums?

Übersicht

1. Aus der Zeit gefallen
2. Von der Status-quo-Politik zur Expansionspolitik
3. Von der „Expansionsphase“ zur „Konfrontationsphase“

Anmerkungen

„Wir treten für den Respekt vor der Vielfalt … der Zivilisationen ein….
Alle von der Menschheit geschaffenen Zivilisationen sind großartig.
Aus ihnen schöpft der Modernisierungsdrang jedes Landes seine
Stärke und sein Alleinstellungsmerkmal.“
(Xi Jinping, 15. März 2023)1

1. Aus der Zeit gefallen

Liest man manche Publikationen der letzten Zeit, so hat man den Eindruck, dass sie aus der Zeit gefallen sind. Allesamt werden sie von Männern geschrieben, die den alten Zeiten nachtrauern und nicht merken, dass die Zeit sie längst überrollt hat und ihnen davongelaufen ist. Auf der Strecke des Unzeitgemäßen verbleibend, träumen sie unentwegt von der Zeit, die nie mehr zurückkehren wird, weil sie unwiderruflich vorbei ist.

Ja, die Männer aus der versunkenen Vergangenheit! Sie träumen die Träume der längst vergangenen Epoche und sind bei weitem nicht die ersten, die immer schon davon träumten, „dass doch jene Zeit, die ohne Zeit ist, käme und uns aus dieser Zeit in ihre Zeiten nähme“. In dieser unnachahmlichen Art träumte und reimte Paul Fleming (1609-1640) bereits im 17. Jahrhundert.

Freilich leben wir heute weder im 17. noch im 20., sondern im 21. Jahrhundert – in einer unpoetischen Zeit, in der es ziemlich unstatthaft ist, von einer zeitlosen Zeit zu träumen. Die Männer wie der „Chronist des Westens“, Heinrich August Winkler (geb. 1938), und Stewart Patrick (senior fellow and director of the Global Order and Institutions Program at the Carnegie Endowment for International Peace) bekümmert das ganz und gar nicht. Nostalgisch träumen sie noch vom 20. Jahrhundert und merken nicht, dass das 21. Jahrhundert bereit 25 Jahre alt geworden ist.

Will Winkler „die politische Kultur des Westens verteidigen“ (die Überschrift seines Handelsblatt-Interviews vom 19. September 2025, S. 10 f.), so warnt Patrick in seinem Beitrag „What Happened to >the West<?“ in Foreign Affairs vom 18. September 2025 eindringlich vor dem „Aufstieg des illiberalen Multilateralismus“ (the rise of illiberal multilateralism), der den „Westen“ bedroht.

Und die beiden möchten den „Westen“, den es gar nicht mehr gibt, retten: Der eine will „eine Niederlage der Ukraine“ abwenden, die „eine Niederlage des Westens (wäre) und die … Putin an(strebt)“ (Winkler). Und der andere will „die liberalen Vorstellungen, die dem geopolitischen Westen (the geopolitical West) zugrunde liegen“, retten.

Der „illiberale Multilateralismus“ ist auf dem Vormarsch und führt zu einer Weltunordnung, die „von autoritären Großmächten geprägt und sogar dominiert wird“, entrüstet sich Patrick. Zwar bietet „das Verschwinden des Westens“ (the fading of the West) eine „Chance für konstruktiv agierende Mittelmächte“ (opening for constructive middle powers), die zur Gründung neuer Networks führen könnte und auf das 21. Jahrhundert zugeschnitten wären. Es kündige aber gleichzeitig „eine weniger friedliche, weniger kooperative Welt an als die, die der Westen geschaffen hat“.

Und in Beantwortung der Fragen, ob „an die Stelle der Pax Americana eine Weltunordnung“ trete und ob „eine multipolare Welt möglicherweise sogar eine stabilere als eine US-dominierte sein (kann)“, meinte Winkler: „Ich würde es eine fluide Multipolarität nennen, in der die USA und China um die Vormachtrolle streiten,“ sodass es für eine „stabilere“ multipolare Welt „keine Anhaltspunkte“ gebe.

