Verlag OntoPrax Berlin

Geopolitik und Völkerrecht

Über die Geopolitisierung des Völkerrechts

Übersicht

1. UN-Völkerrecht und US-Hegemonialrecht
2. Geopolitische Instrumentalisierung des Völkerrechts
3. Geopolitische Dysfunktionalität des Völkerrechts und das Annexionsverbot

Anmerkungen

„Es ist nicht denkbar, dass eine Großmacht … sich juristisch auf einen Codex
von festen Normen und Begriffen festlegt, die ein außenstehender
Fremde gegen sie selber handhaben dürfte.“
(Carl Schmitt)1

1. UN-Völkerrecht und US-Hegemonialrecht

Am 8. August 2016 gab Mike Morell (ehem. stellvertretender CIA-Direktor) Charlie Rose (US-Fernsehmoderator) ein Interview. In diesem Interview nahm Morell Stellung zu den Ereignissen im Irak und in Syrien, in dem er u. a. folgendes sagte: „When we were in Iraq, the Iranians were giving weapons to the Shia militia, who were killing American soldiers, right? The Iranians were making us pay a price. We need to make the Iranians pay a price in Syria. We need to make the Russians pay a price“ (Als wir im Irak waren, gaben die Iraner den schiitischen Milizen Waffen, die amerikanische Soldaten töteten, nicht wahr? Die Iraner ließen uns einen Preis zahlen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Iraner in Syrien einen Preis zahlen. Wir müssen die Russen einen Preis zahlen lassen.“

Charlie Roses Nachfrage: „We make them pay the price by killing, killing Russians? and killing Iranians?“ (Lassen wir sie den Preis zahlen, indem wir Russen und Iraner töten?) bejahte Morell und fügte hinzu: „Yes. Covertly. You don’t tell the world about it. You don’t stand up at the Pentagon and say, „We did this.“ But you make sure they know it in Moscow and Tehran“ (Ja, und zwar heimlich. Du erzählst ja der Welt nichts davon. Sie stehen nicht vor dem Pentagon und sagen: >Wir haben das getan<. Sie stellen aber sicher, dass sie es in Moskau und Teheran wissen).

Heißt das im Umkehrschluss: Russen dürfen auch klammheimlich die EU-Europäer und die US-Amerikaner „töten“? Schließlich liefern diese in die Ukraine tonnenweise Waffen, um Russen zu töten. Die Frage ist nicht nur rhetorisch gemeint, sondern auch sicherheitspolitisch und nicht zuletzt völkerrechtlich brisant. Denn das, was der Westen mit seinen Waffenlieferungen und der Kriegsfinanzierung der Ukraine tut, provoziert tendenziell früher oder später eine harsche Gegenreaktion der russischen Seite mit unabsehbaren Folgen für die europäische und globale Sicherheits- und Friedensordnung.

Nun wird diese Sorge um einen europäischen und Weltfrieden von den transatlantischen Hardlinern mit zwei Gegenargumenten zu entkräften versucht. Zum einen wird die Gefahr einer unmittelbaren Konfrontation zwischen Russland und der Nato mit Hinweis auf die „Unbesiegbarkeit“ der Nato verharmlost und zugleich suggeriert, dass Russland sich gar nicht trauen würde, die „allmächtige“ Nato anzugreifen. Das bisherige Verhalten Russlands untermauere angeblich diese Vermutung.

Dem ist zu entgegnen: Was noch nicht war, kann es ja noch werden, zumal Russland sich von seiner Warte noch nicht genug existentiell bedroht fühlt, um viel aggressiver aufzutreten und sich dementsprechend zur Wehr zu setzen. Diese Zurückhaltung darf darum nicht mit einer vermeintlichen „Schwäche“ Russlands verwechselt werden.

Zum anderen rechtfertigt der Westen seine Waffenlieferungen in die Ukraine stets mit Verweis auf das Völkerrecht. Sieht man davon ab, dass jedes Recht, auch das Völkerrecht, interpretierbar ist und nicht nur eine einzige Deutungsmöglichkeit zulässt, würde sich der Westen selber ja mit Sicherheit darüber empören, würden Russen als Reaktion darauf, dass die russischen Soldaten mit Nato-Waffen getötet werden, getreu Morells Logik ihrerseits beginnen, die EU-Europäer und die US-Amerikaner „einen Preis“ zahlen zu lassen.

