Zwischen Verklärung und Verirrung
Übersicht
1. Herfried Münkler und die Weltkrisen
(a) Münklers Prophetie
(b) „Regelbasierte“ versus „machtbasierte Ordnung“?
2. Rob Bauers steile These
Anmerkungen
Wer verklärt, verunklart.
1. Herfried Münkler und die Weltkrisen
(a) Münklers Prophetie
Es gibt Zeiten, in denen Propheten bereits 24 Stunden nach ihrer Prophetie von der Realität eingeholt werden. So auch Herfried Münkler, der am 23. Juni 2025 in einem Interview auf die Frage nach einer „Exit-Strategie der USA“ im israelisch-iranischen Luftkrieg behauptete, dass „ich vorerst keine mehr (sehe). Jetzt beherrscht zunächst einmal Mars die Szene, das heißt: Kapitulation des Irans oder weitere Angriffe. … Ich glaube, dass dieser Krieg über einen längeren Zeitraum andauern wird.“1
Nur 24 Stunde später war der Luftkrieg zu Ende. Bevor die USA „weitere Angriffe“ geflogen haben, trat ein Tag später, am 24. Juni, die Feuerpause in Kraft, die bis heute anhält.
Münkler hat offenbar Trumps Entscheidung, die drei iranischen Atomanlagen anzugreifen, in ihrer strategischen Tragweite verkannt, weil er einen falschen Vergleich bemühte, indem er Trump mit „Mars“ verwechselte. Wenn man bei einer geopolitischen Analyse historische Parallele zieht und aus der Geschichte zu „lernen“ glaubt, läuft man Gefahr, weder der Geschichte noch der Geopolitik gerecht zu werden.
Wer im Wirrwarr vergangener „Realität“ eine Klarheit für die Gegenwart sucht respektive eine historische Konstante zu entdecken glaubt, erschafft sie nur „als subjektiv selbstverantwortete Abbreviatur von Informationen und Impressionen“2, die die Gegenwart oft eher zu verklären als aufzuklären droht.
Trump wollte mit seinem Luftangriff den Krieg nicht weiter eskalieren, sondern ganz im Gegenteil ihn beenden, sodass Münkler mit seinem „Mars“-Vergleich eine Geschichte bemühte, die mit den außen- und geopolitischen Intentionen der Trump-Administration wenig bis gar nichts zu tun hatte.
Münkler rief einen Streit zwischen der Bush-Administration und den EU-Europäer in Erinnerung, der im Vorfeld des Irakkrieges 2003 ausgebrochen war. Der Neocon, Robert Kagan, reagierte darauf 2003 verärgert in einem Essay für die „Policy Review“ und kritisierte die EU-europäischen Widersacher mit der Bemerkung: „Amerikaner kommen vom Mars und Europäer von der Venus.“
Auf die Gegenwart angewandt, verwechselte Münkler indes „Mars“ mit „Venus“ bzw. Bush jr. mit Trump, der nie „Mars“ sein wollte, und verkannte dadurch Trumps geo- und sicherheitspolitische Intention.
Das einmalige US-Bombardement diente, wie gesagt, nicht dazu, den Luftkrieg zwischen Israel und dem Iran zu eskalieren, sondern ihn vor allem im Wohle Israels so schnell wie nur möglich zu beenden, damit Israel mit Verweis auf die „vollständige“ Zerstörung der iranischen Atomanlagen aus der entstandenen, vor allem ökonomisch existenzgefährdenden Lage gesichtswahrend aussteigen konnte.3
Dass zwischen den drei Kriegsparteien Israel, dem Iran und den USA bereits im Vorfeld der Feuerpause eine Absprache möglicherweise unter Androhung des Einsatzes der Nuklearwaffen seitens Israels getroffen wurde, ist naheliegend.
Es wäre sonst nicht zu erklären, warum die Feuerpause derart blitzartig zustande gekommen ist, sodass man mit Fug und Recht von einem inszenierten und die Weltöffentlichkeit irreführenden Spektakel zur abrupten Beendigung der militärisch verfahrenen Lage sprechen kann.
