Verlag OntoPrax Berlin

Steht die Allianzeinheit zur Disposition?

Die Nato in strategischen Turbulenzen

Übersicht

1. Wer bedroht den „Westen“?
2. Der transatlantische Dissens
3. Russlandfeindschaft versus Umarmungsstrategie
4. Die Allianzeinheit im Lichte der strategischen Ambivalenz

Anmerkungen

„Bündnisse sind nur so viel wert wie ihre Fähigkeit, ihren Zweck zu erfüllen.
In diesem Sinne sind Allianzen identisch mit ihrer Strategie.“
(Lothar Ruehl, 1974)1

1. Wer bedroht den „Westen“?

Sei es aus tiefer Überzeugung oder aus gezielter Irreführung der Öffentlichkeit, gehen die Meinungs- und Stimmungsmacher geradezu axiomatisch davon aus, dass der sog. „Westen“ von Russland bedroht wird. Wieso und warum er bedroht wird, darauf gehen sie nicht ein, verweisen aber gelegentlich auf die geheimdienstlichen Informationen, die die „russische Gefahr“ heraufbeschwören.

Die zahlreichen Kriegsfalken und Waffenlobbyisten greifen dankbar solche „Informationen“ auf, um „selbstlos“ vor der „russischen Gefahr“ zu warnen. Unlängst beteuerte eine der bekanntesten Waffenlobbyistinnen der Republik, Susanne Wiegand, in einem Handelsblatt-Interview vom 21./23. März 2025, S. 28 f., ohne nur einen einzigen Beweis vorzulegen: „Das Risiko“ sei „groß, dass das Nato-Bündnis in den kommenden Jahren an der Ostflanke getestet wird.“

Ein anderer Waffenlobbyist, René Obermann (seit 2020: Vorsitzender des Verwaltungsrats von Airbus), sekundierte in einem anderen Handelsblatt-Interview vom 25. März 2025, S. 4 ff.: Die Nato-Staaten stehen „viel näher an einer militärischen Auseinandersetzung mit Russland …, als viele Verantwortliche derzeit glauben.“

Und Wiegand fügte ergänzend und selbstsicher hinzu: „Boris Pistorius hat gesagt, Deutschland müsse bis 2029 kriegstüchtig sein. Das impliziert, dass dann ein Angriff droht. Ich glaube, er droht schon früher, weshalb wir in den nächsten zwei, drei Jahren mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln aufrüsten müssen.“ Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!

Unsereiner geht, wie selbstverständlich, davon aus, dass die Nachrichten- und Geheimdienste „Hort der Wahrheit“ seien. Und es bedarf keines weiteren Beweises, wer den „Westen“ bedroht, wenn sie das sagen. Darum lautet die gesicherte „Erkenntnis“, dass der imaginäre Feind aus dem „Osten“ kommt und der „Westen“ „an der Ostflanke getestet wird.“

Wie könnte es anders sein? Dabei wird gar nicht gefragt, welcher „Westen“ hier gemeint ist. Europa, die USA oder die sog. „transatlantische Gemeinschaft“? Und gibt es heute überhaupt noch so etwas wie „den Westen“?

Entstanden im Zeitalter der Systemkonfrontation, ist der „Westen“ ein Kampfbegriff des Ost-West-Konflikts der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diesen „Westen“ gibt es heute nicht mehr, weil es keinen „Osten“ als Systemkonkurrenten mehr gibt. Von welcher Bedrohung des „Westens“, den es so nicht mehr gibt, ist dann überhaupt die Rede?

Man zeigt mit dem Zeigefinger auf Russland als „die“ Bedrohung des „Westens“. Russland kann indes als „Anführer“ des „Ostens“ keine Bedrohung mehr sein, weil es „den Osten“ so, wie wir ihn zu Zeiten des Ost-West-Konflikts kannten, auch nicht mehr gibt.

Umso merkwürdiger klingt es in der letzten Zeit, dass der „Westen“, mit dem die EU-Europäer sich selbst identifizieren, nicht nur von Russland, sondern auch von Trumps Amerika – sozusagen vom „westlicheren Westen“ (geographisch gesehen) bedroht werde. Denn die EU und die USA sind seit Trumps Machtübernahme mittlerweile einander nicht mehr grün.

