Trumps revolutionäre Geopolitik
Übersicht
1. Trump und die europäischen „Gärtner“
2. Joschka Fischers „Albtraumszenario“ und der Strategiewechsel
3. Diplomatie als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln?
4. Situative Verbündete?
Anmerkungen
Ist Trumps revolutionäre Geopolitik mit Gorbačovs Perestrojka vergleichbar?
Wendet sich Trump von Europa genauso ab und Russland zu, wie
Gorbačov sich von Osteuropa ab- und dem Westen zuwendete?
1. Trump und die europäischen „Gärtner“
Wer sich die ausgebrochene Hysterie in Europa seit dem Telefonat zwischen Trump und Putin am 12. Februar 2025 vor Augen führt, wundert sich über den Geisteszustand der Hysteriker. Da telefonieren zwei „höfliche Menschen“ (вежливые люди) miteinander, wie der russische Außenminister, Sergej Lawrow, es launig ausdrückte, zwecks einer Normalisierung der russisch-amerikanischen Beziehungen und einer möglichen Beendigung eines grausamen Krieges in der Ukraine und diejenigen, die schon immer Öl ins Feuer gossen und weiterhin auf die Fortsetzung des Krieges „bis zum letzten Ukrainer“ setzten, sind empört, fassungslos und entsetzt.
„Verräter“ der „ukrainischen Sache“ werfen die einen Trump wutschäumend vor, der allerdings nie einen Hehl aus seiner Verachtung für den Anführer des Kiewer Regimes gemacht und schon seit Monaten die persönliche Mitverantwortung seines Vorgängers, Joe Biden, für den Krieg in der Ukraine angeprangert hat.
„Endlich hat Putin erreicht, was er wollte: von den USA aufgewertet zu werden und auf Augenhöhe mit dem US-Präsidenten zu sein,“ empören sich die anderen, als hätte Putin nichts anderes zu tun, als stets danach zu trachten, sich Anerkennung von wem auch immer zu erheischen.
All die Empörten, Entsetzten und Entrüsteten zeigen damit ihr wahres Gesicht. Ihnen geht es nicht um Frieden und/oder die Kriegsbeendigung, sondern allein um Rache und Vergeltung. Dass Tausende täglich auf dem ukrainischen Schlachtfeld ihr Leben verlieren, dürfte wohl für sie das kleinste Problem sein. Es sterben ja nicht Deutsche, Französen, Engländer, Italiener, Spanier oder andere Europäer, sondern „nur“ Ostslawen.
Sie trachten allein nach Rache und Bestrafung und möchten die Niederlage des „Aggressors“ erleben und vor allen ein „Friedensdiktat“ bzw. einen „schmutzigen Frieden“ abwenden. Mit Trumps Machtübernahme fühlen sie sich nunmehr verraten und verkauft.
Schlimmer noch: Sie fühlen sich auf einmal in ihrer Sicherheit und ihrem Wohlstand bedroht und haben Angst, dass die Russen sich ihrerseits rächen und sie nicht davon unbestraft gehen lassen. Verstört und verwirrt reden sie sich jetzt ein, dass Europa nicht nur von den Russen, sondern auch von den USA unter Trump bedroht werde.
„Europa ist ein Garten“, sagte der ehem. EU-Außenbeauftrage, Josep Borrell, bei einer Rede in der Europäisch-Diplomatischen Akademie in Brügge und dieser „Garten“ sei bedroht.
In Europa funktioniere alles, es sei „die beste Kombination aus politischer Freiheit, wirtschaftlichem Wohlstand und sozialem Zusammenhalt“. „Der größte Teil der restlichen Welt“ sei laut Borrell „ein Dschungel und der Dschungel könnte in den Garten eindringen.“
Als „Garten“ sei Europa heute in größter Gefahr und diese Gefahr kommt neuerdings aus dem US- „Dschungel“ unter seinem „barbarischen“ Anführer Donald Trump.
Gärtner aller europäischen Länder, vereinigt Euch! Diesem Aufruf schloss sich einer der prominentesten pensionierten Gärtner Europas, der grüne Ex-Außenminister Joseph Fischer (geb. 1948), an und schrieb einen empörten Gastkommentar für das Handelsblatt am 18. Februar 2025, S. 5 unter dem Titel „Statt Brüssel soll Moskau der enge Partner der USA werden“.
Und ein anderer pensionierter Gärtner, Herfried Münkler (geb. 1951), gab demselben Blatt gleich auf der nächsten Seite ein Interview unter dem „angsteinfließenden“ Titel „Trump will die Europäische Union zerstören“ (S. 6 f.).