In völliger Verkennung dieser ökonomischen sowie militär- und geostrategischen Gemengelage spricht Münkler, als er nach einer „Chance für Diplomatie“ gefragt wird, von „einer machtbasierten Ordnung“, in der „derjenige Verhandlungen erzwingen kann, der zum Gegenteil des Verhandelns in der Lage ist: zur militärischen Aktion. … Wir haben gemeint, verhandeln und Krieg führen seien zwei voneinander getrennte Formen des Agierens, geradezu das Gegenteil voneinander. Tatsächlich hängt beides realpolitisch eng miteinander zusammen.“
Die zitierte Äußerung zeigt, wie wenig Münkler jene Winkelzüge der Geopolitik versteht, die im Vorfeld des israelisch-iranischen Luftkrieges stattgefunden haben. Die Verhandlungen zwischen den USA und dem Iran dienten nicht zur Erzielung eines Verhandlungsergebnisses, sondern zur Verschleierung der Kriegsvorbereitungen.
Der israelische Überraschungsangriff fand statt, bevor die Verhandlungen zu Ende waren. Erst nach dem Angriff hat der Iran alle Verhandlungen abgebrochen. Von einer Gleichzeitigkeit von Verhandeln und Kriegsführen kann darum gar keine Rede sein. Selbst wenn das so wäre, wäre das nichts Ungewöhnliches und nichts Neues. Man denke nur an den Vietnamkrieg, zu dessen Ende viereinhalb Jahre lang Friedensverhandlungen geführt wurden, ohne dass der Krieg unterbrochen wurde.
Ganz im Gegenteil: Die US Air Force haben kurz vor dem Friedensabschluss im Dezember 1972 die schwersten Bombenangriffe seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges durchgeführt.4
(b) „Regelbasierte“ versus „machtbasierte Ordnung“?
Es ist nicht ganz klar, was Münkler unter „machtbasierter Ordnung“ versteht. Klar ist nur, wann er deren Entstehungszeit fixiert – mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine:
„Die weltpolitischen Konstellationen sind nicht mehr regel-, sondern machtbasiert, was heißt, dass für die großen Akteure nicht mehr zählt, was man darf, sondern was man kann. Das sind die im weitesten Sinn indirekten Folgen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine und des Umstands, dass die Weltgemeinschaft dem keinen Einhalt gebieten konnte … Wir erleben den Übergang von einer regelbasierten Ordnung in eine machtbasierte Ordnung – nicht mit einem disruptiven Ereignis, sondern schrittweise: Putins Invasion in der Ukraine, die Zerstörung der Welthandelsordnung durch Trump, Chinas systemherausfordernde Politik. Man muss die jetzige Lage so zusammenfassen: Der Regelbrecher ist im Augenblick der Gewinner.“
Münkler datiert die Entstehung der sog. „machtbasierten Ordnung“ erst mit „Putins Invasion in der Ukraine“ am 24. Februar 2022 und verklärt damit erneut die Geschichte, die er geopolitisch camoufliert.
Seinem Urteil hätte der Soziologe, Karl Otto Hondrich (1937-2007), lebte er noch, entschieden widersprochen. Vor dem Hintergrund des am 20. März 2003 begonnenen völkerrechtswidrigen US-Angriffskriegs gegen den Irak bezeichnete Hondrich die vom US-Hegemon angeführte unipolare Weltordnung affirmativ als „Weltgewaltordnung“ und begrüßte folgerichtig die US-Invasion in Irak.5
Indem Hondrich den Krieg als die „Hoch-Zeit der Moral“ charakterisierte und damit Moral als eine modale Form der Gewalt – sozusagen als Gewaltmoral – apostrophierte, lehnte er gleichzeitig eine andere, „gesteigerte Moral“ als Ausfluss des „Gebots der Gewaltlosigkeit“ ab, weil diese nur im Zustand einer der „höheren Kultur“ zugeordneten „gewaltfreien Gesellschaft“ existieren kann.
Die vom US-Hegemon angeführte unipolare Weltordnung bezeichnet Münkler nicht, wie Hondrich, als „Weltgewaltordnung“, sondern systemkonform als eine „regelbasierte Ordnung“, die er der sog. „machtbasierten Ordnung“ gegenüberstellt und deren Entstehung auf Putins Invasion zurückführt.
Dass die „Weltgewaltordnung“, „regelbasierte Ordnung“ und „machtbasierten Ordnung“ ihrer Natur nach ein und dasselbe sind und sich nur semantisch voneinander unterscheiden, sieht Münkler nicht. Eine solche Gleichsetzung würde seine ideologischen Denkvoraussetzungen über Bord werfen und das eigene, als „freiheitlich“, menschenrechtlich“ und „demokratisch“ verklärte Ordnungssystem desavouieren.