In diesem Falle kann sich die völkerrechtliche Rechtfertigung der Waffenlieferung und Kriegsfinanzierung der Ukraine sehr schnell als sicherheitspolitischen Bumerang erweisen. Es stellt sich zudem die Frage, ob man sich in Kriegszeiten kaltschnäuzig allein auf das Völkerrecht berufen kann, ohne die geo- und sicherheitspolitischen Erwägungen zu beachten.

Im nuklearen Zeitalter ist ein Spiel mit Millionen von Menschenleben ein verantwortungsloses Abenteuer – erst recht, wenn es sich um eine direkte geopolitische (zum Glück noch nicht militärische) Konfrontation der Groß- und Nuklearmächte handelt. Morells Äußerung zeigt freilich, wie wenig sich die US-Machteliten selber um das Völkerrecht scheren, sobald es um die eigenen geo- und sicherheitspolitischen Machtinteressen geht.

Und hier stellt sich eine grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis des US-Hegemonen zum UN-Völkerrecht nach dem Ende der bipolaren Weltordnung. Bereits kurz nach dem Kriegsausbruch im Irak beobachtete Nico Krisch 2004 eine sich seit Langem angebahnte Entwicklung, dass nämlich die USA seit dem Ende der 1990er-Jahre „zunehmend als rechtloser Hegemon (erscheinen), der sich vom Völkerrecht zurückzieht und es bricht, wann immer es ihn stört.“2

Aus historischer Perspektive gäbe es zwar seitens eines jeden Hegemonen schon immer Versuche, „das Völkerecht zu nutzen, um es umzugestalten, um dauerhaft eine Ordnung nach hegemonialen Vorstellungen zu errichten“ (ebd.). Ein Hegemon werde aber – in den Worten Heinrich Triepels – immer „bestrebt sein, seine Führerschaft durch irgendeine rechtliche Ordnung bestätigt oder gefestigt zu sehen“.3

Dies vorausgeschickt, diagnostizierte Krisch (ebd., 268) „eine Transformation des Völkerrechts von einer pluralistischen in eine liberale Ordnung“, worunter er „die Etablierung neuer Formen internationaler Herrschaft durch die sie tragenden Staaten … die USA und Europa“ verstand. Diese Transformation setze „nicht nur die inhaltlichen Vorstellungen des Hegemonen um, sondern schafft auch rechtliche Strukturen zur Ausbildung politischer Dominanz“.

Diese seit dem Ende der 1990er-Jahre zu beobachtende Entwicklung nannte er zustimmend das „konstruktive Element des völkerrechtlichen Wandels unter amerikanischer Hegemonie“. Was Krisch hier 2004 zutreffend reflektierte, war die Entstehung und Ausbildung dessen, was die Transatlantiker heute zwei Jahrzehnte später „die regelbasierte Ordnung“ nennen.

Krisch hat freilich die abgezeichnete Entwicklung mit Vorstellungen und Begriffen umschrieben, die zwar Anfang des 21. Jahrhunderts durchaus noch vertretbar erscheinen mögen. Die Erfahrung der nachfolgenden zwanzig Jahre haben uns aber belehrt, dass sie nicht unproblematisch sind. Denn es fand nicht so sehr „eine Transformation des Völkerrechts … in eine liberale Ordnung“ statt, als vielmehr eine Transformation der bipolaren Welt des „Kalten Krieges“ in eine unipolare Weltordnung unter Führung des US-Hegemonen, wodurch das UN-Völkerrecht der Nachkriegszeit teils entmachtet, teils in ein US-Hegemonialrecht transformiert wurde.

Das bedeutet aber zugleich, dass von einer „liberalen Ordnung“ keine Rede sein kann. Liberalität und Hegemonie können per definitionem keine Synonyme sein, sodass auch der oft äquivok gebrauchte und missbrauchte Ausdruck >liberale Hegemonie< Contradictio in adjecto ist.

Der Aufstieg der USA zum weltweiten Hegemonen nach dem Ende des „Kalten Krieges“ führte dazu, dass die einzig verbliebene Supermacht allmählich das Gewaltmonopol der UN-Charta als anachronistisch ansah und das geltende Völkerrecht zunehmend als „eine lästige Begrenzung, die es zu beseitigen gilt“, betrachtete.