Was nun? Unsereiner ist verwirrt. Gibt es also neben dem „Westen“ noch einen anderen „Westen“? Wohl kaum! Ein solch begrifflicher Wirrwarr ist allein damit zu erklären, dass wir mit dem überkommenen Vokabular des „Kalten Krieges“ die geopolitische Realität der Gegenwart zu begreifen trachten, die nicht auf diese Art und Weise begriffen werden kann. Und so tappen wir im begrifflichen Dunkeln und wissen nicht, wie wir unbeschadet davonkommen.

Was nun? Verbleiben wir weiterhin im gleichen begrifflichen Trott und trauen immer noch den alten „schönen“ Zeiten nach? Es sieht so aus. Denn wir lassen uns nach wie vor von den althergebrachten Vorstellungen von Freund und Feind leiten und sind darum voller Empörung und Entsetzen über Trumps Feldzug gegen die überkommene westliche Außen- und Sicherheitspolitik.

„Schutzmacht USA ade“ liest man in den Überschriften mancher Zeitungsartikel. „Möglicherweise erleben wir das Ende einer 80 Jahre alten Werte- und Sicherheitspartnerschaft.“2

„Donald Trump will nichts Geringeres als einen Bruch mit allem, was Generationen von amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitikern erfolgreich an Weltordnung und Bündnissen seit dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut haben,“ schreibt auch ein anderer Empörter, Joschka Fischer, in seinem Gastkommentar für das Handelsblatt am 18. Februar 2025.

Und seine US-amerikanischen Kollegen, Michael E. O’Hanlon und Paul B. Stares, sekundieren in ihrem am 18. März 2025 erschienenen Artikel „The Once and Future Transatlantic Alliance“ in Foreign Affairs mit den Worten: „Die europäischen Führer fragen sich, ob die USA … überhaupt noch der Sicherheit Europas und des Westens im Allgemeinen verpflichtet sind. Jüngste Äußerungen vom US-Präsidenten Donald Trump und seinen hochrangigen Beratern deuten darauf hin, dass die Antwort nein ist.“

Die EU-Europäer fühlen sich mit ihren überkommenen Denkgewohnheiten und veralteten Ideologemen in Stich gelassen. Sie wünschen sich die Welt, wie sie immer schon war, und wollen nicht akzeptieren, dass der Ost-West-Konflikt seit fünfunddreißig Jahren vorbei ist. Denn sie brauchen einen Außenfeind zwecks der Selbstlegitimation ihrer eigenen geopolitischen Existenz.

Statt dem imaginären Außenfeind alles Übel dieser Welt in die Schuhe zu schieben, sollten sie sich aber lieber fragen, ob sie sich selbst nicht im Wege stehen mit ihren Wahnvorstellungen von Gut und Böse. Sind sie vielleicht Selbstfeinde ihrer eigenen geopolitischen Existenz?

2. Der transatlantische Dissens

Der entstandene Dissens zwischen der EU und der neuen US-Administration ist damit zu erklären, dass die beiden Kontrahenten die militärischen Erfolgsaussichten und -perspektiven der Ukraine tendenziell unterschiedlich bewerten und strategisch gegensätzliche Ziele im Ukrainekonflikt verfolgen.

Der Ukrainekrieg ist seiner Natur nach aus russischer Sicht nicht mehr und nicht weniger als ein Kampf um die Wiederherstellung eines Machtgleichgewichts in Europa. Dem steht entgegen, dass die Nato-Allianz bis zu Trumps Machtübernahme eben dieses Ansinnen Russlands mit allen Mitteln zu verhindern trachtete und die seit dem Ende des Ost-West-Konflikts entstandene „hegemoniale Dysbalance“ auf dem europäischen Subkontinent3 aufrechterhalten wollte.

Wir sehen vor uns, anders gesagt, einen klassischen Konflikt zwischen einer (transatlantischen) Status-quo-Macht und einer (eurasischen) Revisionsmacht, die das entstandene und seit über dreißig Jahre bestehende Machtungleichgewicht in Europa zu revidieren sucht.