Deswegen datiert er die Entstehung der „machtbasierten Ordnung“ nicht mit dem 20. März 2003, sondern 23 Jahre später mit dem 24. Februar 2022.
Und wenn man die Entstehung der „Weltgewaltordnung“ mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Nato auf die Volksrepublik Jugoslawien 1998 datiert, dem „die Weltgemeinschaft keinen Einhalt gebieten konnte“, dann muss die „machtbasierte Ordnung“ bereits am 28. Februar 1998 in Entstehung gewesen sein.
Hat sich Münkler etwa um 24 bzw. 19 Jahre vertan? Wohl kaum! Münkler ist nicht Geopolitiker, sondern Außenideologe6.
Er verwechselt Geopolitik mit Außenideologie! Unter der sog. „regelbasierten Ordnung“ versteht er darum unreflektiert weder eine „Weltgewaltordnung“ noch eine „machtbasierte Ordnung“, sondern eine westlich-basierte Ordnung, die er als „regelbasiert“ verklärt. Folgt man dieser Verklärung uneingeschränkt, so kann man daraus nur einen Schluss ziehen: Alles, was nicht westlich basiert ist, ist machtbasiert.
Das ist, was Münkler meint, ohne sich dessen offenbar bewusst zu sein. Das ist aber keine Geopolitik, sondern Außenideologie. Deswegen beklagt er gegen Ende seines Interviews den Umstand, dass die „USA … nicht mehr als zuverlässig (gelten); sie geben ihre Softpower auf, sie zerstören die transatlantische Wertepartnerschaft.“
Vom Standpunkt einer „werteorientierten“ Außenideologie betrachtet, will Münkler uns sagen, dass die „regelbasierte“, unipolare Weltordnung unmöglich eine „machtbasierte“ sein kann, weil sie statt völkerrechtswidriger Angriffskriege einzig und allein „humanitäre Interventionen“ praktiziert, als wären die sog. „humanitären Interventionen“ gewaltfrei und machtindifferent verlaufen.
Folgt man Münklers Gedankengang, dann sei die „regelbasierte Ordnung“ seit Putins Invasion in der Ukraine mittlerweile in eine „machtbasierte Ordnung“ unter den Anführern Putin, Trump und Xi Jinping übergegangen, womit Münkler undifferenziert Putins postsowjetisches Russland, Trumps Amerikas und Xi Jinpings kommunistisches China in ein und denselben geopolitischen „Topf“ namens „machtbasierte Ordnung“ wirft.
Bei einer derartigen geopolitischen „Analyse“ wundert man sich nicht, dass sich das geopolitische Denken in Deutschland und in der EU auf Abwege befindet.
2. Rob Bauers steile These
Es gibt aber auch Propheten, die hinter jedem Kieselstein die russische Gefahr wittern und warnen das gemeine Volk vor „Russlands Angriff auf die Nato“. Ein solcher Warner ist der niederländische Admiral und ehem. Vorsitzender des Nato-Militärausschusses, Rob Bauer (2021-2025). Ein Tag nach Münklers Interview gab Bauer am 24. Juni 2025 dem Handelsblatt ebenfalls ein Interview (S. 8 f.), in dem er sein am gleichen Tag erschienenes Buch unter dem Titel „Wenn du Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor. Eine Blaupause zur Abschreckung“ vorstellte.
Darin stellte Bauer die These auf, „dass es im Ukrainekrieg nicht um Russland gegen die Ukraine gehe, sondern um China gegen die USA“.
Darauf angesprochen, meinte er:
„Der Krieg in der Ukraine hat nicht nur unsere Beziehung zu Russland grundlegend verändert, sondern auch unser Verhältnis zu China. Ohne China könnte Russland diesen Krieg nicht fortführen. Peking unterstützt den Kreml auf fast jede Weise: politisch, finanziell, mit Waffenteilen und Rohstoffen. Seit Wladimir Putin und Xi Jinping ihre >grenzenlose Freundschaft< verkündet haben, können wir China nicht mehr als neutralen Akteur ansehen.“
Und auf die anschließende Frage, „was … das für die Nato (bedeutet)“, gab der Niederländer folgende Antwort: „Ich würde nicht ausschließen, dass China auch einen Angriff Russlands auf die Nato unterstützen würde. Vielleicht nicht offen, chinesische Panzer würden nicht durch Berlin rollen. Aber wenn Peking den Kreml so unterstützen würde wie im Ukrainekrieg, könnte es erheblichen Schaden anrichten.“
Wenn man auf einem solchen geo- und sicherheitspolitischen Niveau im Nato-Hauptquartier diskutiert, dann braucht man sich nicht darüber zu wundern, dass man Russland als einen ernstzunehmenden militärischen Gegner und geopolitischen Rivalen im Ukrainekonflikt von Anfang an völlig unterschätzt und die ganze Zeit davon geträumt hat, Russland eine „strategische Niederlage“ zuzufügen.
