Verlag OntoPrax Berlin

Kolonialpolitik als „Demokratieförderung“

Von der UN-Charta zur „regelbasierten Ordnung“

Übersicht

1. Kolonialpolitik – demokratisch verklärt
2. Menschenrechte als „Ermächtigungsnormen für internationale Gewaltanwendung“

Anmerkungen

„Bei der Bösartigkeit der menschlichen Natur … ist es doch zu
verwundern, dass das Wort Recht aus der Kriegspolitik noch
als pedantisch ganz hat verwiesen werden können.“
(Immanuel Kant)1

1. Kolonialpolitik – demokratisch verklärt

Es entbehrt nicht einer bitteren Ironie, dass ausgerechnet diejenigen, die Demokratie und Menschenrechte predigen, eben diese Demokratie und Menschenrechte stets untergraben. Wie soll man sonst die vom Westen seit den 1990er-Jahren praktizierte Politik zur Erzwingung von Demokratie und Menschenrechten mittels der sog. „humanitären Interventionen“ deuten? Im Namen von Demokratie, Menschenrechten und Frieden wurde infolge der „humanitären Interventionen“ hunderttausenden namenlosen Opfern das elementarste Menschenrecht – das Recht auf das Leben – genommen.

Wie Hohn klingt daher der Anspruch des Westens unter Führung des US-Hegemonen an jedem Ort und zu jeder Zeit die Freiheit zu verteidigen, den „ewigen Frieden“ zu gewährleisten, die Menschenrechte durchzusetzen und nicht zuletzt den Krieg mittels einer Demokratisierung der Welt ein für alle Mal zu besiegen.

Dass die Ausbreitung von Demokratie und Menschenrechten automatisch zur Beendigung von Kriegen und zur Errichtung des „ewigen Friedens“ führen wird, ist eine These, die in der westlichen Hemisphäre immer noch unwidersprochen herumgeistert. Die These geht von der irrigen Grundannahme aus, dass die Verfassungsform eines Staatswesens auch ihr Außenverhalten vorausbestimmt. „Die historischen Erfahrungen“ – stellte Herbert Dittgen bereits 1996 zutreffend fest – „sprechen eindeutig gegen eine solche Behauptung.“2

Das Ende aller Kriege findet erst mit dem Ende der Menschheit und nicht mit der Demokratisierung der Welt statt. „Only the dead have seen the end of war“ (Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen), behauptete George Santayana (1863-1953) einst in seinem Werk „Soliloquies in England and Later Soliloquies“ (1922).

In Ergänzung zu Santayanas Äußerung könnte man in Bezug auf das vergangene Vierteljahrhundert der sog. „humanitären Interventionen“ die These wagen, dass nur die Toten das Ende des „militanten Humanismus“ (Noam Chomsky)3 sehen würden, solange der US-Hegemon seine unipolare Weltordnung zu erzwingen bzw. aufrechtzuerhalten versucht.

Seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine bemüht sich der Westen, seine eigenen zahlreichen Kriege des vergangenen Vierteljahrhunderts unerwähnt zu lassen und Russland allein für die Gefährdung des Weltfriedens verantwortlich zu machen. Auch die eigene Mitverantwortung für das Zustandekommen des Ukrainekonflikts wird verschleiert und/oder heruntergespielt.

Der Westen setzt offenbar auf Vergesslichkeit und Desinteresse der Weltbevölkerung. Das ist aber eine Selbsttäuschung und eine gefährliche Illusion. Der Nichtwesten hat nichts vergessen und hat nichts zu vergeben und der beste Beweis dafür ist eine neutrale, wenn nicht gar freundliche Einstellung des sog. „Globalen Südens“ zu Russland trotz massiv geführter antirussischer Kriegspropaganda seitens der USA und ihrer Verbündeten.

Dass diese Kriegspropaganda keine Früchte trägt, zeigt beispielsweise ein Artikel von Tom O’Connor, den er bereits vor einem halben Jahr am 22. August 2023 in Newsweek besorgt mit dem Satz überschrieb: „A Growing BRICS Bloc Shows U.S. Is Losing the Battle for the Global South“ (Ein wachsender BRICS-Block zeigt, dass die USA den Kampf um den Globalen Süden verlieren).