An einer Äußerung von John Bolton kann man diese Stimmung gegen das UN-Völkerrecht in den USA ablesen. Der allbekannte Hardliner, der um die Jahrhundertwende der Unterstaatssekretär im US-Außenministerium und 2005/06 der US-Botschafter in den Vereinten Nationen war, stritt dem Völkerrecht vehement seine Rechtsqualität ab und behauptete, „dass es keinerlei Verbindlichkeit besitze und dass es ohnehin hauptsächlich dazu diene, die USA bei der Verfolgung ihrer Ziele zu behindern.“4

Diese rechts- und außenpolitische Grundeinstellung zum UN-Völkerrecht hat sich bereits zurzeit der Präsidentschaft Bill Clintons abgezeichnet. Schon in den 1990er-Jahre verfuhr die Clinton-Administration nach dem Motto: „multilateral handeln, wenn möglich, unilateral, wenn nötig.“ Im Ergebnis lief die US-Außenpolitik darauf hinaus, „entweder völkerrechtliche Normen nach eigenen Vorstellungen zu erzielen oder sich aus den Verhandlungen zurückzuziehen.“5

Die Ereignisse rund um 9/11 haben diese Entwicklung verschärft und beschleunigt. Die US-Außenpolitik ging von der Herstellung der eigenen Sicherheit zu einer aktiven Umgestaltung der Weltordnung auf Grundlage von „Demokratie und Menschenrechten“ über, worüber sich die sog. „liberalen Internationalisten“ und die Neocon-Bewegung einig waren.

Dass das Völkerrecht davon nicht unverschont geblieben ist, versteht sich von selbst. Vor allem eine zunehmende Kopplung von Souveränitätsbegriff mit Demokratie und Menschenrechten, hat das UN-Völkerrecht insofern erschüttert, als der Versuch unternommen wurde, es von axiologischen Vorgaben ableiten zu lassen.

Bereits 1990 vertrat der US-amerikanische Rechtswissenschaftler, Michael Reisman, die Auffassung, dass die Staaten, die Menschenrechte missachteten, „teilweise ihren völkerrechtlichen Schutz verlieren könnten“. Dieses völkerrechtliche Postulat gipfelte sodann in der Formulierung vom deutsch-österreichischen Völkerrechtler, Bruno Simma, aus dem Jahr 1994, dass „Respekt für gewisse grundlegende Werte nicht der freien Disposition der Staateninteressen überlassen, sondern vom Völkerecht als Angelegenheit aller Staaten anerkannt und sanktioniert wird.“6

Was in den 1990er-Jahren noch als eine liberale Transformation der Weltordnung und eine liberale Fortbildung des Völkerrechts erscheinen mag, entpuppte sich – sieht man von der sog. „humanitären Intervention“ in der Volksrepublik Jugoslawien 1999 ab – spätestens nach dem 9/11 und erst recht mit der Irakinvasion als eine Entwicklung und Ausbildung der unipolaren Welt, welche das Gewaltmonopol der UN-Völkerrechtsgemeinschaft unter Vorbehalt des US-Hegemonialrechts stellt und damit die UN-Charta in ihrem Fundament de facto außer Kraft setzt.

Der Einbruch der Axiologie in das Völkerrecht hat es nicht liberalisiert, sondern ganz im Gegenteil brutalisiert und entliberalisiert. Die Folge der de facto Substituierung des völkerrechtlichen Gewaltmonopols durch ein hegemonial fundiertes Interventionsrecht ist nach Krischs Meinung „die Betonung nicht-egalitärer Rechtschöpfungsprozesse gegenüber klassischen, auf Gleichheit der Staaten ausgerichteten Formen“ (ebd., 285).

Diese Entwicklung rechtfertigt er mit „liberalen Vorstellungen, indem kosmopolitischen und demokratischen Herrschaftsstrukturen größeres Gewicht eingeräumt wird“ (ebd., 285 f.). Was hier als „liberale Vorstellungen“ und „größeres Gewicht“ demokratischer „Herrschaftsstrukturen“ verklärt wird, bildet in Wahrheit die tatsächlichen geopolitischen Machtverhältnisse ab, die infolge des Untergangs der Sowjetunion entstanden sind und dem Westen unter Führung des US-Hegemonen ermöglicht haben, seine Weltmachtstellung in eine völkerrechtliche Rechtsfortbildung nach eigenem Ermessen umzumünzen.