Die militärische Zusammenarbeit zwischen Russland und China verhält sich im Gegensatz zu Bauers Vorhaltungen genau umgekehrt. Die Chinesen sind diejenigen, die auf die russische Militärkunst und Kriegserfahrung angewiesen sind. Nicht von ungefähr nennen sie die Russen ein „kriegerisches Volk“ und Russland eine „kriegerische Nation“.
Vor diesem Hintergrund bezeugt Bauers Beteuerung: „Ohne China könnte Russland diesen Krieg nicht fortführen“ nur seine Unkenntnis über die russisch-chinesischen Beziehungen und eine völlige Fehleinschätzung und Unterschätzung der militärischen Stärke Russlands, von Russland als einer nuklearen Supermacht ganz zu schweigen.
Vielleicht liegt diese Fehleinschätzung auch daran, dass ein aus einem Kleinstaat mit gerademal 42.000 Quadratkilometer stammender Admiral eine strategische Partnerschaft zwischen Russland und China mit einem innerhalb der Nato-Allianz herrschenden Vasallenverhältnis zwischen dem verzwergten Europa und den USA verwechselt und, wie selbstverständlich, auf die Beziehung zwischen China und Russland überträgt.
Schlimmer noch: Der Admiral aus den Niederlanden (und nicht nur er) verkennt Russlands militärisches Potential, weil er offenbar die Militärgeschichte des „Kalten Krieges“ nicht mehr kennt.
Es ist nicht Russland, sondern die Ukraine, die militärisch auf Gedeih und Verderb auf die Nato-Allianz in ihrem Abwehrkampf gegen Russland angewiesen ist, wohingegen Russland nicht China braucht, um den Krieg, wie die vergangenen drei Jahre bereits bewiesen haben, nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch und vor allem gegen die Anti-Russland-Koalition führen zu können, die aus mehr als fünfzig Ländern mit einer Milliarde Bevölkerung besteht.
Russland produziert in drei Monaten so viele Panzer, Haubitzen und Luftabwehrsysteme, wie die Bundeswehr in ihren Beständen hat. Wie sollte es sonst dieser gewaltigen Anti-Russland-Koalition die Stirn bieten?
Dass Russland dazu überhaupt in der Lage ist, verdankt es weder China noch Nordkorea oder dem Iran, wie die antirussische Kriegspropaganda uns weismachen will, sondern in erster Linie dem Erbe des sowjetischen militärisch-industriellen Komplexes, der nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht zerstört, sondern stillgelegt bzw. eingefroren wurde.
Als eine der Supermächte des „Kalten Krieges“ war die Sowjetunion ein übermilitarisiertes Land. Sie bereitete sich stets auf einen Krieg gegen die Nato-Allianz vor, die bis heute prahlt, das mächtigste Bündnis aller Zeiten zu sein.
Deswegen zentrierte sich die Sowjetwirtschaft schon immer um den militärisch-industriellen Komplex, den bereits Lenin als „ideales Modell“ betrachtete und als permanente Kriegswirtschaft konzipierte, wofür im Übrigen die Kriegswirtschaft des Deutschen Kaiserreiches Pate stand.7
Das führte dazu, dass die Sowjetwirtschaft insbesondere nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gigantische militärische Überkapazitäten im Bereich der Rüstungsindustrie aufgebaut hat, die nach dem Untergang des Sowjetreiches nur teilweise vernichtet bzw. abgebaut, vieles aber stillgelegt wurden.
Russland konnte nun auf diese stillgelegte militärische Infrastruktur zurückgreifen, darauf aufbauen und mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine reaktivieren.