Und das hat natürlich eine Vorgeschichte, die mit keiner Propaganda weg zu retuschieren ist. Seit gut dreißig Jahren schickt sich die einzig verbliebene und global agierende US-Supermacht an, ein Weltordnungssystem dergestalt aufzubauen, dass die extrem verschiedenen Verfassungsstrukturen, Rechts- und Lebenskulturen vereinheitlicht, uniformiert, homogenisiert und anschließend von einem einzigen hegemonialen Machzentrum geleitet werden.

Diese utopische Wahnvorstellung qualifizierte Ingeborg Maus bereits 2002 als den Versuch, einen „hegemonialen Weltstaat“ zu errichten.4 Der hegemonialen Weltstaatsidee liegen dabei allein die rechts- und verfassungshistorischen Entwicklungen im Westen zugrunde, die als Maßstab für die ganze Welt gelten sollten, wodurch die kulturellen und axiologischen Selbstverständnisse der anderen Länder und Völker zwangsläufig entwertet und abgewertet werden.

Vor diesem Hintergrund erscheint es völlig abwegig, die Staaten und Länder des Nichtwestens auf den einzig „wahren“ Entwicklungspfad des Westens drängen und ihnen Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte im westlichen Sinne aufoktroyieren zu wollen, zumal selbst die erwähnten Begriffe mit der Zeit einen inhaltlichen Wandel vollzogen haben.

Heute wird etwa mit dem Begriff Rechtsstaat ein Gewaltenteilungsmodell Montesquieus in Verbindung gebracht, das „aber nur Präsidialsystemen wie dem der USA zugrunde liegt“. Das steht wiederum im Wiederspruch zu der von John Locke und Kant begründeten „Logik eines parlamentarischen Gewaltenteilungsmodells“, das im Unterschied „zur US-amerikanischen Gleichrangigkeit der Staatsapparate mit der Legislative – die Unterordnung der Staatsapparate unter die Gesetzgebung vorzieht.“5

Selbst innerhalb der westlichen Rechtskulturen findet, wie man sieht, eine Homogenisierung und Vereinheitlichung des Rechtstaatsverständnisses trotz ganz anderen verfassungshistorischen Entwicklungen statt. Und diese Vereinheitlichung von Denken, Begriffen und Wertvorstellungen sucht der Westen auf den globalen Raum zu übertragen.

Carl Schmitt hat bereits Anfang der 1930er-Jahre eine vergleichbare Entwicklung beobachtet und als „ein Phänomen von weltgeschichtlicher Bedeutung“ charakterisiert. Es bestehe darin, „mit weiten Begriffen zu operieren und die Völker der Erde zu zwingen, sie zu respektieren“.

„Bei jenen entscheidenden politischen Begriffen kommt es“ – schreibt Schmitt weiter – „eben darauf an, wer sie interpretiert, definiert und anwendet; wer durch die konkrete Entscheidung sagt, was Frieden, was Abrüstung, was Intervention, was öffentliche Ordnung und Sicherheit ist. Es ist eine der wichtigsten Erscheinungen im rechtlichen und geistigen Leben der Menschheit überhaupt, dass derjenige, der wahre Macht hat, auch von sich aus Begriffe und Worte zu bestimmen vermag. … Der Imperialismus schafft sich selbst seine eigenen Begriffe, und ein falscher Normativismus und Formalismus führt nur dahin, dass am Ende niemand weiß, was Krieg und was Frieden ist.“6

Eine ähnliche Entwicklung haben wir auch heute dergestalt, dass die Begriffe wie Rechtsstaat und Demokratie „durch die Aufladung mit dominanten Werten substantialisiert und erst dadurch in einen quasi imperialen Forderungskatalog für den Rest der Welt verwandelt (wird)“7.

