Sandkastenspiele von Richard Haass
Übersicht
1. „Realistische Definition des Sieges“ und der Territorialkonflikt
2. Verhandlungen mit sich selbst?
Anmerkungen
„Расширение НАТО на восток была ползучая интервенция.“
(Die Nato-Osterweiterung war eine schleichende Intervention)
(Putin, 7. November 2024)
1. „Realistische Definition des Sieges“ und der Territorialkonflikt
Der ehem. langjährige Präsident des Council on Foreign Relations, Richard Haass (2003-2023), hat einen Artikel unter der Überschrift „The Perfect Has Become the Enemy of the Good in Ukraine“ in Foreign Affairs am 4. November 2024 veröffentlicht. In der vorgelegten Schrift ruft Haass im Untertitel Washington auf, seine Ziele zwecks einer baldigen Beendigung des Ukrainekrieges „neu zu definieren“.
Was einer der einflussreichsten Vordenker der US-Außenpolitik da vorschlägt, ähnelt eher einem Märchen aus Disneyland denn einer Realpolitik. Denn er schlägt allen Ernstes vor, die Verhandlungen zur Beendigung des Krieges in Selbstgesprächen und unter Gleichgesinnten bzw. mit der Ukraine und deren engsten Verbündeten zu führen, ohne Russlands Forderungen in den Verhandlungsprozess einzubeziehen.
Offenbar verweilt Haass (geb. 1951) immer noch in der Welt der 1990er-Jahre und des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, in denen die einzig verbliebene Supermacht ihre Allmachtphantasien ausleben und dem am Boden liegenden ehem. Systemkonkurrenten und geopolitischen Rivalen nach dem Untergang des Sowjetreiches die Bedingungen der „friedlichen“ Koexistenz diktieren konnte.
Dass diese Traumwelt längst vorbei ist, will das US-Establishment offenbar nicht wahrhaben und versucht weiterhin „jenen süßen Traum (zu) träumen“, der längst ausgeträumt ist. Offenbar befindet sich das US-Establishment nach wie vor wie Kant mit seinem „Ewigen Frieden“ „zwischen objektiver Geltung und Utopie“.1
Eingangs seiner Überlegungen plädiert Haass für eine „realistische Definition des Sieges“ (realistic definition of victory), soll heißen:
Kiew müsse zwar das Recht auf Souveränität, Unabhängigkeit und auf die freie Bündniswahl haben, gleichzeitig aber die Vorstellung aufgeben, dass es sein gesamtes Territorium befreien müsse. Die USA und ihre Verbündeten sollen dabei die Ukraine weiterhin aufrüsten und zugleich zu Verhandlungen mit Kreml drängen und ihr klar machen, wie es vorgehen solle.
Das sei laut Haass der einzige Weg, die Feindseligkeiten zu beenden, die Ukraine als unabhängiges Land zu erhalten, ihr den Wiederaufbau zu ermöglichen und das Ende der ukrainischen Staatlichkeit abzuwenden.
Indem Haass Sieg oder Niederlage der Ukraine allein auf Befreiung oder Nichtbefreiung von besetzten Territorien reduziert, macht er sich den seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine üblich gewordenen, aber völlig abwegigen Hauptvorwurf der Transatlantiker an die Adresse der russischen Führung zu eigen: Putin betreibe angeblich einen russischen Neoimperialismus zwecks Wiederherstellung der Sowjetunion.
Damit blendet er und seine Protagonisten den eigentlichen, bereits Jahrzehnte andauernden Konflikt zwischen Russland und dem Westen um die Nato-Osterweiterung seit dem Ende des Ost-West-Konflikts aus, die Putin erst gerade als eine „schleichende Intervention“ (ползучая интервенция) bezeichnete. Dabei lenkt Haass davon ab, dass es der Westen war, der die von der russischen Regierung am 15. Dezember 2021 gestellte Kernforderung nach einer Wiederherstellung der sicherheitspolitischen Vereinbarungen von 27. Mai 1997 kategorisch und von vornherein abgeschmettert hat.