Es ist zudem unverständlich und geradezu geopolitisch naiv, wenn Bauer China vorwirft, kein „neutraler Akteur“ im Ukrainekonflikt zu sein. Warum sollten die Chinesen im Proxykrieg der Nato auf ukrainischem Boden überhaupt neutral sein?
Sollte China darüber hinaus für die Nato-Allianz im Ukrainekonflikt noch Kastanien aus dem Feuer holen? Geopolitisch gesehen, wäre das für China selbstmörderisch.
In Anbetracht einer geoökonomischen und geopolitischen Rivalität zwischen China und den USA kann China es sich gar nicht leisten, sich neutral zu verhalten. Denn sollte Russland im Ukrainekrieg verlieren, dann stünde China allein auf weiter Flur und wäre womöglich gar nicht in der Lage, den militärischen Erpressungen der USA standzuhalten.
Dass Bauer dazu noch glaubt, im Ukrainekrieg zuallererst eine Konfrontation zwischen China und den USA zu sehen, macht unsereinen fassungslos. Richtig ist, dass auf ukrainischem Boden ein Konflikt zwischen Russland und der Nato-Allianz ausgetragen wird und dass Russlands Niederlage China geostrategisch schwächen würde.
Dass es aber „im Ukrainekrieg nicht um Russland gegen die Ukraine, sondern um China gegen die USA“ gehe, ist ein Unding.
Man fragt sich irritiert, ob Bauer den Ukrainekonflikt nicht mit dem Taiwan-Konflikt verwechselt. Was hat der russisch-ukrainische Konflikt mit der geopolitischen und insbesondere geoökonomischen Konfrontation zwischen China und den USA zu tun? Bauers Begründung seiner steilen These ist genauso abenteuerlich wie geistreich: „Wenn wir unabhängig von China werden, ist das auch Teil der Abschreckung gegen Russland.“
Wie er auf diese Interdependenz von „Abschreckung“ und „Unabhängigkeit von China“ kommt, kann nur im Zusammenhang mit seinen Überlegungen über die Art und Weise des Kriegsendes in der Ukraine erklären.
Auf die Frage, wie der Ukrainekrieg enden werde, reagiert Bauer zwar mit einer flotten Formulierung, die aber einer Realitätsverweigerung gleichkommt: „Die Russen gewinnen den Krieg nicht und die Ukrainer verlieren ihn nicht.“ Zur Begründung seiner „glanzvollen“ militärstrategischen „Analyse“ sagt Bauer: „Die Geländegewinne, die Russland seit Januar 2024 gemacht hat, sind sehr begrenzt. Die Zahl der getöteten russischen Soldaten geht auf eine Million zu.“
Was die Geländegewinne angeht, so hat Bauer offenbar seinen Clausewitz nicht gelesen. Das Ziel im Kampf besteht nach Clausewitz primär und zuallererst darin, den anderen wehrlos zu machen, seine Streitkräfte zu zerstören und seinen Willen zu brechen, nicht aber die Territorien des Gegners zu erobern.
Selbst im Falle der Landnahme scheint Bauer nicht auf der Höhe der Zeit zu sein. Ihm ist es offenbar entgangen, dass Wolodymyr Selenskyj auf der Münchner Sicherheitskonferenz am Samstag, den 15. Februar 2025, über den Verlust von 4.000 Quadratkilometer des ukrainischen Territoriums im Jahr 2024 berichtete. Und nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums hat die russische Offensive allein im Monat Mai 2025 knapp 450 Quadratkilometer und nach ukrainischen Angaben im Monat Juni 556 Quadratkilometer des ukrainischen Territoriums „befreit“. Das nennt Bauer „begrenzte“ Geländegewinne.
Was die Opferzahl der gefallenen russischen Militärangehörigen angeht, so übernimmt Bauer kritiklos die ukrainische Kriegspropaganda und wiederholt – bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt – die von den interessierten Kreisen stets in Umlauf gebrachten Meldungen getreu dem Spruch von Hitlers Propagandaminister Paul Joseph Goebbels: „Eine Lüge muss nur oft genug wiederholt werden. Dann wird sie geglaubt.“
Mit seinen Angaben widerspricht Bauer selbst der trivialen Mathematik. „Derzeit gibt es in der Ukraine 600.000 bis 800.000 Menschen, die sich freiwillig der Armee angeschlossen haben,“ sagte Selenskyj in einem am 24. April 2025 veröffentlichten Interview mit dem US-Journalisten, Ben Shapiro,
wohingegen die Anzahl der russischen Militärangehörigen an der ukrainischen Front selbst nach Angaben der ukrainischen Militäraufklärung (Stand: Ende Juni 2025) ca. 620.000 beträgt.