Versucht die Nato-Allianz das „Machtungleichgewicht als Ordnungsprinzip“4 mit aller Gewalt aufrechtzuerhalten, so geht es Russland sicherheitspolitisch darum, „ein neues Balancesystem“ (Werner Link)5 herauszubilden, um die bestehende Dysbalance, die zur Nato-Osterweiterungspolitik geführt hat, zu beseitigen.

Dieser an und für sich unlösbare Konflikt kann nur gelöst werden, wenn entweder eine der Parteien obsiegt oder ein Modus Vivendi gefunden wird. Gab es zurzeit der Biden-Administration ein transatlantischer Konsens dahingehend, dass Russland im Ukrainekrieg eine „strategische Niederlage“ erleiden sollte, so besteht nunmehr ein transatlantischer Dissens seit Trumps Präsidentschaft, dergestalt, dass die Trump-Administration eine Kriegsniederlage Russlands für ausgeschlossen hält und sich darum anscheinend für eine diplomatische Lösung des Konflikts entschieden hat.

Das hat aber eine gravierende geostrategische Konsequenz zufolge: Die Trump-Administration verfolgt eine ganz andere Russlandpolitik, indem sie, ohne sich offenbar dessen bewusst zu sein, das vorrangige geostrategische Ziel der Transatlantiker, die Aufrechterhaltung des Machtungleichgewichts als Ordnungsprinzip über Bord geworfen hat.

Dass Trump sich dessen gar nicht bewusst ist, erklärt sich damit, dass er in den Kategorien der Geoökonomie und nicht in denen der Geopolitik denkt und handelt, was die Transatlantiker auf die Palme bringt. Das erzürnt sie so sehr, dass sie bereit sind, es auf einen tiefgehenden transatlantischen Konflikt innerhalb der Nato-Allianz ankommen zu lassen, und versuchen darum jede diplomatische Lösung des Ukrainekrieges zu torpedieren. Dieser transatlantische Dissens ist praktisch unlösbar.

Er ist zudem auch nicht vergleichbar mit vielen anderen Konflikten in der fünfundsiebzigjährigen Allianzgeschichte. Der entstandene Dissens erschüttert die Fundamente des Bündnisses, weil es sich hier um eine ganz andere strategische Ausrichtung des transatlantischen Bündnisses handelt.

Trump verfolgt vorrangig und überwiegend die geoökonomischen Ziele in der US-Außenpolitik und sieht daher in der militärischen Konfrontation mit Russland nicht nur ein ökonomisches Hindernis, sondern auch eine Gefahr für den Weltfrieden, wohingegen die Transatlantiker, die in der EU an der Macht sind und die EU-Ukraine- und Russlandpolitik bestimmen, traditionell geopolitische Ziele im Sinne von Zbigniew Brzezinskis „imperialer Geostrategie“6 verfolgen und weiterhin ungebrochen auf die Konfrontation mit Russland setzen.

Das kann in der letzten Konsequenz zur Zerreisprobe innerhalb der Nato-Allianz führen und die Existenz des Nato-Bündnisses gefährden.

3. Russlandfeindschaft versus Umarmungsstrategie

Die Nato-Allianz ist bezüglich ihrer Ukraine- und Russlandpolitik mittlerweile tief gespalten. Die EU und die Trump-Administration sind vor allem uneinig über die weitere strategische Vorgehensweise im seit drei Jahren tobenden Ukrainekrieg, wobei auch innerhalb der EU diesbezüglich Disharmonie herrscht und keine einheitliche strategische Position besteht.

Das Misstrauen zwischen den EU-Europäern und den US-Amerikanern hat inzwischen ein solches Ausmaß angenommen, dass es nicht mehr möglich ist, den entstandenen geo- und sicherheitspolitischen Dissens mit Solidaritäts- und Einigkeitsappellen zu überspielen.

Der Konflikt ist von grundsätzlicher Natur und stellt mittlerweile die Fundamente des Bündnisses in Frage. „Bündnisse sind nur so viel wert wie ihre Fähigkeit, ihren Zweck zu erfüllen. In diesem Sinne sind Allianzen identisch mit ihrer Strategie.“7 Bedeutet das im Umkehrschluss, dass die Nato-Allianz in Anbetracht ihres Unvermögens, ihren Zweck zu vereinheitlichen bzw. eine Allianzstrategie unzweideutig zu definieren, in Auflösung begriffen ist?