Liest man die Überschriften der Zeitungsartikel vom Januar 2022, so wird deutlich, dass sich jede Verhandlung zu einer friedlichen Regelung des Ukrainekonflikts erübrigt hat, bevor sie überhaupt begonnen wurde:
- „Blinken lehnt Forderungen aus Moskau erneut ab“ (Spiegel, 27. Januar 2022);
- „Die Tür der Nato ist offen und bleibt offen – Absage an Russlands Forderung nach einem Ende der Nato-Osterweiterung“ (Handelsblatt, 26. Januar 2022);
- „USA: Keine Zusage an Moskau für das Ende der NATO-Erweiterung“ (Salzburger Nachrichten, 27. Januar 2022) usw. usf.
Diese Ausblendung des eigentlichen Kriegsgrundes macht es Haass und seinen transatlantischen Protagonisten leicht, heute weiterhin auf die freie Bündniswahl der Ukraine zu beharren, als wäre das eine pure Selbstverständlichkeit. Er unterschlägt freilich ganz bewusst, dass in der ukrainischen Verfassung von 1996 der Neutralitätsstatus der Ukraine festverankert wurde und erst der als „Maidan-Revolution“ verklärte Staatsstreich ihn in Frage gestellt und das Neutralitätsgebot aus der Verfassung entfernt hat.
Diese gezielte Desinformation der Öffentlichkeit hat einen geopolitischen Grund. Der Westen versucht einen jahrzehntelang andauernden geo- und sicherheitspolitischen Konflikt zwischen Russland und dem Westen um die Nato-Osterweiterung allein auf einen reinen russisch-ukrainischen Territorialkonflikt zu reduzieren – wohl wissend, dass es Russland gar nicht um Territorien, sondern um seine vitalen Sicherheitsinteressen geht, was die geplatzten, vom ehem. britischen Premier Boris Johnson im April 2022 mit stillschweigender Zustimmung der Biden-Administration torpedierten Friedensvereinbarungen auch beweisen.2
Diese Verschleierungstaktik der transatlantischen Macht- und Funktionseliten ist ein Weg ins Nirgendwo. Da kann Haass über eine „realistische Definition des Sieges“ fabulieren, soviel er will. Den Krieg wird er damit nicht beenden können.
2. Verhandlungen mit sich selbst
Seitdem die Ukraine sich auf der ganzen Frontlinie auf dem Rückzug befindet und man einen Zerfall der gesamten Front zu befürchten hat, sprechen Teile der transatlantischen Kriegspartei „urplötzlich“ von Diplomatie, wo sie doch zweieinhalb Jahre – wie der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, – nicht müde waren, ununterbrochen einen Sieg der Ukraine auf dem Schlachtfeld zu predigen.
In die Riege der Diplomatie-Prediger reiht sich nun auch Richard Haass, der ebenfalls „urplötzlich“ vom Saulus zum Paulus wurde:
„Indem der Westen keine realistische Definition des Sieges liefert, verringert er auch den Druck auf Russland, indem er wenig Raum für die ernsthafte Diplomatie lässt. Jeder der Protagonisten kann seine Maximalforderungen stellen. Das soll nicht heißen, dass Russland und die Ukraine moralisch gleichwertig sind. Das sind sie nicht. Aber ohne echte diplomatische Bemühungen des Westens kann der russische Präsident Wladimir Putin argumentieren, dass sein Regime nicht das Haupthindernis für eine Beendigung des Krieges sei, indem es die Verhandlungsverweigerung den USA und Europa vorwirft.“
Wie sehen nun nach Haass solche diplomatischen Verhandlungen aus? Unter der Schlagzeile „Die Kunst des Möglichen“ (The Art of the Possible) plädiert er „für eine alternative Strategie zu einem Krieg auf unbestimmte Zeit und einer Niederlage Kiews“ (an alternative strategy to both indefinite war and Kyiv’s defeat). Und hier stellt er einen Forderungskatalog auf, der eher an Friedensdiktat denn an Friedensverhandlungen erinnert und die russischen vitalen Sicherheitsinteressen, die zum Krieg geführt haben, komplett ignoriert. Die Friedensverhandlungen müssen seiner Meinung nach u. a. folgende Ziele verfolgen:
- Die Ukraine müsse die Freiheit haben, sich wieder aufzurüsten und eine Armee von beliebiger Größe unterhalten sowie
- der Europäischen Union beizutreten.