Der Zusammenhang von Rechtsstaat, Menschenrechten und Demokratie wird dadurch zerstört. Denn der Westen maß sich an, demokratische und rechtsstaatliche Standards für alle Völker und Länder zu setzen, die wiederum „als unmittelbare Derivate der internationalen Menschenrechtskataloge konstruiert werden.“8

Die Deutungshoheit und die Oberaufsicht über die Umsetzung dieser „internationalen Menschenrechtskataloge“ obliegt „selbstverständlich“ dem Westen unter alles überstrahlender und überragender Führung der US-Hegemonialmacht.

Diese Geisteshaltung ist die typische Haltung einer Hegemonialmacht, die glaubt, im Besitz der „reinen Lehre“ von Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten zu sein. Was für Kant laut Maus (ebd., 215 f.) selbstverständlich war, dass nämlich „eine Demokratie nicht gegen den Willen des Volkes eingeführt werden darf – ein Prinzip, das zum gegenwärtigen Zeitpunkt partielle Negationen westlicher Demokratie- und Menschenrechtsstandards ermöglichen kann -, ist damit von vornherein bestritten, ebenso wie das Recht auf unterschiedliche, selbstbestimmte Entwicklungspfade.“

Die Demokratie- und Menschenrechtsvorstellungen werden hier, anders formuliert, nicht von der Selbstgesetzgebung des Volkes bzw. einer demokratischen Selbstorganisation der Gesellschaft abgeleitet, sondern ausschließlich als „Derivate der internationalen Menschenrechtskataloge“ konstruiert, die im Sinne eines „imperialen Forderungskatalogs“ der Befolgung, Beachtung und Umsetzung westlicher Standards Rechnung tragen müssen.

Das ist aber keine demokratisch verfasste Gesellschaft eines selbstbestimmten und selbstregierten Wahlvolkes mehr, sondern nichts weiter als eine vom Westen orchestrierte und als „demokratisch“ verklärte Zwangsgemeinschaft der Unfreien und Ungleichen, deren Funktionieren – falls es nicht anders geht – durch Sanktionsregiment erzwungen und notfalls mittels militärischer Interventionen durchgesetzt wird.

Das ist nichts anderes als eine demokratisch und menschenrechtlich verklärte Kolonialpolitik einer Hegemonialmacht, die sich dazu befugt sieht, Demokratie- und Menschenrechtsstandards sowie die Spielregeln der internationalen Beziehungen ebenso, wie die als „universal“ postulierten Werthaltungen, der Weltgesellschaft ohne Rücksicht auf Volks- und Staatssouveränität oktroyieren zu dürfen.

„Ist aber Volkssouveränität als Prinzip der Allokation politischer Macht außer Kraft gesetzt, so kann es auch durch immer größere Inklusionen der Bevölkerung und selbst durch die Einführung direktdemokratischer Verfahren … nicht mehr restauriert werden.“9

Die unipolare Weltordnung führt, so gesehen, nicht zur Demokratisierung der Welt, sondern ganz im Gegenteil zur Zerstörung einer demokratischen Selbstorganisation der Gesellschaft durch die Oktroyierung der „internationalen Demokratie- und Menschenrechtsstandards“ der global agierenden Zentralinstanzen.

2. Menschenrechte als „Ermächtigungsnormen für internationale Gewaltanwendung“

Die unipolare Weltordnung hat eine einzigartige Entwicklung ausgelöst. Sie hat möglich gemacht, dass auf der globalen Ebene der Selbstermächtigung der US-Hegemonialmacht zur Durchsetzung von Demokratie- und Menschenrechtsstandards überhaupt keine Grenzen gesetzt werden.

Werden die militärischen Interventionen zur Erzwingung von Menschenrechten eingesetzt, ohne dass die Bevölkerungen der betroffenen Länder gefragt werden, „ob die Verteidigung ihrer Rechte ihnen den Einsatz ihres Lebens wert ist“ oder „ob ihr Verständnis von Menschenrechten mit dem der intervenierenden Mächte übereinstimmt“, dann werden Menschenrechte als Feigenblatt zwecks Durchsetzung ganz anderer, geopolitischer Interessen instrumentalisiert.