„Die Frage nach der Allianzstrategie ist immer die Frage nach der Hierarchie der Sicherheitsinteressen und nach der Verteilung der Macht in einem Bündnis … Die Allianzstrategie ist … mit dem politischen Spannungsverhältnis jedes Bündnisses zwischen Hegemonie und Anarchie verbunden; anders ausgedrückt: zwischen der Unterordnung der schwächeren … unter die Autorität einer allein herrschenden Vormacht, und dem entgegengesetzten Extrem, der Auflösung der Bündniseinheit in ein loses Bündel nationaler Sonderzwecke mit Rückversicherungsabkommen außerhalb des Bündnisses und Vorbehaltung gegen die Einhaltung der Bündnispflichten.“8

Genau diese Extremsituation scheint heute eingetreten zu sein. Nach einer jahrzehntelangen hegemonialen Vormachtstellung der USA in der Nato findet vor unseren Augen anscheinend ein Auflösungsprozess der Bündniseinheit statt, dergestalt, dass die sie bindende Allianzstrategie einer geradezu dramatischen Revision unterzogen wird, wodurch eine strategische Inkongruenz zwischen dem US-Hegemon und den EU-europäischen Bündnisgenossen (mit wenigen Ausnahmen) in der Schicksalsfrage der Allianz entsteht, nämlich in der Frage nach einer strategischen Positionierung zu Russland als einem „absoluten Feind“ (Carl Schmitt) oder geopolitischen Rivalen oder sicherheitspolitischen Partner.

Eine gemeinsame Allianzstrategie bestimmt zwangsläufig einen Zusammenhalt und „die innere Integrationsdichte eines Bündnisses“ (Ruehl, ebd.). Fehlt eine solche gemeinsame Allianzstrategie, gerät das ganze Bündnis in schweres Fahrwasser und verliert ihre Bindungskraft. Eine strategische Ambiguität verträgt sich eben nicht mit der Bündniseinheit.

Und es sieht so aus, dass die latent immer schon vorhandenen Zentrifugalkräfte des Bündnisses mit der entstandenen strategischen Uneindeutigkeit an Fahrt gewonnen haben und es keinen gibt, der diese Kräfte ausbremsen könnte. Die Züge fahren im beschleunigten Tempo auf- und gegeneinander. Oder nicht?

Die Strategie der Nato zur Verteidigung Westeuropa gegen einen unterstellten sowjetischen Expansionsdrang entstand bereits 1948/49 und ist heute längst überholt und auf Russland nicht übertragbar, auch wenn die Kriegspartei der Öffentlichkeit das „glaubhaft“ zu suggerieren versucht. Und nun kommt Trump und erzählt dem Publikum eine ganz andere Story und Russland erscheint auf einmal in einem anderen Licht.

Russland sei – man sehe und staune – weder ein ideologischer Feind (wie zu Zeiten des „Kalten Krieges“) noch ein „absoluter Feind“, nachdem die Trump-Administration eine Annährung an Russland sucht und eine diplomatische Regelung des Ukrainekrieges anstrebt.

Mit einer solch radikalen Kehrtwende in der US-Russlandpolitik, die Brzezinskis „imperiale Geostrategie“9 en passant über Bord wirft, haben die EU-Europäer gar nicht gerechnet. Ohne Russland als Außenfeind verliert die EU ihre Selbstlegitimation als Schicksals- und Wertegemeinschaft, zu deren Verteidigung die Nato-Allianz eigentlich der Garant ihres geopolitischen Überlebens sein sollte.

Die Strategie der Russlandfeindschaft ist mit anderen Worten für die EU-Europäer inzwischen identitätsstiftend geworden, wohingegen die Trumpisten eine ganz andere Strategie verfolgen, die man als eine Strategie der Umarmung bezeichnen kann, um von den Russen auf die sanfte Tour womöglich besseren Zugeständnisse und Konditionen zu erzielen.

Davor haben die Russen im Übrigen selbst die größte Angst. Sie haben noch gut in Erinnerung, wie sie ihrer Meinung nach vom Westen zu Gorbačovs Zeit hinters Licht geführt wurden, sodass Trumps Umarmungsstrategie womöglich erfolgreicher als die überkommene Strategie der Russlandfeindschaft sein kann.