Die beiden pensionierten Gärtner sind in ihrem Element. Sie fluchen und schimpfen über Trump und denunzieren ihn als einen „Freund der Autokraten“, der Europa zerstören will, als würden die EU-Europäer sich selber nicht schon längst zerstören, indem sie sich maßlos selbstüberschätzend auf einen Krieg eingelassen haben, dem sie gar nicht gewachsen sind.
Und nun versuchen unsere Pensionäre das Versagen der EU-Europäer Trump, der gerade sein Amt eingetreten ist, und nicht seinem Amtsvorgänger, Joe Biden, der Europa in diesen Kriegsschlamassel hineingezogen hat, in die Schuhe zu schieben.
Offenbar sind sie nicht auf der Höhe der Zeit und merken immer noch nicht, dass eine neue Zeitrechnung mit Trumps Regentschaft begonnen hat. Sie weigern sich einfach zu akzeptieren, dass Europa für die USA unter Trump endgültig ihre geo- und sicherheitspolitische Bedeutung verloren hat, und klammern sich verzweifelt an die alte schöne Nachkriegszeit, die nicht vergehen kann, weil sie nicht vergehen darf.
Und so träumen sie weiter von jener Zeit, die irgendwann wieder zurückkommen sollte, wie Paul Fleming sie einst in seinem unnachahmlichen Gedicht „Gedanken über die Zeit“ (1634) erträumte:
„Ach dass doch jene Zeit, die ohne Zeit ist, käme
und uns aus dieser Zeit in ihre Zeiten nähme …“
„Jene Zeit, die ohne Zeit ist,“ kommt aber nie mehr zurück, sodass unseren pensionierten Gärtnern nichts anderes übrigbleibt, als weiter träumen zu dürfen und auf den „Spielverderber“ Trump zu schimpfen.
2. Joschka Fischers „Albtraumszenario“ und der Strategiewechsel
Unsere Pensionäre möchten bis heute nicht wahrhaben, was der holländische Gelehrte Hendrich Brugmans uns kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ins Stammbuch geschrieben hat: „Die europäischen Nationen haben aufgehört, die Hauptrolle im Schicksal der Menschheit zu spielen.“1
Diese bis heute gültige Erkenntnis wollen die Eurokraten und die nationalen Eliten Europas freilich nicht gelten lassen. Im Schlepptau der US-Hegemonie surften sie die ganze Nachkriegszeit als Trittbrettfahrer in freien Gewässern und bildeten sich ein, das „Schicksal der Menschheit“ mitbestimmen zu dürfen, mussten aber spätestens mit Trumps Amtsübernahme eines Besseren belehrt werden.
Die „Mehrheit der europäischen Eliten“ – sinniert Fischer in seinem Gastkommentar – glaubten, „so schlimm wird das schon nicht werden,“ um anschließend entrüstet festzustellen:
„Heute weiß man, dass es sich dabei um einen grandiosen Irrtum, ja Selbstbetrug seitens der Europäer handelte, denn Donald Trump will nichts Geringeres als einen Bruch mit allem, was Generationen von amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitikern erfolgreich an Weltordnung und Bündnissen seit dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut haben.“
Dass Fischer auf Trumps „Bruch“ mit Entsetzen reagiert und von einer „erfolgreichen“ US-amerikanischen Weltordnungspolitik seit dem Zweiten Weltkrieg spricht, zeigt, wie sehr er undifferenziert die Nachkriegszeit betrachtet, ohne die zwei Epochen der Nachkriegsgeschichte voneinander zu unterscheiden, und dadurch immer noch verkennt, dass die zweite Epoche mit ihrer unipolaren Weltordnung grandios gescheitert ist2 und einer der wesentlichen Gründe für Trumps Aufstieg zum US-Präsidenten war.
Und wenn Fischer selbstmitleidend davon spricht, dass für die Trump-Administration „statt Brüssel … Moskau der enge Partner der USA werden (soll)“, dann ignoriert er nicht nur die vergangenen drei Jahrzehnte der transatlantischen Geo- und Sicherheitspolitik, sondern auch seinen verstorbenen Kollegen – den sozialdemokratischen Vordenker der Ostpolitik, Egon Bahr (1922-2015) -, der bereit 1994 eine sicherheitspolitische Alternative für die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung klar und deutlich formulierte.