- Sie müsse die Sicherheitsgarantien von außen sowie einen wirtschaftlichen Zugang zum Schwarzen Meer erhalten.
Bei diesem Forderungskatalog hat man den Eindruck, als würde sich die Ukraine an der Front auf dem Vormarsch und Russland auf dem Rückzug befinden. Das einzige Entgegenkommen signalisiert Haass – wie könnte es auch anders sein? – im Bereich eines Territorialkompromisses und dieser darf auch nur unter Vorbehalt stattfinden.
Kiew brauche – schreibt er „gönnerhaft“ an die Adresse Russland – „keine 100 Prozent seines Territoriums, um diese Ziele zu erreichen.“ Zu jetziger Zeit brauche es vielmehr „ein Ende des Krieges“ und vor allem „eine vorläufige Einstellung der Feindseligkeiten, die weitgehend die aktuellen Realitäten vor Ort akzeptieren.“
Wie will Haass „ein Ende des Krieges“, „vorläufige Einstellung der Feindseligkeiten“ und nicht zuletzt seinen Wunschkatalog durchsetzen? Ganz einfach: Die USA und ihre europäischen Partner sollten einen Dialog mit der Ukraine aufnehmen, um die ukrainische Führung davon zu überzeugen, eine „realistischere Definition von Sieg zu akzeptieren.“
Wohl gemerkt: Man führt einen Dialog allein unter Gleichgesinnten und Kriegspartnern, verhandelt faktisch mit sich selbst und nicht mit Russland. Und was ist mit Russland? Moskau müsse laut Haass „signalisiert“ werden, dass es sich weder jetzt noch in Zukunft auf dem Schlachtfeld durchsetzen und für seinen Versuch einen hohen Preis zahlen werde. Das war´s!
„Signalisiert“ der Westen Russland seit beinahe drei Jahren erfolglos, dass es sich auf dem Schlachtfeld nicht durchsetzen kann? Und wie viel Jahrzehnte noch muss er das Russland „signalisieren“?
Statt der russischen Führung einen fairen Dialog und faire Verhandlungen anzubieten, wird Russland weiterhin gedroht und man fragt irritiert: Reicht ein fast drei Jahre andauernder Krieg nicht, um zu einer Binsenwahrheit zu gelangen, dass der Westen mit seinen Drohgebärden nicht weiterkommt?
Nein, Haass will gar keine Verhandlungen. Er und seine Kriegskameraden wollen nicht verhandeln, sondern diktieren. Verhandlungen führen sie lieber unter sich mit sich in den endlosen, zu Nichts führenden und zu Nichts verpflichtenden Selbstgesprächen.
Haass und seine Protagonisten sind Wölfe im Schafspelz, die Russland Friedensverhandlungen vorgaukeln, aber in Wahrheit Friedensbedingungen diktieren wollen. Sie befinden sich in einer Traumwelt, die mit der Realität nichts gemein hat. Wie will Haass denn Russland seinen Aufruf zur Diplomatie unter solchen Bedingungen verkaufen? Bei der ersten Realitätsberührung fallen seine Vorschläge wie ein Kartenhaus zusammen.
Was schlägt er nun aber konkret vor?
Die Diplomatie sollte laut Haass in zwei Phasen ablaufen. In der ersten Phase würde man versuchen, einen Waffenstillstand entweder entlang der aktuellen Frontlinien oder mit begrenzten Anpassungen herbeizuführen, wobei eine Pufferzone die beiden Protagonisten trennt. Das sollte das Blutvergießen beenden und der Ukraine den Wiederaufbau ermöglichen.