Winkler und Patrick tun so, als wäre die „Pax Americana“ in den vergangenen dreißig Jahren „stabil“, friedlich“ und „kooperativ. Mitnichten! So viele Kriege, Krisen, Bombardements und Zerstörungen ganzer Landstriche, die seit Anfang des 21. Jahrhunderts stattgefunden haben, gab es seit dem Ende des Vietnamkrieges nicht mehr. Da kann beim besten Willen von einer „friedlichen“, „kooperativen“ und „stabileren“ unipolaren Weltordnung, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts entstanden ist, keine Rede sein.

Winkler und Patrick verkennen zudem die geopolitische und geoökonomische Realität der Gegenwart, indem sie zwei unterschiedliche Epochen der Nachkriegsgeschichte miteinander vermengen. Zwar stellt Winkler am Ende seines Interviews zutreffend fest, dass es „ein Irrtum des amerikanischen Philosophen Francis Fukuyama und seiner Anhänger (war), nach dem Untergang des Kommunismus in Europa zu meinen, die nichtwestliche Welt habe keine andere Option, als nunmehr das westliche Gesellschafts- und Politikmodell zu übernehmen.“

Winkler zieht aber daraus keine Schlüsse und beharrt darauf, dass „die politische Kultur des Westens nach innen und nach außen gegen ihre Verächter“ verteidigt werden muss. Von welcher Epoche der Nachkriegsgeschichte redet er aber, wenn er von der „politischen Kultur des Westens“ spricht?

Er versteht offenbar nicht, dass es erstens den „Westen“ so, wie er ihn im „Kalten Krieg“ erlebte, nicht mehr gibt, dass Europa zweitens mit dem Untergang des Kommunismus die erste Periode der Nachkriegsgeschichte (1945-1989/91) abgeschlossen und den Beginn einer neuen 1992 eingeläutet hat, die nicht unterschiedlicher sein konnten, und dass die Weltgeschichte drittens einen geopolitischen und geoökonomischen Transformationsprozess vollzogen hat, der seinesgleichen sucht.

Die zitierten Träumer sind Männer des 20. Jahrhunderts; sie sind aus der Zeit gefallen und merken nicht, dass die Zeit ihnen davongelaufen ist.

2. Von der Status-quo-Politik zur Expansionspolitik

Vor diesem Hintergrund nostalgisch von einer Verteidigung der „politischen Kultur des Westens … gegen ihre Verächter“ zu sprechen, ist, gelinde gesagt, unzeitgemäß und erinnert an die Worte von Karl Popper, der in seinem 1945 erschienenen Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ zur Verteidigung der „offenen Gesellschaft“ gegen ihre Feinde aufgerufen hat. Das ist aber lange her und hat mit der geopolitischen und geoökonomischen Realität der Gegenwart nichts mehr zu tun.

Nostalgisch verklärt auch Patrick die Zeiten des „Kalten Krieges“ und verkennt dadurch, dass wir in einem ganz anderen Zeitalter leben.

Während des „Kalten Krieges“ entwickelte sich der Westen zu einem kohärenten und einheitlichen geopolitischen Akteur, der aus einem Block von (meistens) demokratischen Ländern bestand, die sich gegen die Sowjetunion und ihre Satelliten stellten. …

Die Doktrin der Eindämmung des Kommunismus brachte somit einen konkreteren geopolitischen im Gegensatz zu einem nebulösen zivilisatorischen Westen hervor, der sich bald in neuen Institutionen wie der NATO, einem integrierenden Europa und der OECD verkörperte. „Der Westen wurde zu einer Ordnung in der Ordnung, zu einem Club von Marktdemokratien“ (The West became an order within an order, a club of market democracies), eingebettet in ein umfassenderes globales System, das von großen Mitgliedsorganisationen wie der UNO, der Weltbank und dem IWF sowie dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen repräsentiert wurde.

Diese „gemeinsame Verbundenheit mit der Demokratie und dem Kapitalismus bildete die Grundlage für die westliche Solidarität“ (A shared attachment to democracy, as well as capitalism, underpinned Western solidarity), schwärmt Patrick nostalgisch von der „westlichen Solidarität“ in Zeiten der von ihm beschriebenen bipolaren Weltordnung.

Er idealisiert die Vergangenheit, in der die „westliche Solidarität“ nicht so sehr auf der „Verbundenheit von Demokratie und Kapitalismus“ als vielmehr auf einer erbittert geführten Systemkonfrontation des Westens gegen einen ideologischen Feind unter den Bedingungen der bipolaren Weltordnung beruhte, in der die „Ordnung in der Ordnung“ (Patrick) bzw. „die politische Kultur des Westens“ (Winkler) zu verteidigen galt.

