Verlag OntoPrax Berlin

Zwei Geheimdienstchefs

Zwischen Selbstbeweihräucherung und Selbstüberschätzung

Übersicht

1. Mythenbildung statt Analyse und Reflexion
2. Putins „Unentschlossenheit“ und der Nuklearwaffeneinsatz
3. Burns – als US-Diplomat und CIA-Chef

Anmerkungen

Die Geheimdienste sind alles Mögliche – nur nicht ein „Hort der Wahrheit“, wie
manche Zeitgenossen uns suggerieren. Ihre Aufgabe ist keine Wahrheitsfindung,
sondern Desinformation und Manipulation auch der öffentlichen Meinung.

1. Mythenbildung statt Analyse und Reflexion

Ein beispielloser gemeinsamer öffentlicher Auftritt fand in London am 7. September 2024 statt, dem ein ebenso ungewöhnlicher gemeinsamer Artikel vorausging. Der CIA-Direktor William J. Burns und der Chef des britischen Secret Intelligence Service (SIS), Richard Moore, veröffentlichten am 7. September 2024 einen Leitartikel „Intelligence Partnership helps the US and UK stay ahead in an uncertain world“ in Financial Times. Der US-Amerikaner und der Brite diskutierten anschließend am gleichen Tag beim FT Weekend Festival.

Die Diskussion erstreckte sich von Waffenstillstandsbemühungen im Gazastreifen über die geopolitische Herausforderung Chinas bis zur „russischen Bedrohung“ (Russian threat). „Im Herbst 2021 konnten wir beide und unsere Dienste gemeinsam glaubwürdige, frühzeitige und genaue Warnungen vor der bevorstehenden (russischen) Invasion geben. Das war zu dieser Zeit keine Kleinigkeit; denn fast alle anderen Geheimdienste auf der ganzen Welt dachten, dass es Putins Bluff von Putin sei“, beteuerte der CIA-Chef Burns selbstprahlerisch im Gespräch mit seinem Amtskollegen.

Dasselbe schrieben Burns und Moore in ihrem gemeinsamen Leitartikel für Financial Times:

„Heute kooperieren wir in einem umstrittenen internationalen System, in dem unsere beiden Länder einer beispiellosen Bandbreite an Bedrohungen ausgesetzt sind. CIA und SIS stehen zusammen im Widerstand gegen einen Angriffskrieg (war of aggression) Russlands und Putins in der Ukraine. Wir sahen ihn kommen und konnten die internationale Gemeinschaft warnen, sodass wir alle der Ukraine zur Hilfe eilen konnten. … Es ist heute wichtiger denn je, den Kurs beizubehalten. Putin wird es nicht gelingen, die Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine auszulöschen. Russlands Vorgehen ist ein eklatanter Verstoß gegen die UN-Charta und globale Normen.“

Wohl gemerkt: Nicht die USA und Großbritannien bedrohen die anderen Länder und Staaten, die sie im vergangenen Vierteljahrhundert mit zahlreichen Angriffskriegen überzogen haben, sondern sie würden laut Burns/Moore „einer beispiellosen Bandbreite an Bedrohungen ausgesetzt“ und stünden an der Spitzer von CIA und SIS in ihren „tapferen“ Kampf gegen einen Angriffskrieg (war of aggression) Putins in der Ukraine.

Die beiden Geheimdienstchefs haben freilich vergessen zu erwähnen, dass Russland nur das tut, was die USA und Great Britain selber jahrzehntelang praktiziert haben, indem sie (um nur ein Beispiel zu nennen) 2003 der Öffentlichkeit falsche Informationen zugespielt haben, um im Irak einen völkerrechtswidrigen „Angriffskrieg“ (war of aggression) auszulösen.