Darum stellt Krisch zutreffend und zustimmend zugleich fest, ohne freilich die geopolitische Dimension des westlichen Machtzuwachses zu reflektieren: „Die Durchsetzung und Stabilisierung einer neuen, liberalen Völkerrechtsordnung ist demgegenüber sehr viel leichter in Formen, die den diesen Prozess tragenden Staaten schon formell größeren Einfluss einräumen“ (ebd., 287).

Diese Weltordnung ist allerdings keine „liberale“, sondern eine hegemoniale Ordnung, die das UN -Völkerrecht durch ein US-Hegemonialrecht substituiert. Darum missdeutet Krisch die ganze Entwicklung als „liberal“, wenn er in der „Liberalisierung des Völkerrechts“ die „Ermöglichung von Herrschaft“ ansieht, „stärkere Formen der Unterscheidung zwischen Staaten“ vorzunehmen, um „die Gleichheit der Staaten durch die zunehmende Betonung liberaler Staatsformen und Herausdrängen einzelner Staaten aus der >zivilisierten< Welt in Frage“ zu stellen (ebd., 289 f.).

Diese Unterscheidung ist aber nichts anderes als die „altehrwürdige“ Differenzierung des Ius Commune Europaeum zwischen „zivilisierten“, „halbzivilisierten“ und „unzivilisierten“ Völkern. In die Sprache des „liberalen“ Völkerrechts übersetzt, dürfte das wohl heißen: Die völkerrechtliche Deutungshoheit und die Schaffung neuer Spielregeln der internationalen Beziehungen obliege ausschließlich dem Hegemonialsystem der zivilisierten „Gemeinschaft wohlgeordneter Völker“,7 das allein befugt sei, die „Herrschaft über Untertanenrassen“ (Lord Cromer) auszuüben. Oder in der Terminologie der amerikanischen Neocons formuliert: Die unzivilisierten „Rogue States“ benötigen Zwangsmaßnahmen seitens der „liberalen Demokratien“ zur Durchsetzung der von ihnen festgeschnürten „universellen Standards“.

Die sog. „universellen Standards“ ermöglichen dem US-Hegemon das geltende Völkerrecht zu instrumentalisieren, geopolitisch nach Belieben deuten zu können und gegen einen geopolitischen Rivalen beliebig anzuwenden.

2. Geopolitische Instrumentalisierung des Völkerrechts

Dass das Völkerrecht längst geopolitisiert wird, ist heute eine Binsenwahrheit. Es ist deswegen kein Zufall, dass sich der Westen erst dann auf das Völkerrecht beruft, wenn entweder seine unmittelbaren geopolitischen Machtinteressen betroffen werden oder es um dessen unterstellten Bruch seitens des geopolitischen Rivalen geht.

Sehr schnell wird dann die Keule der völkerrechtlichen Legalität aus der geopolitischen Schublade genommen und mit ganzer Wucht der verbalen Gewalt auf den geopolitischen Rivalen eingedroschen. Was dann völkerrechtlich als „illegal“ proklamiert wird, hat primär einen geopolitischen Hintergrund. Das Verhältnis von Völkerrecht und Geopolitik ist im gegenwärtigen weltpolitischen Umfeld entscheidend durch die Priorisierung der Geopolitik geprägt.

Darunter ist ein Prozess zu verstehen, in dem das Völkerrecht durch geopolitische Zielvorgaben gedeutet und kraft machtpolitisch induzierter Interpretation zum Be- und Verurteilungskriterium herangezogen wird. Was dann für völkerrechtlich (geboten) erklärt wird, wird geopolitisch entschieden.

Zwar steht die Außenpolitik stets unter dem völkerrechtlichen Rechtfertigungszwang. Die Lösung dieses Dauerproblems liegt aber – folgt man der geopolitischen Logik – nicht in der Bindung der Geopolitik an das Völkerrecht, sondern in der Umdeutung des Völkerrechts im Sinne der geopolitischen Opportunität.

Die Forderung nach der Beachtung des Völkerrechts hat zur Voraussetzung, dass diejenigen, die diese Forderung stellen, sie selbst auch befolgen. Freilich verschleiert diese Forderung die seit Jahren stattfindende Geopolitisierung des Völkerrechts. Sie dient zunehmend dazu, den geo- und sicherheitspolitischen Status quo in Europa nicht nur zu perpetuieren und den geopolitischen Rivalen zu delegitimieren, sondern auch als Waffe im Informationskrieg zu instrumentalisieren.