In seinem Vortrag „Ungeteilte Sicherheit für Europa“ vor der Batory-Foundation in Warschau am 25. Juni 1994 sagte er: „Sicherheitsfragen sind Machtfragen. Sie bleiben auch am Ende des Jahrhunderts zentral“ und fügte geradezu prophetisch hinzu:
„Der Zerfall der Sowjetunion hat dieses Land in Grenzen gelassen, in denen es während seiner tausendjährigen Geschichte noch nie existiert hat, mit mehr als 25 Millionen Russen außerhalb seiner Grenzen. … Sofern die Geschichte weitergeht wie bisher, ist voraussehbar, dass die russischen Grenzen nicht bleiben werden, wo sie heute sind. Eine solche Prophezeiung ist … risikolos, … weil nicht damit zu rechnen ist, dass Russland so schwach bleiben wird, wie es ist. … Der Kern der europäischen Stabilität ist also weniger die Frage des Verhältnisses Russlands zur Nato, sondern die gesicherte Stabilität der russischen Grenzen. Die garantierte Stabilität der russischen Grenzen ist die beste Sicherheitsgarantie für alle Staaten zwischen der Nato und Russland. Verteidigung vor Russland oder Sicherheit mit Russland – das wird die Alternative.“
Die US-Russlandpolitik unter Clinton entschied sich mit ihrer Nato-Osterweiterungspolitik im Still des „Kalten Krieges“ für „Verteidigung vor Russland“ und gegen „Sicherheit mit Russland“, womit sie einen fatalen geostrategischen Fehler beging, was Fischer offenbar bis heute nicht begriffen hat.
Statt nüchterner Analyse betreibt er Denunziation und wirft Putin getreu der westlichen Kriegspropaganda vor, die Ukraine mit seinem „Vernichtungskrieg“ „auslöschen“ zu wollen, wohingegen er Trump unterstellt, „diesen Krieg in trauter Zweisamkeit mit dem Gewaltherrscher im Kreml unter Ausschluss der Ukraine und Europas schnellstmöglich (zu) beenden.“
Offenbar leidet Fischer unter einem Kurzzeitgedächtnis und hat die „Gewaltherrscher“ in Washington, London und den anderen westlichen Hauptstädten ganz vergessen, die in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren die „Weltgewaltordnung“ errichtet haben, folgt man dem Vokabular des verstorbenen deutschen Soziologen, Karl Otto Hondrich (1937-2007).3
Schlimmer noch: Es war der deutsche Außenminister, Joschka Fischer, der im Jahr 1999 mit seiner persönlichen Entscheidung für den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Volksrepublik Jugoslawien einen doppelten Tabubruch der deutschen Nachkriegsgeschichte begangen hat.
Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich ausgerechnet die erste rot-grüne Bundesregierung nicht nur für einen Kriegseinsatz, sondern darüber hinaus auch für einen völkerrechtswidrigen, als „humanitäre Intervention“ verklärten Angriffskrieg entschieden.
Dieser doppelte Tabubruch hat die deutsche Außenpolitik exzessiv militarisiert und den Ex-Sponti und Ex-Pazifisten bis heute zum glühenden „liberalen Internationalisten“ gemacht. Bis heute klebt Blut von tausenden getöteten Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, an seinen Händen.
Heute will er davon nichts wissen und wirft lieber Putin einen „Vernichtungskrieg“ und Trump Kollaboration „mit dem Gewaltherrscher“ vor, um von den eigenen Kriegsverbrechen abzulenken.4 „Putin im Osten und Trump im Westen sind für die Europäer strategisch ein Albtraumszenario, auf das sie überhaupt nicht vorbereitet sind,“ beklagt sich Fischer und schreibt weiter: „Die Europäer bieten ein erbärmliches Bild … Dabei geht es um nichts Geringeres als um Europas Sicherheit und Freiheit, um die Frage der europäischen Selbstbestimmung und Zukunft.“
Wieso beklagt sich Fischer auf einmal? Haben die EU-Europäer nicht schon längst ihre sicherheitspolitische Souveränität an die USA abgegeben? Und hat Fischer selber nicht an eigener Haut erfahren müssen, dass Deutschland „ein tributpflichtiger Vasallenstaat“ (Zbigniew Brzezinski) ist und sich unter dem Druck seiner „Freundin“ – US-Außenministerin Madeleine Albright (1997-2001) – 1999 für den Kriegseinsatz mitentschieden hat?
Es hat sich schon längst in der Welt herumgesprochen, wie unsouverän Europa doch ist. Zuletzt forderte der singapurische Politikwissenschaftler und Diplomat, Kishore Mahbubani (geb. 1948), die EU-Europäer dazu auf, „das Undenkbare zu tun“. In seinem aufschlussreichen Artikel „It’s Time for Europe to Do the Unthinkable“ für Foreign Policy schreibt Mahbubani am 18. Februar 2025: „Brüssel ist Washington zu lange sklavisch gefolgt und hat vergessen, wie es seine eigenen geopolitischen Interessen vorantreiben kann“ (Brussels has slavishly followed Washington for too long—and forgotten how to advance its own geopolitical interests).