Die Inkongruenz der beiden widerstreitenden Strategien könnte letztlich zur Dysfunktionalität der Allianz führen, wodurch sie von innen implodieren und wie ein Kartenhaus zusammenfallen könnte. Die Russlandfeindschaft verträgt keine Umarmungsstrategie, die freilich auch keine Erfolgsgarantie verspricht.

Und was die Strategie der Russlandfeindschaft betrifft, so hat sie sich in den vergangenen drei Jahren endgültig diskreditiert und hat weder militärisch noch sanktions- oder isolationspolitisch zum Erfolg geführt. Die beiden Strategien, die nicht gegensätzlicher sein könnten, verhalten sich zueinander wie eine Eskalationsbereitschaft zu verminderter Konfliktbereitschaft mit dem vorläufigen Ergebnis, dass die Kriegspartei, statt Russland eine „strategische Niederlage“ zu verpassen, eine handfeste Allianzkrise bekommen hat, die zum Zerfall der Nato zu führen droht.

4. Die Allianzeinheit im Lichte der strategischen Ambivalenz

Die Strategie der Russlandfeindschaft, die eine Eskalationsbereitschaft impliziert, führte bis dato zur Verschärfung und nicht zur Entschärfung des Konflikts mit der Gefahr einer nuklearen Eskalation, wohingegen eine Umarmungsstrategie, der eine verminderte Konfliktbereitschaft zugrunde liegt, eine nukleare Bedrohung von vornherein ausschließt.

Allein das macht diese Strategie anziehender und sympathischer, auch wenn sie keine Erfolgsgarantie verspricht. Was bedeutet all das vor dem Hintergrund des zu Tage getretenen strategischen Konflikts innerhalb des Bündnisses hinsichtlich der Ukraine- und Russlandpolitik?

Das uralte Problem der Nato-Allianz steht mit der ganzen Wucht der Gewalt erneut auf der Tagesordnung: eine ungleiche Macht- und Lastverteilung unter den Bündnisgenossen. Seine „größte Sorge über die Zukunft Europas“ sei – so General de Gaulle zu Bundeskanzler Kiesinger im Januar 1967 in Paris – „der Verlust des Willens zu eigenen Anstrengungen und zur Selbstbehauptung als Folge der Gewöhnung an das amerikanische Militärprotektorat über Westeuropa in der Entfremdung von der Verantwortung für die eigene Sicherheit und Unabhängigkeit unter dem Schirm eines Bündnisses, das unter fremdem – amerikanischem – Befehl stehe.“10

Die von de Gaulle vor knapp 60 Jahre formulierte „Sorge“ ist heute aktueller denn je. Es ist sogar noch schlimmer gekommen, als er nur ahnen konnte. Die USA sind nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zu einer gesamteuropäischen Hegemonialmacht aufgestiegen und „das amerikanische Militärprotektorat“ hat sich über ganz Europa bis auf die russischen Grenzen erstreckt, wodurch die Entfremdung der EU-Europäer von der Verantwortung für die eigene Sicherheit ein solches Ausmaß angenommen hat, dass ihre geo- und sicherheitspolitische Abhängigkeit vom US-Hegemon noch größer geworden und kaum zu überwinden ist.

Die US-Prädominanz in der militärischen Kommandohierarchie der Allianz hat sich in Verbindung mit der US-Kernwaffensuprematie längst in einer US-Hegemonie über ganz Europa niedergeschlagen und die EU-Bündnispartner von den USA sicherheitspolitisch vollkommen abhängig gemacht.

Das hat aber zufolge, „dass jede Mehrleistung der nicht nuklear gerüsteten Bündnispartner im Verhältnis zu den Kosten und zur Wirkung der Kernwaffen einen unverhältnismäßig geringen militärischen Ertrag und einen marginalen Nutzeffekt hat“ und dass „eine Rüstungsanstrengung für ausschließlich konventionell verwendbare Waffen und Streitkräfte … als geringfügig im Verhältnis zu nuklearer Rüstung (erscheint).“11

Diese Erkenntnisse aus der Zeit des „Kalten Krieges“ gelten heute nach wie vor uneingeschränkt. Und man darf sich nicht von dem konventionell geführten Krieg in der Ukraine gegen eine Nuklearmacht täuschen lassen. Zum einen wird ein undenkbarer Krieg zwischen Russland und der Nato-Allianz nicht, wie in der Ukraine, konventionell geführt, worauf Putin mehrmals in den vergangenen drei Jahren hingewiesen hat.