Geht die westliche bzw. US-Geopolitik davon aus, dass die innerwestliche Liberalität das staatenzentrierte Völkerrecht präjudiziert, so beruht das russische Verständnis vom Völkerrecht auf der Vorstellung vom absoluten Souveränitätsrecht, das jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines jeden Staates verbietet (Nichteinmischungsprinzip).

Das geopolitisierte Völkerrecht opponiert gegen die im westlichen Sinne verstandenen „illiberalen“, innerstaatlichen Machtstrukturen, die zwar als legal, aber eben nicht als legitim angesehen werden, um sie dann im Namen der Menschenrechte zu delegitimieren.

Das Völkerrecht des 21. Jahrhunderts wurde einerseits zum ideologischen Vehikel der westlichen bzw. US-Außenpolitik und andererseits zur russischen Begründung des absoluten Souveränitätsbegriffs. Damit sind zwei völlig konträre Intentionen in der teleologischen Deutung und Auslegung des Völkerrechts klar gekennzeichnet.

An Stelle der ideologischen Systemkonfrontation der Nachkriegszeit ist heute eine geopolitische Rivalität getreten. Dem nach dem Ende des „Kalten Krieges“ übriggebliebenen westlichen Machtblock unter US-Führung stehen zwei Groß- und Nuklearmächte Russland und China gegenüber. Der westliche Machtblock versucht krankhaft seine langwierige Weltdominanz ungeachtet des nicht mehr aufzuhaltenden Machtverlustes im globalen Raum aufrechtzuerhalten, wohingegen Russland seinen zentralgesteuerten Machtraum axiologisch nach innen und kontinentalmachtstrategisch nach außen8 zu verteidigen gewillt ist.

Sucht der Westen das Völkerrecht zum überstaatlichen, menschenrechtlich fundierten Interventionsrecht umzufunktionieren, so beharrt Russland auf den Primat des absoluten Souveränitätsbegriffs des staatenzentrierten Völkerrechts.

Die westliche Menschenrechtspolitik sucht das absolute Souveränitätsrecht der geopolitischen Rivalen auszuhebeln. Hier wird eine menschenrechtlich fundierte Legitimität über die staatenzentrierte Legalität gestellt und zum höherrangigen und höherwertigen „Recht“ der internationalen Beziehungen erhoben. Das geopolitisch instrumentalisierte Legitimitätsrecht legitimiert sich durch sich selbst als durch die nicht weiter hinterfragbare Menschenrechtsideologie, die seit langem einen „extraterritorialen Rechtsschutz“ von Grund- und Menschenrechten postuliert und „in einer neuen Welt(un)ordnung … eine Neubewertung der territorialen, personalen und internationalen Dimensionen der Grund- und Menschenrechte“ fordert.9

Wird das Völkerrecht stets im Sinne der geopolitischen Machtinteressen gedeutet, so wird die Geopolitik selber zur Quelle des Rechts und entscheidet selbstprogrammierend über die Fortbildung oder Abänderung des geltenden Rechts. Zugleich offenbart sich aber hier ein Dilemma. Angesichts einer zunehmenden Geopolitisierung des Völkerrechts werden Entscheidungsabläufe und Handlungen einerseits rechtlicher Steuerung und Kontrolle entzogen. Das Völkerrecht kapituliert – so gesehen – vor der Übermacht des Faktischen und legalisiert erst nachträglich und situativ jene Handlungen, deren geopolitischer Deutung es sich kurz zuvor unterworfen hat.

Geopolitik des Westens beruft sich andererseits stets auf die Menschenrechtsdeklaration, lasse aber gleichzeitig die UN-Charta außer Acht, die das Gewalt- und Interventionsverbot proklamiert, wodurch eine selektive Wahrnehmung des Völkerrechts erst recht unausweichlich wird. Diese Unausweichlichkeit verklärt die eigenmächtige Vorgehensweise im Sinne der geopolitischen Machtvorgaben. Die Verklärung führt wiederum dazu, dass der der UN-Charta zugrunde liegende spezifische Souveränitätsbegriff nivelliert wird, der eine ganz bestimmte Beziehung zu den internationalen Menschenrechten herstellt.