Und jetzt spielen sie sich als die Hüter und Verteidiger des Völkerrechts auf. Wie nett! Ihr Vorwurf an Putins Adresse: „Russlands Vorgehen ist ein eklatanter Verstoß gegen die UN-Charta und globale Normen“ kann daher auch als ein nachträgliches Eingeständnis der eigenen „Wars of Aggression“ gedeutet werden.

Burns/Moore verschweigen darüber hinaus noch eine „Kleinigkeit“: Russlands Invasion in die Ukraine ging ein massiver Aufmarsch der ukrainischen Streitkräfte seit dem Herbst 2021 an der Demarkationslinie voraus, die die verfeindeten ukrainischen Kriegsparteien laut Minsker Abkommen vom 12. Februar 2015 trennte.

Der erwähnte Aufmarsch war nicht nur ein klarer Verstoß gegen die Minsker Vereinbarungen, sondern er konnte auch nicht ohne die Billigung von CIA und SIS stattfinden, hat Wladimir Selenskyj doch bei seinem Staatsbesuch in London im Oktober 2020 als Staatsoberhaupt (!) das Hauptquartier eines fremden Geheimdienstes aufsuchte. Nach einem zweistündigen Treffen mit dem SIS-Chef trat Selenskyj vor die Presse und beteuerte: „Wir hatten ein Treffen im MI6-Büro. Leider kann ich nicht alle Informationen mitteilen. Das heißt, es handelt sich um Staatsangelegenheiten.“

Vor dem Hintergrund des Aufmarsches der ukrainischen Streitkräfte an der Demarkationslinie im darauffolgenden Jahr können wir uns denken, um welche „Staatsangelegenheiten“ es sich bei diesem Treffen handelte. Es war darum keine großartige Geheimdienstleistung, wie die beiden Geheimdienstler behaupten, Putins Invasion in die Ukraine vorauszusagen, sondern eher eine Wette darauf, wie Putin auf diesen gefährlichen, weil friedensgefährdenden Aufmarsch der Kiewer Zentralregierung reagieren würde.

Für die russische Führung gab es im Grunde nur eine Alternative: entweder die ostukrainischen Provinzen Donezk und Lugansk fallen zu lassen oder der Eroberung der Provinzen durch die Kiewer Zentralregierung mit einem Präventivschlag1 zuvorzukommen. Putin entschied sich bekanntlich für die letztere Alternative und löste damit einen langwierigen Krieg aus, der bis heute andauert.

Mit ihrer Behauptung: „Putin wird es nicht gelingen, die Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine auszulöschen,“ betreiben die beiden Geheimdienstler dazu noch eine gezielte Desinformation zur Irreführung der öffentlichen Meinung. Zu keiner Zeit hatte die russische Führung das Ziel, „die Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine auszulöschen“.

Das Gegenteil ist eher der Fall. Es waren die US-Geostrategen und die britische Regierung unter Boris Johnson, die die Friedensverhandlungen in März/April 2022 torpediert haben, um den ausgebrochenen Krieg in der Ukraine fortzusetzen.2

Burns, der in den Jahren 2005-2008 US-Botschafter in Moskau war, russisch spricht und die russische Führung unter Putin ganz gut kennt, brauchte seinerseits keine geheimdienstlichen Informationen, um sich über die Folgen des Aufmarsches im Klaren zu sein.

2. Putins „Unentschlossenheit“ und der Nuklearwaffeneinsatz

Bei einem im Aspen Institute Security Forum am 20. Juli 2023 stattgefundenen Kamingespräch mit der US-amerikanischen Radio- und Fernsehmoderatorin Mary Louise Kelly hat der CIA-Chef vor dem Hintergrund des Prigogine-Putschversuchs zwei auf Putin gemünzte und oft wiederholte Klischees bemüht, deren erste Botschaft an die russische Bevölkerung lautet: „>Mischen Sie sich nicht in die Politik ein<. Das ist mein Geschäft. Im Gegenzug biete ich Ihnen eine Steigerung Ihres Lebensstandards an und werde mich im Großen und Ganzen nicht in Ihr Privatleben einmischen.“