Wir leben aber heute nicht mehr in Zeiten der ideologischen Systemkonfrontation des „Kalten Krieges“. Heute geht’s nicht um eine vermeintliche oder tatsächliche ideologische und militärische Bedrohung durch den Sowjetkommunismus.

Die Gefahr kommt heute von einer ganz anderen und viel bedrohlicheren Seite, nämlich die Gefahr eines geopolitischen und geoökonomischen Niedergangs Europas und der USA, die die Weltdominanz bis dato garantiert haben.

Es geht nicht mehr und nicht weniger als um das geopolitische und geoökonomische Überleben der westlichen Hemisphäre, die auf dem besten Wege ist, vom sog. „illiberalen Multilateralismus“ (Patrick) überrollt zu werden.

Auch die Gegenüberstellung vom geopolitischen und „nebulös zivilisatorischen Westen“ (nebulously civilizational West) verkennt die wahre Natur der bipolaren Systemkonfrontation, die ideologisch und nicht geopolitisch geprägt war. Patrick hat Kissinger nicht aufmerksam gelesen, der einst spöttisch anmerkte: In den amerikanischen Eliten herrschte eine außenpolitische Stimmung vor, die entweder von der Theologie oder von der Psychiatrie vorgegeben wurde und folgerichtig „geopolitische Erwägungen ganz einfach ausschloss.“2

Die nostalgische Verklärung des „Kalten Krieges“ ignoriert zudem den stattgefundenen Transformationsprozess der bipolaren in eine unipolare Weltordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts.

Die „westliche Solidarität“ des „Kalten Krieges“ kam in Zeiten der Bedrohung zustande, in denen der Westen sich als Schicksalsgemeinschaft begriff und die USA bereit waren, ihre geoökonomischen Interessen zu Gunsten des westlichen, geo- und sicherheitspolitischen Gesamtkonzeptes zur Eindämmung des Sowjetkommunismus zu opfern.

Auch in Zeiten des „Kalten Krieges“ waren die Beziehungen innerhalb der Nato-Allianz alles andere als spannungsfrei und oft nicht weniger spannungsgeladen als heute. Es gab nur einen „kleinen“ Unterschied, den man heute erneut ohne Sinn und Verstand zu reaktivieren versucht: „die Gefahr aus dem Osten“.

Der „Kalte Krieg“ zwang die USA dazu, ihre eigenen Wirtschaftsinteressen dem Welthandelssystem unterzuordnen und sich zur Eindämmung des Sowjetkommunismus einbinden zu lassen. Das von den USA aufgebaute und vom Westen dominierte Welthandelssystem diente im ideologischen und technologischen Systemwettbewerb zur wirtschaftlichen Stärkung des Nato-Bündnisses, was „durchaus die Hinnahme illiberaler und diskriminatorischer Handelspraktiken der Allianzpartner und die einseitige Öffnung des riesigen eigenen Marktes einbezog.“3

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts entfiel nicht nur die jahrzehntelang andauernde ideologische Systemkonfrontation, sondern auch die Rücksichtnahme auf die „unfairen“ Handelspraktiken der europäischen Nato-Verbündeten seitens des US-Hegemonen.

Bereits kurz nach dem Ende der ideologischen Systemkonfrontation machte Andreas Falke 1994 eine ebenso bemerkenswerte wie zutreffende Voraussage: „Das Ende des Kalten Krieges wird den Paradigmenwechsel beschleunigen und die Pluralisierung handelspolitischer Ansätze neben der etablierten Ideologie des Handelsliberalismus fördern.“4

Diese von Andreas Falke prognostizierten Zeiten sind längst eingetreten. Es gibt, wie gesagt, weder den „Westen“, an dessen Stelle eine um Mittelosteuropa erweiterte transatlantische Gemeinschaft unter Führung des US-Hegemonen getreten ist, noch einen ideologischen Systemwettbewerb, der durch die geopolitischen und geoökonomischen Machtinteressen der sich als „Wertegemeinschaft“ verklärten transatlantischen Welt substituiert wird.