„Die Charta etabliert mit großem Nachdruck die souveräne Gleichheit aller Mitgliedsstaaten, die unabhängig von deren Größe gilt, und enthält deshalb das Verbot, die politische Unabhängigkeit irgendeines Staates gewalttätig zu verletzen. Sie unterstellt …, dass Staatssouveränität nur der Außenaspekt der innerstaatlichen Volkssouveränität ist, indem sie die >souveräne Gleichheit< der Staaten auf das vorausliegende Prinzip der >Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker< bezieht.10 Dies aber erklärt, warum die UN-Charta nirgends eine Ermächtigung ausspricht, die Menschenrechte zu erzwingen, sondern das Ziel formuliert, >die Achtung vor den Menschenrechten … zu fördern<.11 Damit ist nicht nur … die Verwirklichung von Menschenrechten prozeduralisiert, sondern … der Zeitperspektive gegen gewalttätige Ungeduld bei der Umsetzung normativer Ansprüche entsprochen.“12

Die Geopolitisierung des Völkerrechts durch den Westen negiert aber den Zusammenhang zwischen Staatssouveränität und der innerstaatlichen Volkssouveränität, indem er seine geopolitischen Machtinteressen mittels der Menschenrechtserzwingungspolitik betreibt und so das UN-Völkerrecht in die sog. „regelbasierte Ordnung“ transformiert.

Das führt aber dazu, dass die „je gesellschaftsspezifische Konkretisierung der universalistischen Menschenrechtsprinzipien und die Fähigkeit zu demokratischer Selbstorganisation … gleichermaßen … durch die globalen Zentralinstanzen usurpiert (werden).“13

Die Schaffung einer globalen Zentralinstanz zur Erzwingung von Demokratie und Menschenrechten würde aber „die endgültige Isolierung und Zerstörung der Menschenrechte“ bedeuten. „Globale Instanzen könnten in jeder Gesellschaft dieser Welt ihre Lesart von Menschenrechten gegen die dort vorherrschenden Lesarten militärisch durchsetzen. Auch hier würde die gesamte Weltbevölkerung zum bloßen >Material< der Menschenrechtverwirklichung“ (ebd.).

Vor diesem Hintergrund zeigt es sich, dass die zwei widerstreitenden völkerrechtlichen Prinzipien weiter auseinanderdriften und zu geopolitischen Spannungen führen, dergestalt, dass die Idee des überstaatlichen Völkerrechts die historisch gewachsenen und ausgebildeten innerstaatlichen Machtstrukturen außer Kraft zu setzen versucht und dadurch die bestehenden zwischenstaatlichen Beziehungen depraviert, da diese durch die universale, als Welt- und Menschenrecht verklärte Idee des überstaatlichen Völkerrechts in Frage gestellt werden.

3. Geopolitische Dysfunktionalität des Völkerrechts und das Annexionsverbot

Seit dem Ende der 1990er-Jahre findet eine zunehmende Militarisierung der Außen- und Weltpolitik statt. Es ist vor allem der amtierende US-Hegemon, auf dessen Initiative zahlreiche militärischen Interventionen stattgefunden haben. Die völkerrechtlichen Argumente der USA für ihre Kriegseinsätze und Angriffskriege sind sehr aufschlussreich.

Im Falle der Kosovo-Intervention (1999) haben sich die USA auf die Resolutionen des Weltsicherheitsrates berufen, die zwar keine Ermächtigung zum Gewalteinsatz erhielten, „wohl aber die Situation im Kosovo als Friedensbedrohung und das Vorgehen der jugoslawischen Sicherheitskräfte als völkerrechtswidrig deklariert hatten. Damit hatten die USA nicht nur die Rechtsbehauptungen erhoben, die ihnen selbst möglichst freie Hand geben, andere aber über den Umfang ihrer Rechte im Unklaren lassen, sondern auch eine Befugnis zur Verwirklichung von Allgemeininteressen in Anspruch genommen.“14

Beachtenswert ist hier nicht allein „die Neuartigkeit der völkerrechtlichen Thesen zum Recht auf Gewaltanwendung, sondern vielleicht sogar noch mehr die Rückkehr zur früher gewohnten Art des völkerrechtlichen Dialogs in Form (einseitiger) Praxis.“15

Die USA erheben einen Gewaltanspruch, der die Grundpfeile des modernen Völkerrechts de facto negiert. Eine solche Negierung des völkerrechtlichen Fundaments stellt das Gewaltverbot ebenso, wie das Annexionsverbot und letztlich das Verbot des Angriffskrieges in Frage. „Das Annexionsverbot folgt aus dem Verbot des Angriffskrieges. Wenn das Völkerrecht den Angriffskrieg ächtet, so sollen auch die Früchte eines Angriffs der Ächtung verfallen.“16