Und wie will Fischer dieser Aufforderung gerecht werden? Er fordert die EU-Kommission dazu auf, „unter Einbeziehung des Vereinigten Königreichs und Norwegens endlich eine europäische Armee (zu) schaffen, die einsatz- und kampffähig ist.“ Offenbar glaubt er allen Ernstes, dass – wenn sich zahlreiche Zwerge zusammenschließen – daraus ein militärischer Riese entstehen kann.
Vor der Alternative: „Brüssel oder Moskau, Freiheit oder Unterwerfung“ gestellt, warnt der pensionierte „Kalte Krieger“ vor der russischen Gefahr und verkündet anschließend hochtrabend: „Für Europa kann die Antwort nur Brüssel, nur Freiheit lauten,“ als würden wir uns immer noch inmitten des „Kalten Krieges“ befinden.
Fischer ist aus der Zeit gefallen und lebt immer noch im 20. Jahrhundert. Und die letzte Passage seiner Ausführungen zeigt das auch mit aller Deutlichkeit: „Europa (muss) sehr schnell und unverzüglich zur Macht werden, auch und gerade militärisch, koste es, was es wolle. Oder müssen erst russische Panzer Richtung Westen rollen?“
Nein, Herr Fischer, Sie brauchen keine Angst zu haben. Die Russen haben nicht vor, mit ihren „Panzern Richtung Westen (zu) rollen.“ Seien Sie unbesorgt, die Russen haben heute eine viel bessere und modernere Waffengattung als Panzer.
Sie können mit ihrer Hyperschallgeschwindigkeitstechnologie Deutschland viel schneller, viel effektiver und vor allem viel wirksamer in Schutt und Asche legen – so schnell, so effektiv und so wirksam, dass Sie aus Ihrem Dornröschenschlaf nie mehr erwachen werden.
Wenn Ihnen aber eine solche Zukunftsperspektive nicht gefällt, dann sollten Sie sich vielleicht von Trump, dessen „drohender Verrat an der Ukraine“ Sie so sehr beklagen, ein Beispiel nehmen und womöglich einen Strategiewechsel wagen, statt stets der gescheiterten Logik der Konfrontation Folge zu leisten.
Vielleich wählen Sie dann endlich den einzigrichtigen Weg, den Egon Bahr Ihnen längst vorgegeben hat: „Sicherheit mit Russland“ statt „Verteidigung vor Russland“.
3. Diplomatie als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln?
Auch der zweite Pensionär, Herfried Münkler, ist voller Empörung über Trump: „Trump will die Europäische Union zerstören“, behauptet Münkler in seinem Interview. Empört stellt er fest, „dass Trump und Putin über die Köpfe der Betroffenen hinweg verhandeln wollen und dass die Europäer vielleicht noch über die Ergebnisse dessen als Erste oder Zweite informiert werden.“ Das sei „unzumutbar.“
Was hat Münkler eigentlich erwartet? Nachdem die EU-Europäer sich im US-Wahlkampf auf die Seite seiner politischen Gegner – der US-Demokraten – schlugen, war es erwartbar, dass Trump die EU-Machtelite nicht mit Samthandschuhen anfassen wird.
So hat der polnische Premier Donald Tusk beispielsweise Trump als einen russischen Agenten denunziert. „Trumps Verbindungen zu russischen Geheimdiensten sind unwiderlegbar. Das ist nicht, was ich denke, sondern das Ergebnis von Untersuchungen der US-Geheimdienste,“ behauptete er 2023. Und die Bild überschrieb am 11. September 2024 die Titelseite mit der Schlagzeile: „Baerbock-Amt mischt sich in US-Wahlkampf ein“.
Solche Beispiele lassen sich beliebig fortsetzen. Dass Trump nichts vergibt und nichts vergisst, ist allgemein bekannt. Die ganze Aufregung hätte sich erübrigt, hätten sich die Empörten statt von Emotionen von einer nüchternen Analyse von Trumps Ukraine- und Europapolitik leiten lassen. Die lässt sich von vier Beweggründen ableiten:
(1) Die erste ist die naheliegendste: Trumps persönliche Abneigung gegen Selenskyj nicht zuletzt wegen seiner Involvierung im ersten Impeachment-Verfahren gegen Donald Trump in den Jahren 2019/20 als Folge der sog. Ukraine-Affäre. In einem Telefongespräch mit Selenskyj am 25. Juli 2019 hat er die Unterstützung der Ukraine von Gegenleistungen abhängig gemacht, die ihm Vorteile bei der US-Präsidentschaftswahl 2020 verschafft hätten.