Und an die Adresse der „russischen Elite“ gerichtet, lautet die zweite Botschaft: „Sie unterstützen meine Politik. Im Gegenzug biete ich Ihnen Schutz vor externen Bedrohungen und Schutz voreinander.“ Nach dem gescheiterten Putschversuch, der lediglich 36 Stunden andauerte, zeigte sich jedoch laut Burns die „Schwächen von Putins System“ und er fügte zugleich hämisch hinzu: Viele Russen fragen nun: „Ist der König nackt?“

Daraufhin fällte Burns ein Urteil, das aufhorchen lässt: Für die russische Elite stellen sich die Fragen nach der „Richtigkeit von Putins Urteilen, seiner relativen Distanz zum Geschehen und seiner Unentschlossenheit“. „Unentschlossenheit“? Putins „Unentschlossenheit“! Das ist die Diagnose der Charakterschwäche Putins aus Sicht des CIA-Chefs als eines der prominentesten Repräsentanten der US-Macht- und Führungselite.

Die Diagnose hat eine immense militärpolitische Bedeutung, die die US-Eskalationsstrategie im Ukrainekrieg bestimmt und die Frage aufwirft: Wie weit können die USA mit ihrer immer exzessiver werdenden Eskalation gehen, um Putins „Unentschlossenheit“ nicht in ein entschlossenes Handeln verwandeln zu lassen.

Auf Kellys Frage, ob die Möglichkeit bestehe, dass in einem Kriegsgebiet Atomwaffen auftauchen, antwortet Burns:

„Derzeit sehen wir keine konkreten Vorbereitungen für einen möglichen Einsatz von Atomwaffen. Wir haben in einem Gespräch mit Sergej Naryschkin, einem meiner russischen Amtskollegen … unsere tiefe Besorgnis klar zum Ausdruck gebracht. … Das ist also etwas, was wir sicherlich sehr, sehr genau beobachten. Aber wie ich bereits gesagt habe, sehen wir keine unmittelbaren Anzeichen für Vorbereitungen für den Einsatz von Atomwaffen.“

Diese Äußerung machte der CIA-Chef am 20. Juli 2023. Im Gespräch mit seinem britischen Amtskollegen Richard Moore beteuert er aber am 7. September 2023 genau das Gegenteil von dem, was er ein Jahr zuvor sagte:

„Ich glaube, es gab im Herbst 2022 einen Moment, in dem ein echtes Risiko des möglichen Einsatzes taktischer Atomwaffen bestand. Ich habe jedoch nie gedacht – und das ist die Ansicht meiner Agentur –, dass wir uns dadurch unnötig einschüchtern lassen sollten. Putin ist ein Tyrann und er wird weiterhin von Zeit zu Zeit mit dem Säbel rasseln.“

Nichts ist an dieser Aussage nur annährend wahr. Deswegen brauchte Burns sich nicht „unnötig einschüchtern (zu) lassen“, weil es dazu keinen Anlass gab. Dass Burns sich nicht zu schade war, immer wieder gezielt gestreute Desinformation über einen angeblichen Einsatz der russischen Nuklearwaffen in der Ukraine zu eigen zu machen, spricht für sich. Der Einsatz der Nuklearwaffen in der Ukraine widerspricht nicht nur der russischen Nuklear-Doktrin, sondern auch Putins Überzeugung, dass Russen und Ukrainer ein Volk seien.

Wer wie Putin die Ukrainer für das eigene Volk hält, wird es doch nicht mit den eigenen Nuklearwaffen vernichten wollen. Das ist eine völlig abwegige Vorstellung! Falls es zum Einsatz der Nuklearwaffen kommen sollte, würden sie sich gegen die Nato-Staaten und nicht gegen die Ukraine richten. Die Geheimdienste sind – wie man sieht – nicht so sehr ein Hort der Wahrheit, wie man der Öffentlichkeit stets zu suggerieren sucht, als vielmehr wie seit eh und je ein Ort der Desinformation und Manipulation von Freund wie Feind.