Diese transatlantische „Wertegemeinschaft“ bleibt nach innen (nur noch bedingt) liberal, tritt aber nach außen umso mehr expansiv, aggressiv und herausfordernd auf. Das expansive und aggressive Auftreten wirkt aber mittlerweile anachronistisch, weil der Ukrainekrieg gezeigt hat, dass die militärische Prädominanz der transatlantischen „Wertegemeinschaft“ zu Ende, deren Expansionspolitik zum Stillstand gekommen und eine ökonomische und technologische Überlegenheit nicht mehr vorhanden ist.

3. Von der „Expansionsphase“ zur „Konfrontationsphase“

Das Ende des Ost-West-Konflikts und der Zerfall der Sowjetunion führten zu einer vom Westen dominierten unipolaren Weltordnung und die neuformierte transatlantische Welt sah die Zukunft triumphierend durch die rosarote Brille. Dreißig Jahre später hat sich die Weltlage drastisch geändert.

Die unipolare Weltordnung, die der expansiven US-Hegemonialpolitik Tür und Tor geöffnet hat, geht mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine am 24. Februar 2022 vor unseren Augen zu Ende und der jüngste Versuch der Trump-Administration diesen unaufhaltsamen Prozess mit einem Handels- bzw. Zoll-Krieg aufzuhalten, ist zum Scheitern verurteilt. Auch der seit 2022 verbittert geführte Sanktionskrieg gegen Russland wird keine Früchte tragen und wirkungs- und erfolglos bleiben.

Verglichen mit einem existenzbedrohenden ökonomischen Verfall des postsowjetischen Russlands in den 1990er-Jahren, in denen nach manchen Schätzungen allein drei bis sechs Billionen Dollar ins Ausland abgeflossen sind, erweist sich der tobende Sanktionskrieg gegen Russland als nicht weiter als ein Sandkastenspiel.

Jetzt stehen wir vor einer neuen Zeitrechnung und erleben seit dem Ende des „Zweiten Weltkrieges“ mit dem Jahr 2022 zum zweiten Mal eine dramatische Zäsur von welthistorischer Bedeutung, die zur Entstehung einer neuen Epoche der Weltgeschichte führt, deren geopolitische und geoökonomische Strukturen noch im Dunkeln liegen.

Wenn Winkler davon spricht, dass ein „russischer Sieg über die Ukraine … Putin ermutigen (würde), seinen Aggressionskurs fortzusetzen,“ dann weiß er mehr als die anderen. Als einer, der mit Verweis auf Friedrich Schlegels berühmtes „Bonmot“ sich selbst einst als einen „rückwärts gekehrten Propheten“ bezeichnete5, verkannte Winkler bereits die Natur der vergehenden Epoche (1992-2022 ff.), die er mit der Epoche des „Kalten Krieges“ (1945-1989/91) vermengte. Und nun glaubt er ausgerechnet jetzt die Zukunft voraussehen zu können.

Nicht Russland ist in den vergangenen dreißig Jahren gen Westen expandiert, sondern es ist genau umgekehrt: Es war eine rücksichtslose Nato-Expansionspolitik, die um tausende Quadratkilometer gen Osten expandierte und Russland zur Invasion in der Ukraine provozierte. Nachdem die Nato-Expansion an den Grenzen der Ukraine gestoppt wurde, besteht für Russland kein Anlass seinen vermeintlichen „Aggressionskurs fortzusetzen“.

Jetzt sieht es nun so aus, als seien wir nach einer dreißigjährigen „Expansionsphase“ (1992-2022) seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine 2022 in eine „Konfliktphase“ eingetreten, falls man der anbahnenden Entwicklung die Terminologie des US-amerikanischen Historikers und Zivilisationstheoretikers, Carroll Quigley (1910-1977), zugrunde legt.

In seinem umfangreichen, knapp 1000 Seiten umfassenden Werk „Tragedy and Hope“ vertrat er die These, dass die Fähigkeit der westlichen Zivilisation, „die anderen Kulturen zu zerstören“, auf einer dauerhaften Expansion beruhe.