Die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, leitete darauf am 24. September 2019 Ermittlungen ein, die zu einem erfolglosen Amtsenthebungsverfahren geführt haben.
(2) Der zweite Beweggrund ist nicht so sehr Trumps Bestreben, die EU als Staatenverbund zu zerstören, wie Münkler mutmaßt, als vielmehr die ihm feindselig gesinnten EU-Machteliten zu zerschlagen, die ideologisch und geopolitisch seinen innenpolitischen Gegnern – den von ihm verhassten US-Demokraten – nahestehen.
(3) Der dritte Beweggrund ist innenpolitisch motiviert, dergestalt, dass Trump über Druckausübung auf Selenskyj, den er für korrupt hält, versucht, diesen dazu zu bewegen, ihm ein belastendes Material gegen Biden und die US-Demokraten zu verschaffen. Damit will Trump im innenpolitischen Kampf den Beweis erbringen, wie korrupt die Biden-Administration und die US-Demokraten sind, um sie womöglich auf Jahre als nicht wählbar anzuprangern.
(4) Der vierte Beweggrund ist der allerwichtigste und der schwierigste, nämlich eine ideologische Umformatierung Europas weg vom westlichen Wertuniversalismus hin zum Partikularismus und nationalstaatlichen Machtinteressen. Deswegen findet eine massive Unterstützung der europäischen Rechte seitens der Trump-Administration statt, die im krassen Gegensatz zu den bis dato vorherrschenden globalisierten EU- und US-Machtstrukturen stehen.
Allein vor diesem Hintergrund wird Trumps Ukraine- und Europapolitik verständlich. Es ist auch nicht ganz klar, warum Münkler die EU-Europäer für „Betroffene“ hält, über deren Köpfe hinweg verhandelt werde. Diese mischen sich in Kolonialherren-Manier in einen innerslawischen Konflikt ein, der auf slawischem Boden stattfindet und sie darum sie gar nichts angeht.
Russland führt hingegen keinen Krieg gegen Europa. Es sind vielmehr die EU-Europäer, die mit ihrer Kriegsfinanzierung und Waffenlieferung massiv in den russisch-ukrainischen Konflikt eingegriffen haben und bis heute alles daraufsetzen, ihn am Leben zu erhalten.
Und wenn Münkler davon spricht, dass es „unzumutbar“ sei, „über die Köpfe der Betroffenen hinweg“ zu verhandeln, so ist dem entgegenzuhalten: Die EU hatte drei Jahre Zeit, Verhandlungen zur Beilegung des Konflikts zu führen, hätte sie gewollt.
Es waren stattdessen die Eurokraten, namentlich der ehem. Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsident der Kommission, Josep Borrell (2019-2024), der die ganze Zeit den Sieg der Ukraine „auf dem Schlachtfeld“ predigte.
Und jetzt möchten sie, wo ein ganz anderer Wind aus Washington weht, vom Saulus zum Paulus werden. Wie glaubwürdig sind sie aber heute? Möchten sie Verhandlungen, um Frieden zu schaffen oder ihn zu torpedieren?
Wenn man Münkler in seinem Interview zuhört, dann geht es eher um die Torpedierung als um eine Friedensschaffung. Er beklagt sich, dass „der >transatlantische Westen< als geopolitischer Akteur auf sein Ende“ zusteuert, und wirft den Europäer vor, dass sie „selbst schuld an ihrer prekären Lage“ seien.
„Sie müssen jetzt beschleunigt das tun,“ fährt er fort, „was sie in den vergangenen Jahren zu tun versäumt haben, nämlich entschlossen eigene Verteidigungsfähigkeiten aufbauen, für größere wirtschaftliche Autonomie sorgen und ebenso entschlossen die Ukraine unterstützen – bei der ja nach wie vor weitergehenden Kriegsführung, aber ebenso bei den Verhandlungen.“
Ob Münkler versteht, was er von den EU-Europäern fordert und welche astronomischen Kosten auf sie zukommen, sollten sie die vergangenen Jahrzehnte (nicht Jahre) nachholen, die sie beim Aufbau der eigenen Verteidigungsfähigkeiten versäumt haben?
Allein ein Aufbau und die Unterhaltung eines nuklearen Potenzials Europas, das mit dem der USA oder Russlands vergleichbar wäre, würden Billionen Euro verschlingen und die EU-Volkswirtschaften übermäßig belasten. Die militärische und ökonomische „Autonomie“ Europas ist eine Idee fixe jener, die die irreversible strategische Abhängigkeit Europas von den USA und dessen sicherheitspolitisches Vasallitätsverhältnis in der Nato-Allianz bis heute nicht wahrhaben bzw. akzeptieren wollen.