Das Land müsste dabei seine rechtlichen oder politischen Ansprüche in Bezug auf die Grenzziehung weder aufgeben noch Kompromisse eingehen. Auch die internationalen Friedenstruppen, die die Vereinbarung überwachen, dürfen nicht ausgeschlossen werden.
Sobald die erste Phase der Diplomatie abgeschlossen ist, sollte eine zweite folgen, die viel länger dauern würde – möglicherweise Jahrzehnte, bis Russland nach Putin eine Führung bekomme, die an der Wiedereingliederung des Landes in den Westen interessiert sei. Diese Phase könnte Gebietsübertragungen in beide Richtungen und ein gewisses Maß an Autonomie für die Bewohner der Krim und der Ostukraine sowie die Schaffung einer Sicherheitsgarantie für die Ukraine beinhalten, obwohl solche Garantien nicht viel wert seien. Im Idealfall käme die Mitgliedschaft für Kiew in Frage.
Sollte also diese sog. Diplomatie, die auf die russischen geo- und sicherheitspolitischen Interessen gar nicht eingeht, von Russland akzeptiert werden? Aus russischer Sicht wären Haass´ „Diplomatie“, die beim näheren Hinsehen ein Friedensdiktat ist, eine glatte Kriegsniederlage für Russland, sollte es darauf eingehen. Offenbar hat Haass nicht einmal seinen Kollegen Robert Kagan gelesen, der zu derartigen Forderungskatalogen neuerlich dezidiert Stellung genommen hat.
In seiner umfangreichen Analyse, die er unter dem Titel „Are Americans ready to give up on Ukraine?“ (Sind die Amerikaner bereit, die Ukraine aufzugeben?) in The Washington Post am 15. Oktober 2024 veröffentlichte, setzt er sich mit der Frage auseinander, ob die vom Westen diskutierten Friedensregelungen im Ukrainekonflikt von der russischen Führung überhaupt akzeptiert werden.
Seine Antwort ist für den von Haass befürworteten diplomatischen Salto mortale nicht gerade schmeichelhaft. Dass Putin ein derart selbstmörderisches Verhandlungsergebnis akzeptieren würde, bezweifelt Kagan: „Die Befürworter von Friedensgesprächen mit Russland gehen einfach davon aus, dass Putin das Ergebnis akzeptieren wird, das den amerikanischen Vorstellungen am ehesten entspricht. So funktionieren Verhandlungen aber nicht und so werden sie auch nicht verlaufen.“
Putin werde weder von seiner Forderung nach der „Entnazifizierung“ der Ukraine abrücken, womit er einen Regierungswechsel in Kiew meine, noch auf die Kontrolle über die Gebiete verzichten, die die russischen Streitkräfte noch nicht einmal erobert haben.
Falls die Verhandlungsbefürworter glauben, dass es nur eine Verhandlungstaktik sei und Putin zu Kompromissen gezwungen sein könnte, sind sie auf dem Holzweg. Und so schließt Kagan seine Analyse resigniert mit den Worten ab: „Dies ist eben keine jener >Win-Win<-Situationen“ (This is not one of those “win-win” situations), die man aushandeln könnte. Wenn sich nichts Dramatisches ändere, werde der Krieg wie seit eh und je auf dem Schlachtfeld gewonnen oder verloren.“3
Dem ist freilich nichts mehr hinzuzufügen.
Anmerkungen
1. Hüning, D./Klingner, S. (Hrsg.), … jenen süßen Traum träumen. Kants Friedensschrift zwischen objektiver
Geltung und Utopie. Nomos 2018.
2. Vgl. Silnizki, M., Wer ist schuld an der Fortsetzung des Krieges? Über die Friedensverhandlungen im
März/April 2022. 29. August 2023, www.ontopraxiologie.de.
3. Zitiert nach Silnizki, M., Die gescheiterte Kriegspolitik. Zwischen Desinformation, Panikmache und
Kriegsniederlage. 26. Oktober 2024, www.ontopraxiologie.de.