Abgelöst „von ihrem demokratischen Kontext werden hier Menschenrechte von ursprünglichen Abwehrrechten gegen den Staat zu Ermächtigungsnormen für internationale Gewaltanwendung pervertiert“. Diese „Isolierung der Menschenrechte gegen ihren demokratischen Kontext“ steht dabei „im Widerspruch zur UN-Charta.“10

Analog zu dem durch die universal postulierten „Menschenrechtskatalogen“ ausgehöhlten innerstaatlichen demokratischen Verfahren vollzog sich seit dem Ende der 1990er-Jahre ein geopolitisch induzierter Bruch der entstandenen unipolaren Weltordnung mit der UN-Charta, der „die Enttabuisierung des Militärischen“ (Lothar Brock) zur Voraussetzung hatte.

Was ist passiert? Mit dem Kosovo-Krieg etablierte der US-Hegemon eine hegemoniale Interventionspraxis unter Umgehung der UN-Charta und machte die vom Völkerrecht geächteten Angriffskriege wieder salonfähig. Die UN-Nachkriegsordnung wurde damit zu Grabe getragen, indem das höchste Prinzip der UN-Charta, die kollektive Friedenssicherung, de facto auf die Friedensschaffung durch die vom US-Hegemon dominierte unipolare Ordnung überging.

Die Folgen dieser Transformation des Systems der kollektiven Friedenssicherung der UN-Charta in das System der US-amerikanischen „Friedensschaffung“ waren bekanntlich zahlreiche militärische Interventionen und Invasionen in Afghanistan, Irak, Libyen, Jemen, Somalia, Syrien und nicht zuletzt ein fortwährender Drohnenkrieg überall und zu jeder Zeit im vergangenen Vierteljahrhundert.

Der Übergang von der kollektiven Friedenssicherung zur selbstermächtigenden Friedensschaffung mittels der menschenrechtsbasierten militärischen Interventionen setzte sich „über das Prozedere der UN-Charta explizit“ hinweg.11

Das führte aber nicht nur zu einer interventionsgerechten Umdeutung der UN-Charta und letztendlich zur Vernichtung ihrer Verfahrensregeln, sondern auch zur Entstehung der sog. „regelbasierten Ordnung“ des US-Hegemonen12, die seitdem neben und oft gegen die UN-Völkerrechtsordnung besteht.

Diese verfahrensrechtliche Entwertung der UN-Charta und die damit eingehende Infragestellung des UN-Sicherheitsrates als Organ der kollektiven Sicherheit konstituieren zwei neben- und gegeneinander bestehende Ordnungsstrukturen, die nichts miteinander gemein haben.

Dass dadurch der Weltfrieden gefährdet und die Konfrontation der Großmächte erhöht wird, versteht sich wohl von selbst. Die „regelbasierte Ordnung“ verträgt sich genauso wenig mit der UN-Völkerrechtsordnung wie die militärischen US-Interventionen mit der Idee der kollektiven Sicherheit.

Die „regelbasierte Ordnung“ geht Hand in Hand mit der Zerstörung der Volks- und Staatssouveränität, die durch die universalisierten „Menschenrechtskataloge“ und Demokratiestandards substituiert werden.

Die UN-Charta spricht von der „souveränen Gleichheit“ aller Mitgliedsstaaten (Art. 2.1) und enthält das Verbot, gegen die politische Unabhängigkeit eines Staates mit Gewalt vorzugehen (Art. 2.4). Die militärischen Interventionen sind nach Kap. VII der UN-Charta nur zulässig, wenn zwischenstaatliche Angriffshandlungen vorliegen.

Nun ist aber die Staatssouveränität nur die Außenschale der Volkssouveränität, sodass „Beziehungen zwischen den Nationen“ in der UN-Charta aus dem Prinzip der „Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker“ abgeleitet werden (Art. 1.2).