Diese Diskussion ist so alt wie der „Kalte Krieg“. Der Nationale Sicherheitsberater der Präsidenten Kennedy und Johnson, McGeorge Bundy (1961-1966), zog bereits „aus dieser überwiegenden Abhängigkeit Westeuropas von der nach Europa verlagerten amerikanischen Macht die Schlussfolgerung, dass die westeuropäischen Bündnispartner sich mit diesem Zustand ein für allemal abgefunden hätten und einen dauernden >Machtverzicht< übten, der die Minderung der Rolle Europas in der Welt als >irreversibel< erscheinen lasse.“5
Allein die Rohstoffarmut Europas und das fehlende nukleare Machtpotenzial verunmöglichen die geopolitische und geoökonomische Autonomie Europas und machen es von Außenmächten, wer auch immer sie sein mögen, abhängig und erpressbar.
4. Situative Verbündete?
Unklar ist, was Münkler unter dem Neologismus „transatlantischer Westen“ versteht, der angeblich als „geopolitischer Akteur auf sein Ende“ zugehe. Der sog. „Westen“ ist der ideologische Kampfbegriff des „Kalten Krieges“ und den gibt es seit dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht mehr, weil es keinen „Osten“ mehr gibt, der dem „Westen“ komparativ gegenübergestellt werden kann.
Und dass Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges jemals ein geopolitischer Akteur gewesen war, ist ein Mythos. Weder zu Zeiten der Bipolarität noch während der Unipolarität, die vor unseren Augen zu Ende gegangen ist, war Europa ein eigenständiger „geopolitischer Akteur“. Die Europäer waren spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zuallererst „die tributpflichtigen Vasallen“ (Brzezinski) der US-Supermacht bzw. des US-Hegemonen.
Mit Trumps Machtübernahme zeigt sich diese Vasallität zwischen den USA und Europa nunmehr in ihrer gröbsten und unverdeckten Gestalt, sodass der sog. „transatlantischer Westen“ nichts weiter als ein neologistisches Unwort ist.
Daraus leitet Münkler freilich seine Thesen ab, die allesamt fragwürdig sind. So spricht er davon, dass „wir uns längst von der regelbasierten Weltordnung verabschiedet haben“ und „in eine machtbasierte Ordnung eingetreten sind“, als wäre die Unipolarität mit ihrer „Weltgewaltordnung“ keine „machtbasierte Weltordnung“6.
Indem Münkler im gleichen Atemzug von „autokratischen Systemen“ spricht, die in der Weltpolitik „an Gewicht gewinnen“, versteht er darunter nicht nur Russland und China, sondern offenbar auch die USA unter Trump, dem er ein „imperiales“ Denken vorhält und der keine Rücksicht auf die Interessen der europäischen Verbündeten und der Ukraine nimmt.
Von dieser These ausgehend, unterstellt Münkler Trump und Putin Brüder im Geiste zu sein und sieht eine Parallele zwischen Trumps „imperialen“ Denken und Putins „neoimperialer Politik“. Der Unterschied zwischen den beiden sei lediglich gradueller Natur. „Trump hat keine langfristige Strategie“, wohingegen Putin strategisch vorgeht, beteuert Münkler und phantasiert in Anlehnung an die gängige westliche Propaganda von „Putins langfristigem Ziel der Wiederherstellung des russischen Imperiums“.
In völliger Verkennung nicht nur der Beweggründe von Trumps „America First“-Politik, sondern auch der russischen Geo- und Sicherheitspolitik wirft Münkler Putin eine „imperialistische“ Strategie zur Destabilisierung der „Region des Schwarzen Meeres von Tschetschenien über Georgien bis nach Armenien“ vor. Die Destabilisierungsstrategie sollte „inzwischen in Form von Wahlbeeinflussung auch Rumänien und Moldawien“ erfassen.
Diese abstrusen, völlig aus der Luft gegriffenen Anschuldigungen sind fern jeder geopolitischen Realität. Sich in einer von der Kriegspropaganda beherrschten medialen Blase befindend, merkt er gar nicht, wie sehr er davon manipuliert wird und wie kritiklos er mangels eines anderen Quellenmaterials die gezielt gesteuerten, selektierten und filtrierten Informationen für bare Münze hält.