Die westliche Zivilisation habe „drei Perioden der Expansion“ durchlaufen und wäre „drei Mal in eine Konfliktphase“ geraten. In der Konfliktphase bildete sich immer wieder „eine neue Organisation der Gesellschaft, die aus ihrer eigenen organisatorischen Kraft heraus expandieren konnte.“6

Die Geschichte der westlichen Zivilisation sei nach Quigley ein ständiger Wechsel zwischen Expansions- und Konfliktphase, die sich gegenseitig ablösen und bedingen. Die vier Etappen der Konfliktphase (Abnahme der Expansionsdynamik, Klassenkonflikte, imperialistische Kriege, Irrationalität) würden nach und nach und immer wieder durch die vier für die Expansionsphase typischen Phänomene (demographische und geographische Ausdehnung, Steigerung von Produktion und Wissen) substituiert.

Der Übergang von einer Konflikt- in eine Expansionsphase führe genauso zu einer erneuten Investition und Kapitalakkumulation, wie der Übergang von einer Expansions- in eine Konfliktphase den Rückgang der Investitionen und die Abnahme der Kapitalakkumulation mit sich bringe.7

Folgt man dieser Zivilisationstheorie von Carroll Quigley, so erscheint die fortschreitende Entwicklung des „Westens“ als eine ökonomische Veranstaltung, die den ökonomischen Gesetzen von Aufschwung und Abschwung, Boom and Bust, folgt.

Betrachtet man diesen Boom-Bust-Zyklus geopolitisch und überträgt man ihn auf die vergangenen achtzig Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, so können drei Phasen der Nachkriegsordnung identifiziert werden: Nach der „Konfliktphase“ des „Kalten Krieges“ (1945-1989/91) trat „die westliche Zivilisation“ – folgt man Quigleys Terminologie – erneut in das „Zeitalter der Expansion“ ein.

Diese neue Expansionsphase, die zur demographischen und geographischen Ausdehnung der „westlichen Zivilisation“ geführt hat, löste die Konfliktphase der bipolaren Welt ab, verwandelte diese in die Expansionsphase der unipolaren Weltordnung unter Führung des US-Hegemonen und dauerte von 1992 bis 2022 dreißig Jahre lang.

In der Expansionsphase sollte auch der postsowjetische Raum als eine „außenstehende Zivilisation“ (Quigley, ebd., 21) vom „Westen“ „zivilisiert“ und das heißt: geoökonomisch domestiziert werden, um so seine ökonomische Rückständigkeit im Sinne der Errungenschaften der „westlichen Zivilisation“ überwinden zu können.

Zur Abfederung dieses sog. Zivilisierungs- bzw. Demokratisierungsprozesses bedürfte es laut den US-Geostrategen zwingend einer Nato-Expansionspolitik. Und nun hat diese Expansionsphase mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine 2022 ihr abruptes Ende gefunden.

Was wir heute erleben, ist die Entstehung einer neuen „Konfliktphase“, die aber nicht mehr zwischen dem „Westen“ und Russland, sondern zwischen der transatlantischen Welt und dem Rest der Welt bzw. der Weltmehrheit abläuft.

In der 2022 eingeleiteten „Konfliktphase“ geht es dabei nicht mehr um deren vier Etappen (Abnahme der Expansionsdynamik, Klassenkonflikte, imperialistische Kriege, Irrationalität), wie Quigley lehrte, sondern um einen Emanzipationsprozess der Weltmehrheit von der „westlichen Zivilisation“ bzw. um eine endgültige Befreiung der Welt von der Dominanz der westlichen Hemisphäre und von der damit verbundenen zivilisatorischen Uniformität des westlichen Wertuniversalismus und der gleichzeitigen Etablierung eines zivilisatorischen Pluriversums als Wesensmerkmal der in statu nascendi begriffenen neuen Weltordnung.

Diese erstaunliche, vom Krieg in der Ukraine ausgelöste Entwicklung hat Freund wie Feind überrascht und ist nicht mehr rückgängig zu machen.

Wie sehr man zum Kriegsbeginn auch in Russland über diese Entwicklung erstaunt war, verrät ein Artikel des Chefredakteurs der renommierten russischen außenpolitischen Zeitschrift „Russland in der globalen Politik“, Fedor Lukjanov, den er am 2. Juli 2022 unter dem Titel „Warum es dem Westen nicht gelingt, den Rest der Welt für die Konfrontation mit Russland zu gewinnen“8 veröffentlicht hat.