Die geplanten massiven Investitionen in die Rüstungsindustrie seitens der EU und der einzelnen EU-Länder werden zum anderen nicht jenen erhofften Nutzeffekt für die Sicherheit und Verteidigung Europas bringen, den die Eurokraten und die EU-Waffenlobbyisten sich und der breiten Öffentlichkeit versprechen.

Die Eurokraten seien sich offenbar in ihrer Angst- und Ahnungslosigkeit auch dessen nicht bewusst, dass ein möglicher Krieg zwischen Russland und der Nato-Staaten unweigerlich zu einem Atomkrieg werden bzw. sich zu einem Atomkrieg entwickeln könnte, wenn die EU-Europäer weiterhin die Ukraine in ihrem Kampf gegen Russland unterstützen, schreibt der Hardliner der russischen Außenpolitik, Sergej Karaganow, und hält die EU-Pläne, „die riesigen Arsenale konventioneller Waffen anzuhäufen, für sinnlos, wenn die damit ausgerüsteten Armeen und die Länder, die diese Armeen entsenden würden, unweigerlich von einem nuklearen Tornado hinweggefegt würden“ (Заготавливать огромные арсеналы обычного оружия бессмысленно, если армии, оснащённые им, да и сами страны, пославшие эти армии, неизбежно будут сметены ядерным смерчем).12

Und nun kommt Trump und fordert einerseits noch mehr Verteidigungsausgaben im konventionellen Bereich, deren sicherheitspolitischer Nutzeffekt, wie gesagt, als geringfügig einzuschätzen ist. Als wäre das nicht genug, nimmt Trump den EU-Europäern andererseits ihre identitätsstiftende Strategie der Russlandfeindschaft, die die Verteidigungsanstrengung erst recht unsinnig macht.

Diese Dysfunktionalität der strategischen Zielsetzung droht die Nato-Allianz zu zerreißen und die Allianzeinheit zu sprengen. Der Zerfallsprozess der Nato könnte dadurch grenzüberschreitend und über die Grenzen hinweg die ganze transatlantische Gemeinschaft erfassen und die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges herausgebildeten Macht- und Sicherheitsstrukturen unter sich begraben.

Die transatlantische Allianzeinheit ist mittlerweile nicht mehr aufrechtzuerhalten. Sie ist indes institutionell und ideologisch auch nicht mehr auf der Höhe der Zeit und wird von den geopolitischen und geoökonomischen Umwälzungen der Gegenwart eingeholt und überholt. Die Zukunft gehört ihr nicht mehr und man sollte sie nicht wie eine Monstranz vor sich hertragen.

Anmerkungen

1. Ruehl, L., Machtpolitik und Friedensstrategie. Einführung General Steinhoff. Hamburg 1974, 105.
2. Kallmorgen, J. F., Schutzmacht USA ade. Handelsblatt, 19. März 2025, 16.
3. Näheres dazu Silnizki, Posthegemoniale Dysbalance. Zwischen Hegemonie und Gleichgewicht. 31. Mai
2022, www.ontopraxiologie.de.
4. Silnizki, M., Machtungleichgewicht als Ordnungsprinzip? Zur Sicherheitskonstellation von heute und morgen.
11. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
5. Zitiert nach Silnizki (wie Anm. 4).
6. Vgl. Silnizki, M., Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ im Lichte der Gegenwart. Zum Scheitern der US-
amerikanischen Russlandpolitik. 9. November 2022, www.ontopraxiologie.de.
7. Ruehl (wie Anm. 1), 105.
8. Ruehl (wie Anm. 1), 105.
9. Silnizki, M., Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ (wie Anm. 6).
10. Zitiert nach Ruehl (wie Anm. 1), 146 f.
11. Ruehl (wie Anm. 1), 147.
12. Zitiert nach Silnizki, M., Russland und Europa. Lieber Krieg als Frieden? 9. März 2025,
www.ontopraxiologie.de.

Nach oben scrollen