Die kritiklose Adaptation des Informationskrieges irritiert, weil er seine Unkenntnisse über die tatsächlichen Machtverhältnisse in der Region zur Schau stellt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Münkler weiß offenbar nicht, dass Georgien keine diplomatischen Beziehungen zu Russland unterhält und dass die gegenwärtige armenische Führung schon lange auf Distanz zu Russland geht und eine prowestliche bzw. proamerikanische Außenpolitik betreibt, auf die Moskau kaum einen Einfluss hat.
Und was den Vorwurf einer „Wahlbeeinflussung“ in Rumänien angeht, so ist er derart abwegig, dass man die Hände über dem Kopf zusammenschlägt und weiß nicht, was es dazu noch zu sagen gibt. Der TikTok-Werbespot, den der rumänische Präsident als „Beweis“ für die russische Einmischung bezeichnete, wurde tatsächlich von der Nationalliberalen Partei (PNL) bezahlt, deren Mitglied der Präsident Klaus Iohannis war.
Die rumänische Steuerbehörde ANAF hat zudem festgestellt, dass die TikTok-Kampagne von Calin Georgescu (dem Gewinner der ersten Runde der rumänischen Präsidentschaftswahlen) und nicht von Russen bezahlt wurde, wie der rumänische Geheimdienst behauptete und der formelle Grund für die Annullierung der Ergebnisse der ersten Runde war.
Münkler hat offenbar davon nie etwas gehört. Und so ist sein ganzes Interview konzipiert: Statt Kenntnisse werden Empörung und Entrüstung zelebriert und statt Analyse Vorurteile und Ressentiment geschürt. Münkler erweist sich als ein unbedarfter Konsument des Informationskrieges, der sich die Narrative der um uns tobenden medialen Propaganda willfährig und kritiklos zu eigen macht.
Und so spricht er davon, dass Putin mit Verweis auf Trumps „imperiale Politik“ seine „aggressive Strategie“ rechtfertigen kann, als wären die zahlreichen US-Interventionen und Invasionen der vergangenen drei Jahrzehnte vor Trump weder aggressiv noch imperial oder hegemonial und brutal gewesen.
Dass die Ursachen der sich von Trump vollzogenen revolutionären Wende in der US-Geopolitik im Scheitern der vom US-Hegemon dominierten unipolaren Welt mit ihrer „regelbasierten Ordnung“ liegen, die, statt Frieden und Sicherheit zu schaffen, Gewalt und Zerstörung produzierten, will Münkler nicht wahrhaben, lässt er sich doch seit Jahr und Tag von ideologischen Denkvoraussetzungen des westlichen Universalismus leiten, der sich freilich außerhalb der westlichen Hemisphäre nirgends verwirklicht hat.
Gefragt danach, ob „Moskau … für Washington näher als Brüssel, Berlin oder Paris“ sei, reagiert Münkler darauf bejahend und verärgert zugleich mit den Worten: „Gemeinsame Interessen gibt es jedenfalls. Eines ist klar: Trump will die Europäische Union zerstören. Das will Putin auch. Beide tun das mit anderen Zielen und Interessen. Aber zeitweise werden sie wohl an einem Strang ziehen.“
Trump und Putin sind momentan in der Tat situative Verbündete – nur nicht so, wie sich Münkler das vorstellt. Wie bereits oben angedeutet, will Trump nicht die Zerstörung der Europäischen Union, sondern eine ideologische Umformatierung der europäischen Machteliten, die den MAGA-Republikanern feindlich gesinnt sind, den US-Demokraten politisch nahestehen und Trump ideologisch bekämpfen.
Und was Putin angeht, dem Münkler ebenfalls die Zerstörung der EU unterstellt, so ist der Vorwurf weit hergeholt und verkennt dabei vollkommen den defensiven Charakter der russischen Außenpolitik seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, die stets auf Ausgleich und freundschaftlichen Beziehungen zu den Europäern und nicht zuletzt zu den Deutschen hinaus war.
Es ist die sog. „Demokratieförderung“ (horribile dictu) und vor allem die aggressive Nato-Osterweiterungspolitik der vergangenen dreißig Jahre,7 die der russischen Führung nichts anderes übriggelassen haben, als im Falle der Ukraine gegenzusteuern. Dass „der Denker“ der Nation (nach Handelsblatts Diktum) das nicht versteht, ist unverständlich.
Als wäre das nicht genug, spricht Münkler mit Verweis auf die US-amerikanische „Russlandexpertin“, Anne Applebaum, von der „Achse der Autokraten“, zu der er mittlerweile auch Trump zählt. Dieser Vorwurf an Trumps Adresse begründet er mit dem „wilden imperialistischen Agieren der Führungsmacht USA“ und nimmt Trumps Ankündigungen über die Einverleibung Panamas oder den Kauf Grönlands für bare Münze.