Die Reaktion der nichtwestlichen Weltmehrheit zeige laut Lukjanov, wie gereizt sie auf den Westen reagiere. Der Westen werde als Hegemon mit einer langen kolonialen Vergangenheit wahrgenommen, der immer seine Macht missbraucht habe. Und jetzt versuche er seine Sanktionspolitik allen anderen, deren Interessen tangiert werden, aufzuzwingen.

Eine Schadenfreude über die Amerikaner, die mit einem heftigen Widerstand gegen ihre Russlandpolitik konfrontiert werden, überkompensiert bei weiten die Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Vorgehensweise Moskaus. Mit anderen Worten, der Unwille des Nichtwestens, sich der westlichen Sanktionspolitik gegen Russland anzuschließen, erkläre sich nicht so sehr mit einer Sympathie für Russland als vielmehr mit einer Antipathie gegen den Westen.

Diese Entwicklung, die Lukjanov nach eigener Bekundung selbst überrascht hat, könne zu einer prorussischen Stimmung in der nichtwestlichen Welt werden. Und genau diese Tendenz mache den Westen stutzig und besorgt. Überwog zunächst der westliche Druck auf den Rest der Welt, sich dem Sanktionsregime gegen Russland anzuschließen, so wich dieser Druck eher der westlichen Beschwichtigungspolitik und dem Versuch, etwas als Gegenleistung anzubieten, damit der Nichtwesten mitzuspielen bereit wäre.9

Die „Konfliktphase“, in die die Welt seit 2022 eingetreten ist, ist, wie gesehen, voller Überraschungen und Unwägbarkeiten und keiner weiß heute, wohin sie uns führen wird. Nur eines wird immer deutlicher: Der zivilisatorische Pluriversum befindet sich auf dem Vormarsch, der westliche Universalismus aber auf dem Rückzug. Und keine Verteidigung der „politischen Kultur des Westens“ (Winkler) wird dagegen etwas ausrichten können.

Der zivilisatorische Eisberg rollt auf den „Westen“ zu, ohne dass er sich dem entziehen kann. Ob diese neue „Konfliktphase“, in der wir uns seit 2022 befinden, irgendwann zu Ende gehen und wie lange sie andauern wird, ist ungewiss. Gewiss ist nur, dass der in Gang gesetzte Transformationsprozess der unipolaren Weltordnung das Ende der westlichen Weltdominanz eingeläutet hat.

Es bleibt nur zu hoffen, dass dieses Ende nicht zum Ende der Weltgeschichte führen wird.

Anmerkungen

1. Zitiert nach Silnizki, M., Zwei geopolitische Philosophien. Folgen des BRICS-Gipfels. 11. September 2023,
www.ontopraxiologie.de.
2. Kissinger, H., Die Vernunft der Nationen. Über das Wesen der Außenpolitik. Berlin 1994, 784; näheres dazu Silnizki, M., Richard Nixon und die moderne Außenpolitik. Zur Aktualität der Entspannungspolitik der 1970er-Jahre. 20. September 2021, www.ontopraxiologie.de.
3. Falke, A., Auf dem Weg zu einer neuen Handelspolitik? Die USA und das Welthandelssystem, in: Matthias
Dembinski, u.a. (Hrsg.), Amerikanische Weltpolitik nach dem Ost-West-Konflikt. Baden-Baden 1994, 265-
305 (265).
4. Falke (wie Anm. 3), 266.
5. Zitiert nach „Wir sind rückwärts gekehrte Propheten“, Spiegel Online-Interview mit Heinrich Winkler am
23.03.2011.
6. Quigley, C., Tragödie und Hoffnung. Eine Geschichte der Welt in unserer Zeit. Rottenburg 2016, 19 f.
7. Vgl. Quigley (wie Anm. 6), 20.
8. Лукьянов, Ф., ПОЧЕМУ ЗАПАДУ НЕ УДАЕТСЯ ВОВЛЕЧЬ ОСТАЛЬНОЙ МИР B ПРОТИВОСТОЯНИЕ С РОССИЕЙ. Реакция большинства на планете иллюстрирует раздражение Западом в целом. In: Россия в глобальной политике. 2. Juli 2022.
9. Näheres dazu Silnizki, M., Außenpolitisches Denken in Russland vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges.
Am Scheideweg zwischen dem Westen und dem Nichtwesten. 19. September 2022,
www.ontopraxiologie.de.

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