Und man darf sich über Putins „Unentschlossenheit“ keine Illusionen machen. Wenn es um die vitalen Sicherheitsinteressen Russlands geht, wird die russische Führung zu allem entschlossen sein.

3. Burns – als US-Diplomat und CIA-Chef

In den Jahren 2005-2008 war Burns, wie gesagt, US-Botschafter in Moskau. Als die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine diskutiert wurde, schrieb Burns: „Der Nato-Beitritt der Ukraine würde für die russische Elite bedeuten, dass die roteste aller roten Linien überschritten wurde. … Russland wird darin einen zwingenden Grund sehen, auf der Krim und in der Ostukraine einzugreifen.“

Als US-Diplomat war Burns offenbar viel weiter in seinen Kenntnissen der russischen Geo- und Sicherheitspolitik, als es heute der Fall ist. Als CIA-Chef hat er seine eigene Warnung vergessen, wirft nunmehr Russland wider besseres Wissen vor, „die Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine auszulöschen“ und beschimpft Putin als einen „Tyrannen“, der „von Zeit zu Zeit mit dem Säbel rasselt“, obschon er e besser wissen sollte.

Nun ja, Macht korrumpiert, betäubt den Verstand und macht aus unsereinem einen Opportunisten. Was tut man nur nicht, um die nächste Stufe auf der Karriereleiter zu erklimmen.

Im Laufe seiner Karriere war Burns an vielen bedeutenden weltbewegenden Ereignissen beteiligt. Von The Atlantic als „geheime diplomatische Waffe“ der Vereinigten Staaten hochstilisiert, diente er dem US-Außenministerium unter fünf US-Präsidenten und zehn Außenministern. Er war an ​​der Operation Desert Storm (1991) ebenso, wie am Kosovo-Krieg (1999), an der Nato-Osterweiterung und an dem Atomabkommen mit dem Iran beteiligt.

Im Jahr 2013 wurde Burns von Foreign Policy zum Diplomaten des Jahres gekürt. Nach seinem Rücktritt im Februar 2015 leitete er das Carnegie Endowment for International Peace – eine Denkfabrik mit Zentren in Washington, Moskau, Beirut, Peking, Brüssel und Neu-Delhi.

Als erfahrener Diplomat, Außenpolitiker und Russlandkenner wusste er also ganz genau, dass die Nato-Expansion in der Ukraine Krieg bedeuten würde. Da war er mit George F. Kennan in einer guten Gesellschaft.3

Zum Schluss seines gemeinsamen Artikels mit dem SIS-Chef Richard Moore beteuert Burns: „Es ist keine Frage, dass die internationale Weltordnung (international world order) – das Balancesystem (the balanced system), das zu einem relativen Frieden, Stabilität und einem steigenden Lebensstandard geführt sowie Chancen und Wohlstand beschert hat – in einer Weise bedroht ist, wie wir sie seit dem Kalten Krieg nicht mehr erlebt haben.“

Das ist, gelinde gesagt, starker Tobak! Ausgerechnet einer, der eine derartige außenpolitische und Diplomatenkarriere machte und in den vergangenen dreißig Jahren unmittelbar am Aufbau der US-Hegemonie mit all ihren Angriffskriegen, Interventionen und Invasionen beteiligt war, beteuert unverfroren, dass die internationale Weltordnung – das Machtgleichgewichtssystem (the balanced system) heute „in einer Weise bedroht ist, wie wir seit dem Kalten Krieg nicht mehr erlebt haben.“

Dass die unipolare Weltordnung unter Führung des US-Hegemonen längst das Machtgleichgewicht in Europa zerstört und an dessen Stelle das Machtungleichgewicht als Ordnungsprinzip der europäischen Sicherheitsarchitektur4 etabliert hat, will der CIA-Chef genauso wenig wahrhaben, wie die Tatsache, dass es die Nato-Expansionspolitik war, die die entstandene Dysbalance5 in Europa weiter vertiefte und letztlich zum Krieg führte, vor dem Burns ja selber als US-Botschafter in Moskau gewarnt hat.