Dieser Zusammenhang zwischen Staatssouveränität und Volkssouveränität erklärt, „warum die UN-Charta nirgends eine Ermächtigung ausspricht, die Menschenrechte zu erzwingen … Die Charta enthält noch die Überzeugung, dass der Friede die Voraussetzung dafür schafft, dass Menschenrechte eingehalten werden können, während die permanente militärische Bedrohung zwischen Staaten für die innerstaatliche Entfaltung von Menschenrechten kaum Spielraum lässt. Das Prinzip der UN-Charta besteht also darin, Menschenrechte durch Frieden zu ermöglichen“, wohingegen die sog. „humanitäre Intervention“ dem Prinzip folgt: „Menschenrechte durch Krieg“ zu gewähren.13

Mit anderen Worten: Während die UN-Charta hohe Menschenrechts- und Demokratiestandards errichtet, zugleich aber deren unverzügliche Durchsetzung von der Beachtung der Staatsouveränität abhängig macht, beseitigt „die regelbasierte Ordnung“ den Zusammenhang zwischen Volks- und Staatssouveränität, was dazu führt, dass eine mittels der militärischen Interventionen erzwungene bzw. oktroyierte „Demokratie“ keine Demokratie mehr ist, weil deren Legitimation nicht vom angegriffenen Volk, sondern von der intervenierten Macht ausgeht.

Damit verletzt „die regelbasierte Ordnung“ zwei fundamentale Prinzipien der UN-Charta. Das eine hat Maus (ebd., 222) in Anlehnung an Kants „Erlaubnisgesetz“ formuliert, das da lautet: Schlechte gesellschaftliche Institutionen, Rechtszustände und politische Verfassungen seien so lange zu dulden, „wie sie ohne Gefahr des Rückfalls in einen barbarischen (das heißt völlig rechts- und verfassungslosen) >Naturzustand< noch nicht verändert werden können“.

Dieses Prinzip der Nichtintervention bedeutet, „dass selbst eine Volkssouveränität, die real existierenden Staaten bloß kontrafaktisch zugeschrieben wird, für äußere Mächte unantastbar ist“. Es korreliert mit dem zweiten ebenbürtigen Grundsatz, dass auch eine schlechte Verfassung besser ist als gar keine.

Insbesondere dieses zweite Prinzip hat sich realpolitisch in Zeiten des „Kalten Krieges“ bewährt, als die Nixon-Administration die Entspannungspolitik einleitete. Sie ging von einem realpolitischen und ideologiefreien Grundgedanken aus, dass die Verfassungsordnung der Supermächte als legitim erachtet und deren Existenz getreu dem Motto anerkannt wird: „Nicht der Kommunismus, sondern die internationale Anarchie sei die größte Gefahr.“14

Dass selbst eine schlechte Verfassung besser ist als gar keine, lässt sich nach Maus (ebd., 223 f.) an den Folgen der Eingriffe intervenierenden Mächte „in innere >Angelegenheiten< souveräner Staaten leicht demonstrieren. So stellte die – unter deutscher Vorreiterrolle durchgesetzte – äußere Ermutigung und offizielle Anerkennung separatistischer Bestrebungen im Inneren Jugoslawiens die dort bestehende bundesstaatliche Verfassung ganz grundsätzlich in Frage und ebnete damit den Weg in den von Kant so genannten rechts- und verfassungslosen >Naturzustand< einer Serie von Bürgerkriegen. Diese Folge einer verantwortungslosen Anerkennungspolitik diente wiederum der Rechtfertigung militärischer Interventionen durch die Brandstifter des jugoslawischen Kriegszustands.“

Dass die Interventionen in die inneren Angelegenheiten meistens keine Förderung von Demokratie und Menschenrechten bezwecken, sondern vielmehr geopolitischen und geoökonomischen Interessen dienen, zeigen zahlreiche durch den Westen errichteten Militärdiktaturen zu Zeiten des „Kalten Krieges“.