Erkennt das klassische Völkerrecht an, was sich faktisch durchsetzt, und kommt es durch die Legitimierung des Stärkeren in Einklang mit den tatsächlichen Machverhältnissen zustande, so kann das moderne Völkerrecht in Widerspruch zur Macht des Faktischen treten. Je nachdem wie die Macht des Faktischen sich durchsetzt, kann das moderne Völkerrecht mit seinem Gewalt-, Annexionsverbot und/oder dem Verbot des Angriffskrieges in einen solch starken Gegensatz zur Machtfaktizität treten, dass es de facto zu existieren aufhört.

Diese Macht des Faktischen birgt in sich immer die Gefahr der Unmöglichkeit des Völkerrechts, sich selbst durchzusetzen. Wenn die Angriffskriege verboten und/oder die gewaltsame Gebietsänderungen vom modernen Völkerrecht nicht anerkannt werden, dann treten Legalität und Faktizität so weit auseinander, dass das Völkerrecht seine Glaubwürdigkeit verliert.

„Der Rigorismus der modernen Friedenssicherung durch das moderne Völkerrecht raubt dem Völkerrecht seine friedenssichernde Funktion“,17 verschärft ungewollt die geopolitischen Spannungen zwischen den Großmächten und gefährdet dadurch den Weltfrieden. Diese geopolitische Dysfunktionalität des modernen Völkerrechts nennen wir eine Legalitätsfalle, die sich am Beispiel des Annexionsverbots deutlich machen lässt. Die moderne Lehre vom Annexionsverbot postuliert eine „Friedenssicherung als Sicherung des Status quo mit der Gefahr, dass Recht und tatsächliche Verhältnisse soweit auseinandertreten, dass das Recht jede Realisierbarkeit verliert.“18

Sie beschwört zudem eine Gefahr des Krieges herauf und macht die friedensstiftende Funktion des Völkerrechts irreparabel. „Der Versuch der modernen Völkerrechtslehre jeglicher Annexion die Legitimierung zu verweigern, erweist sich“ nach Stark (ebd., 860) „als zu rigoros. Weder die Rechtfertigung der blanken Macht noch der Ausschluss jeder Rechtfertigung kann die Frage nach der gerechten oder ungerechten Annexion verdrängen.“

Das Völkerrecht muss in der Tat den Bedürfnissen nach einer materiellen Gerechtigkeit Rechnung tragen. Es muss „die Möglichkeit rechtsgültigen Gebietserwerbs auch gegen den Willen des betreffenden Staates vorsehen“ (ebd.), und zwar auf der Grundlage der materiellen Gerechtigkeit, die den normativen Gehalt des völkerrechtlichen Annexionsverbots zwar nicht aufhebt, wohl aber ergänzt. Man könnte in diesem Zusammenhang auch vom geopolitischen Gebot des Völkerrechts zur Vermeidung der Legalitätsfalle und der Weltfriedensgefährdung sprechen.

Wie dem auch sei, ein solches materielles Gerechtigkeitspostulat könnte sich dem Standpunkt von Georg Dahm anschließen, der einst darauf aufmerksam machte, dass die derzeit bestehenden Grenzen zum größten Teil durch Gewalt oder – wie etwa im Falle von Krimeingliederung in die Russländische Föderation – durch einen verwaltungsmäßigen Akt zustande gekommen sind und die Sicherung des Status quo in Einzelfällen sich wiederum als eine „offensichtliche Ungerechtigkeit“ darstellen könnte.19

Weil aber selten zu ermitteln ist, was im Einzelfall eigentlich „gerecht“ sein sollte, muss das Problem der materiellen Gerechtigkeit nach Starks Auffassung „in einem Verfahren kanalisiert werden. So kann z. B. die erzwungene Abtretung eines Gebiets dem Willen der Bevölkerung entsprechen“ (ebd., 861).

Das Annexionsverbot des modernen Völkerrechts muss die Chance der Realisierbarkeit haben. Fehlt sie, kann man sie dann nicht mehr als Rechtsnorm gelten lassen, sonst läuft man Gefahr, in die Legalitätsfalle zu tappen, welche die geopolitische Dysfunktionalität des Völkerrechts bloßstellt und im extremen Falle friedensgefährdend wirkt.