Als US-Botschafter war Burns mit seinen Erkenntnissen viel weiter als heute. Er wusste ganz genau, dass die Nato-Expansion in der Ukraine „die roteste aller roten Linien“ wäre und Russland sie nie zulassen würde. Dass er heute von seiner Warnung nichts mehr hören und wissen will, erklärt sich nicht nur mit seinem Opportunismus, sondern auch mit der Rolle eines führenden Repräsentanten des außenpolitischen US-Establishments und dem Unvermögen, die ordnungs- und machtpolitischen Umwälzungen seit dem Ende des Ost-West-Konflikts strukturell und substantiell zu begreifen und eine Wiederauferstehung Russlands wie Phönix aus der Asche, seine militärische Wiedererstarkung und seine Rückkehr auf die weltpolitische Bühne der Geschichte zu akzeptieren.

Die US-Geostrategen möchten heute auch deswegen eine „strategische Niederlage“ Russlands, weil sie immer noch von den „glorreichen“ 1990er-Jahren träumen,6 ohne begreifen zu wollen oder zu können, dass die 1990er-Jahre eine absolute Anomalie der russischen Geschichte waren, nicht mehr wiederholbar und allein dem Zusammenbruch des ideologisch, moralisch und ökonomisch abgewirtschafteten Sowjetsystems geschuldet sind.

Indem die transatlantischen Machteliten heute „Putins Russland“ mit dem Sowjetsystem 2.0 gleichsetzen, begehen sie geostrategisch einen fatalen und unverzeihlichen Fehler, weil sie die russische Gegenwart völlig verkennen, militärisch und ökonomisch unterschätzen und darüber hinaus Russland in ein allumfassendes Bündnis mit China treiben.

Diese geostrategische Blindheit zeigt sich ausgerechnet beim CIA-Chef, der es eigentlich besser wissen sollte, müsste er doch als 68-Jähriger die US-Geostrategie des „Kalten Krieges“ noch gut in Erinnerung haben.

Das Russland der 1990er-Jahre war viel zu schwach, um die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts neuformulierten geopolitischen Weichenstellungen der USA in Europa und Eurasien, die im Wesentlichen auf die Nato-Expansionspolitik und die sog. „Demokratieförderung“ fokussiert waren, verhindern zu können.

Infolge der entstandenen und immer noch fortdauernden Dysbalance – eines Machtungleichgewichts, das die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa bis heute prägt, ist genau das eingetreten, wovor Werner Link (1934-2023) bereits 1997 eindringlich warnte: „Dass Russland darin die Gefahr einer Hegemonie sieht, ist verständlich. Wenn die amerikanischen Befürchtungen, die von Huntington und anderen angesichts einer potentiellen europäischen Macht als real angesehen werden, muss dies erst recht für die russischen Befürchtungen gegenüber einer europäisch-amerikanischen Macht gelten … Anders als die europäisch-amerikanischen Beziehungen sind die Beziehungen des politischen Europas und der USA zu Russland eben nicht nur durch ökonomischen Wettbewerb (>geo-economics<), sondern auch durch machtpolitischen Wettbewerb (>geo-politics<) charakterisiert … Im Falle einer neuen akuten hegemonialen Bedrohung wäre die Entwicklung eines antagonistischen Gleichgewichtssystems wahrscheinlich.“7

Das „antagonistische Gleichgewichtssystem“ ist heute eine machtpolitische Realität in Europa und im globalen Raum, was der CIA-Chef und sein SIS-Amtskollege weigern zu akzeptieren. Stattdessen werfen sie in ihrem gemeinsamen Artikel für Financial Times vom 7. September 2024 den geopolitischen Rivalen China und Russland gezielt gesteuerte Desinformationskampagnen und die Gefährdung der globalen Stabilität vor, denen die CIA und SIS angeblich erfolgreich entgegenwirken.