Dass die Demokratie- und Menschenrechtsrhetorik zudem nicht nur geopolitische Machtinteresse verschleiert, sondern auch jede x-beliebige Menschenrechte verletzende Kriegshandlung skandalisiert und gleich zum „Völkermord“ stilisiert, wird in der seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine tobenden Kriegspropaganda deutlich.

Diese Kriegspropaganda verfolgt einen doppelten Zweck: den geopolitischen Rivalen zu entmenschlichen und die westlichen Kriegsverbrechen der vergangenen Jahrzehnte vergessen zu lassen.

Der seit dem Ende des Ost-West-Konflikts immer noch ungebrochen fortdauernde westliche Triumphalismus, der zu der „Enttabuisierung des Militärischen“, den zahlreichen militärischen Interventionen und Invasionen im vergangenen Vierteljahrhundert (1999-2021) und zu einer dramatischen Depravierung des Weltfriedens geführt hat, hat die UN-Charta macht- und sicherheitspolitisch „enthauptet“.

Dabei wird der Anspruch erhoben, dass allein die die Nato als die Gemeinschaft demokratischer Staaten repräsentierende „regelbasierte Ordnung“ befugt ist, weltweit über Krieg und Frieden zu entscheiden.15

Die Substituierung der von der UN-Charta proklamierten kollektiven Friedenssicherung durch die von der „regelbasierten Ordnung“ praktizierte „Friedensschaffung“ blieb freilich nicht widerspruchslos.

Es sind die Gegenmächte – zuallererst China und Russland – entstanden, die sich in ihrer Sicherheit bedroht fühlen und nicht im Traum daran denken, dem Westen seinen illegitimen, weil die UN-Charta nivellierenden Machtanspruch auf das weltweite Gewaltmonopol gewähren zu lassen. Und der Ukrainekrieg ist der beste Beweis dafür.

Denn die zahlreichen Zerstörungsversuche der Volks- und Staatssouveränität durch die Oktroyierung der universalisierten „Menschenrechtskataloge“ und „Demokratiestandards“ riefen die Gegenmächte auf den Plan, die sich gegen die als „Demokratieförderung“ verklärte Kolonialpolitik, die ihre vitalen geo- und sicherheitspolitischen Interessen verletzt, zur Wehr zu setzen wissen.

Anmerkungen

1. Kant, Zum ewigen Frieden, Akademieausgabe Bd. VIII (1912), 355.
2. Dittgen, H., Das Dilemma der amerikanischen Außenpolitik: Auf der Suche nach einer neuen
Strategie, in: Dittgen, H./Minkenberg, M. (Hrsg.), Das amerikanische Dilemma. Die Vereinigten
Staaten nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Paderborn 1996, 291-317 (296 f.).
3. Chomsky, N., The New Military Humanism: Lessens from Kosovo. 1999.
4. Maus, I., Wieviel Homogenität der Rechtskulturen kann weltweit gefordert werden? In: ders.,
Menschenrechte, Demokratie und Frieden. Perspektiven globaler Organisation. Berlin 2015,
210-226 (210).
5. Maus (wie Anm. 4), 213 f.
6. Schmitt, C., Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus (1932), in: ders., Positionen und
Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923-1939. Berlin 1988, 162-180 (179).
7. Maus (wie Anm. 4), 213.
8. Maus (wie Anm. 4), 215.
9. Maus, I., Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie. Berlin 2011, 372.
10. Maus (wie Anm. 4), 218 f.
11. Maus (wie Anm. 4), 219.
12. Näheres dazu Silnizki, M., Die „regelbasierte Ordnung“ und der „Globale Süden“. Zur Frage der
nichtwestlichen Perzeption des Ukrainekonflikts. 13. März 2023, www.ontopraxiologie.de.
13. Maus (wie Anm. 5), 220 f.
14. Junker, D., Power and Mission. Was Amerika antreibt. Freiburg 2003, 108.
15. Vgl. Müller, H., Die Arroganz der Demokratien. Der „Demokratische Frieden“ und sein bleibendes Rätsel,
in: Wissenschaft & Frieden 2 (2003).

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