Selbst nach den BBC und Mediazona-Daten (https://www.bbc.com/russian/articles/c93lklg89e8o) hat Russland „nur“ 90.019 Tote (manche Schätzungen sprechen von bis zu 120.000) an Verlusten erlitten (Stand: 24. Januar 2025).
Bauer ist, wie man sieht, ein Opfer der eigenen westlichen Kriegspropaganda geworden, die die ukrainische Militärkraft stets überschätzt und die des Russlands immer wieder geringschätzig bewertet. Jetzt steht die Nato-Allianz vor dem Scherbenhaufen ihrer antirussischen und proukrainischen Kriegspolitik.
Und der ehem. Vorsitzender des Nato-Militärausschusses kann sich mittlerweile nicht anders helfen, als sich über „einen halbherzigen Versuch Chinas“ zu beklagen, „den Friedensvermittler in der Ukraine zu spielen. Aber die Chinesen tun in Wirklichkeit nichts, um diesen Konflikt zu beenden, weil er in ihrem Interesse ist. Wenn Russland alles in den Krieg wirft und die Europäer und die USA sich militärisch und finanziell engagieren, profitiert davon China. Es kann in Ruhe seine Streitkräfte aufrüsten, inklusive seines Atomarsenals. Es gibt keine Transparenz, keine Kontrolle. Deshalb geht es in dem Krieg auch um den Machtkampf zwischen China und den USA.“
Mit seiner Verquickung von Chinas geopolitischen Interessen und dem Ukrainekrieg, die Bauer als einen „Machtkampf zwischen China und den USA“ verklärt, verkennt er nicht nur die Ursachen des Ukrainekonflikts, die 2022 zu einem Proxykrieg zwischen Russland und der Nato-Allianz auf ukrainischem Boden geführt hat.
Bauer verkennt auch zugleich die geostrategische Bedeutung der Ukraine für Russland und fällt damit selbst hinter die Erkenntnisse zurück, die Paul Rohrbach (1869-1956), der wie kein anderer die deutsche Russlandpolitik publizistisch im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg mitbestimmt hat, bereits vor mehr als 100 Jahre gewonnen hat: „Ohne die Ukraine ist Russland nicht Russland … Wer Kiew hat, kann Russland zwingen!“8
Diese 1916 gewonnene Erkenntnis ist der eigentliche Casus knacksus des Konflikts, der mit dem Machtkampf zwischen China und den USA nicht im Geringsten etwas zu tun hat. Statt China Vorhaltungen zu machen, soll Bauer lieber selbstkritisch nach Mitverantwortung der Nato für den Kriegsausbruch in der Ukraine fragen.
Anmerkungen
1. Münkler, H., „Der Regelbrecher ist im Augenblick der Gewinner“. Handelsblatt-Interview, 23.06.2025,
S. 7.
2. Stolleis, M., Staat und Staatsräson in der früheren Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts.
Frankfurt 1990, 8.
3. Näheres dazu Silnizki, M., 12-tägiger Luftkrieg. Zwischen Fehleinschätzung und Inszenierung. 29. Juni
2025, www.ontopraxiologie.de.
4. Näheres dazu Silnizki, M., Zwischen Krieg und Frieden. Setzen die Friedensverhandlungen einen
Waffenstillstand voraus? 8. Juni 2025, www.ontopraxiologie.de.
5. Näheres dazu Silnizki, M., Im Würgegriff der Gewalt. Wider Apologie der „Weltgewaltordnung“.
30. März 2022, www.ontopraxiologie.de.
6. Näheres dazu Silnizki, M., Außenpolitik ohne Außenpolitiker. Zum Problem der Außenideologie in der
Außenpolitik. 6. Dezember 2021, www.ontopraxiologie.de.
7. Vgl. Silnizki, M., Geoökonomie der Transformation in Russland. Gajdar und die Folgen. Berlin 2020, 38 f.
8. Zitiert nach Peter Borowsky, Paul Rohrbach und die Ukraine. Ein Beitrag zum Kontinuitätsproblem, in:
Geiss, I. u. a. (Hrsg.), Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts. Düsseldorf 1973, 437-
462 (437).