Eine gleichzeitige Bekämpfung der beiden mächtigen geopolitischen Rivalen hat dazu geführt, dass China und Russland immer enger zusammenrücken und tiefgehende strategische Beziehungen zueinander aufbauen. Kissingers Strategie, wonach „Washington … immer viel bessere Beziehungen mit Moskau und Peking als Moskau und Peking untereinander haben (muss)“, wurde seit dem Ende des Ost-West-Konflikts anscheinend ad acta gelegt. Heute führen die USA gleichzeitig den Kampf an zwei Fronten gegen China und Russland und können dabei nur scheitern.

Vor dem Hintergrund einer sich rasant wandelnden Welt, der tektonischen Umwälzungen der globalen Machtverhältnisse, dem Aufstieg und der Wiedererstarkung der Groß- und Mittleren Mächte erscheint es aus heutiger Sicht ziemlich verwegen so zu tun, als wäre nichts passiert, um weiterhin auf die gescheiterte Geo- und Sicherheitspolitik zu setzen. Dass die angelsächsischen Geheimdienstchefs dieses Scheitern immer noch nicht akzeptieren, bezeugt ihr gemeinsames Auftreten in London.

Vielleicht sollten sie in die Geschichtsbücher schauen und ihre historischen Kenntnisse auffrischen, um zu begreifen, was der russische Außenminister Sergej Lawrow neulich in einer Pressekonferenz am 12. September 2024 sagte: „Мы прекрасно понимаем, что Запад назвал эту войну против России экзистенциальной. Цель нанести нам стратегическое поражение. …Такие же цели ставили перед собой и другие великие деятели истории международных отношений, в том числе Наполеон и Гитлер …“ (Wir verstehen sehr gut, dass der Westen diesen Krieg gegen Russland existenziell nannte. Das Ziel ist uns eine strategische Niederlage zuzufügen. … Solche Ziele setzten für sich auch die anderen bedeutenden Repräsentanten der Geschichte der internationalen Beziehungen, darunter Napoleon und Hitler …). Und wohin das geführt hat, ist hoffentlich auch den beiden Geheimdienstchefs nicht ganz verborgen geblieben.

Anmerkungen

1. Vgl. Silnizki, M., Der Ukrainekrieg als Präventivkrieg? Zwischen Existenzbedrohung und Nichteinmischung,
www.ontopraxiologie.de.
2. Näheres dazu Silnizki, M., Wer ist schuld an der Fortsetzung des Krieges? Über die Friedensverhandlungen
im März/April 2022. 29. August 2023, www.ontopraxiologie.de.
3. Näheres dazu Silnizki, M., George F. Kennan und die US-Russlandpolitik der 1990er-Jahre. Stellungnahme
zu Costigliolas „Kennan’s Warning on Ukraine. 7. Februar 2023, www.ontopraxiologie.de.
4. Silnizki, M., Machtungleichgewicht als Ordnungsprinzip? Zur Sicherheitskonstellation von
heute und morgen. 11. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
5. Silnizki, M., Posthegemoniale Dysbalance. Zwischen Hegemonie und Gleichgewicht. 31. Mai 2022,
www.ontopraxiologie.de.
6. Näheres dazu Silnizki, M., „The Washington Blob“ und der Ukrainekonflikt. Zwischen Euphorie und
Ernüchterung. 19. September 2023, www.ontopraxiologie.de.
7. Werner Link, Die europäische Neuordnung und das Machtgleichgewicht, in: Jäger, Th. u. a. (Hrsg.), Europa
2020. Szenarien politischer Entwicklungen. Opladen 1997, 29, 31.

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