Münkler kommt es dabei nicht einmal in den Sinn, dass die Ankündigungen nichts weiter als Trumps leeres Gerede sein können, um von ganz anderen innen- und außenpolitischen Zielen abzulenken. Und so schlägt er Alarm und sieht in Trump gar eine Gefährdung der Demokratie. „Die demokratischen Rechtsstaaten sind empfindlich geschwächt, wenn die USA ein autokratischer Akteur werden“, warnt Münkler eindringlich.
Ob er überhaupt versteht, was „Autokratie“, die ja in erster Linie ein verfassungshistorischer und verfassungsrechtlicher Begriff ist, bedeutet8?
Seitdem Joe Biden im Wahlkampf 2020 den Kampfbegriff „Autokratie“, den er kurzerhand auf eine Stufe mit Faschismus stellte, „entdeckt“ hat, ist „Autokratie“ in aller Munde und wird geradezu inflationär benutzt.
In einem Beitrag „Why America Must Lead Again. Rescuing U.S. Foreign Policy After Trump“ für Foreign Affairs am 23. Januar 2020 fasste Joe Biden die Ziele der US-Außenpolitik in einer ideologischen Formel zusammen: „Der Triumph von Demokratie und Liberalismus über Faschismus und Autokratie schuf die freie Welt“, schrieb Biden und prophezeite anschließend: „Aber dieser Wettstreit definiert nicht nur unsere Vergangenheit. Er wird auch unsere Zukunft bestimmen“ (The triumph of democracy and liberalism over fascism and autocracy created the free world. But this contest does not just define our past. It will define our future, as well).
Seit seiner „Entdeckung“ geistert das „autokratische“ Gespenst in der westlichen Hemisphäre herum und wurde, wie man sieht, auch von unserem „Denker“ gesehen. Da macht das schon kein großer Unterschied, ob Trump „Autokrat“ oder „Faschist“ sei, wie die US-Demokraten ihn im Wahlkampf 2024 denunzierten.
Als Mitglied der „Achse der Autokraten“ befindet sich Trump jedenfalls mit Putin, der mittlerweile als „Hitlers Wiedergänger“ gilt, in guter Gesellschaft. So tief ist heute der politikwissenschaftliche Diskurs gesunken und der „Denker“ Münkler ist ein Paradebeispiel dafür.
Mit Trumps erneuter Machtübernahme und seinen ersten innen- und außenpolitischen Entscheidungen deutet alles darauf hin, dass wir auf ein Zeitalter zusteuern, das die Weltordnung revolutionieren bzw. radikal verändern wird und die Verlierer dieser von Trump in Gang gesetzte revolutionäre Geopolitik die EU-Machteliten sein werden, die – die Zeichen der Zeit verkennend – sich beharrlich weigern, die neuentstandene geopolitische Realität adäquat zu reflektieren.
Anmerkungen
1. Brugmans, H., Die Mission Europas in der heutigen Weltsituation, in: Europa – Erbe und Aufgabe.
Internationaler Gelehrtenkongress Mainz 1955, hrsg. u. eingl. v. Martin Göhring. Wiesbaden 1956, 313-322
(313).
2. Silnizki, M., Das Ende der Nachkriegsordnung. Lawrows Vision oder Trumps „America First“? 18. Februar
2025, www.ontopraxiologie.de.
3. Näheres dazu Silnizki, M., Im Würgegriff der Gewalt. Wider Apologie der „Weltgewaltordnung“. 30. März
2022, www.ontopraxiologie.de.
4. Näheres dazu Silnizki, M., Ist „das Zeitalter des humanitären Interventionismus“ zu Ende? Stellungnahme
zu Jürgen Trittins These. 13. September 2021, www.ontopraxiologie.de.
5. Zitiert nach Lothar Ruehl, Machtpolitik und Friedensstrategie. Einführung General Steinhoff. Hamburg
1974, 176.
6. Vgl. Silnizki, M., Die „regelbasierte Ordnung“ und der „Globale Süden“. Zur Frage der nichtwestlichen
Perzeption des Ukrainekonflikts. 13. März 2023, www.ontopraxiologie.de.
7. Vgl. Silnizki, M., Dreißig Jahre Nato-Expansion. Zur Vorgeschichte des Ukrainekonflikts. 4. Oktober 2023,
www.ontopraxiologie.de.
8. Näheres dazu Silnizki, M., Autokratie in Russland? Zur Sinnentleerung eines Begriffs. 7. August 2023,
www.ontopraxiologie.de.