Die Beachtung der materiellen Gerechtigkeit ist dabei – worauf Stark (ebd.,862) zu Recht hinweist – „kein Zynismus“. Vielmehr soll sie die Macht des Faktischen anerkennen, um ein noch größeres Übel vom Weltfrieden abzuwenden. Auch das Völkerrecht ist letztlich auf seine Verwirklichung und Wirksamkeit bedacht.

Ein „Recht“ ist keine Rechtsnorm mehr, „wenn sie ein Verhalten verlangt, dem die Adressaten regelmäßig nicht entsprechen, und für das es keine Sanktionen gibt. Solche Fortschritte sind allenfalls moralische Forderungen, die man als völkerrechtliche Programmsätze bezeichnen könnte“ (ebd., 862).

Setzt sich das Völkerrecht zu hohe Ziele, so leidet darunter nicht nur seine friedenssichernde Funktion, sondern auch seine geopolitische Relevanz und Glaubwürdigkeit. Es ist dann der Beliebigkeit der Großmächte ausgeliefert. Darum muss alles vermieden werden, dass das Völkerrecht in Konflikt mit der Macht des Faktischen gerät, um es auf dessen geopolitische Instrumentalisierung gar nicht ankommen zu lassen. Dies setzt aber eine echte und nicht nur scheinbare Realisierbarkeitschance des Völkerrechts voraus.

Zu Recht ist darum bemerkt worden, dass alle Sanktionen, „die dem annexionswilligen Staat weniger Schaden zufügen, als dem Staat, der die Annexion verhindern möchte, ungeeignete Mittel sind“ (ebd., 864). Und so erweist sich eine Geopolitisierung des Völkerrechts als ein Irrweg im Informationskrieg zwischen Russland und dem Westen, weil sie auf Konflikt und Eskalation und nicht auf Konfliktentschärfung und Deeskalation setzt.

Anmerkungen

1. Schmitt, C., USA und die völkerrechtlichen Formen des modernen Imperialismus. Königsberger
Auslandsstudien 8 (1933), 127.
2. Krisch, N., Amerikanische Hegemonie und liberale Revolution im Völkerrecht, in: Der Staat 43 (2004), 267-
297 (267).
3. Triepel, H., Die Hegemonie: ein Buch von führenden Staaten, 1938, 202; zitiert nach Krisch (wie Anm. 14),
268.
4. Bolton, J. R., Is There Really >Law< in International Affairs? Transnational Law and Contemporary Problems
10 (2000), 1 ff.; zitiert nach Krisch (wie Anm. 2), 274.
5. Krisch (wie Anm. 2), 274, FN 34 u. 35.
6. Zitiert nach Krisch (wie Anm. 2), 278 f.
7. Brock, L., Universalismus, politische Heterogenität und ungleiche Entwicklung: Internationale
Kontexte der Gewaltanwendung von Demokratien gegenüber Nichtdemokratien, in: Geis u. a.
(Hrsg.), Schattenseiten des Demokratischen Friedens. Frankfurt/New York 2007, 45-68 (66).
8. Näheres dazu Silnizki, M., Putins Kontinentalmachtstrategie. Zur Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik. 25.
Juli 2022, www.ontopraxiologie.de.
9. Giegerich, Th., Grund- und Menschenrechte im globalen Zeitalter: Neubewertung ihrer territorialen,
personalen und internationalen Dimension in Deutschland, Europa und den USA, in: EuGRZ 2004, 758-777
(759).
10. Charta der Vereinten Nationen Art. I,2 und II,1.
11. Ebd., Art. I,3.
12. Maus, I., Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie. Berlin 2011, 288 f.
13. Maus (wie Anm. 12), 374.
14. Nolte, G., Die USA und das Völkerrecht, in: Die Friedens-Warte 78 (2003), 119-140 (128).
15. Nolte (wie Anm. 14), 132.
16. Stark, Ch., Zum Annexionsverbot im Völkerrecht, in: Recht und Staat. FS f. Günther Küchenhoff zum 65 G.
am 21.08.1972. Berlin 1972, 851-867 (859).
17. Stark (wie Anm. 16), 859.
18. Stark (wie Anm. 16), 860.
19. Zitiert nach Stark (wie Anm. 16), 860 f.

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