Die US-Außenpolitik und ihre Epigonen
Übersicht
1. Außenpolitik als Weltanschauung
2. Die gescheiterte US-Außen- und Russlandpolitik
3. Brzezinskis „Vision“ und Amerikas Zukunft
Anmerkungen
„Der Idealismus artet in Imperialismus aus.“
(Raymond Aron)1
1. Außenpolitik als Weltanschauung
Außenpolitik ist „das größte aller denkbaren Spiele. Nirgends kann die Macht von Menschen über Menschen … in so vergleichsweiser reiner Form praktiziert und genossen werden wie in diesem Spiel,“ schrieb der Berliner Querdenker, Ekkehart Krippendorff (1934-2018), in seinem 2000 erschienenen Werk Kritik der Außenpolitik.2 Wenn also Außenpolitik als „Machtspiel“ begriffen und dieses Machtspiel dazu noch weltanschaulich betrieben wird, dann wird Außenpolitik unweigerlich aggressiv und militant und Diplomatie überflüssig.
Als Friedrich August von Holstein (1837-1909) 1861 Attaché bei der deutschen Gesandtschaft in Petersburg wurde, stellte Bismarck ihn dem alten Reichskanzler Karl R. von Nesselrode (1780-1862) als einen „Diplomaten der Zukunft“ vor, worauf dieser antwortete: „In Zukunft wird es keine Diplomaten und keine Diplomatie mehr geben.“3 Die Prophezeiung des Reichskanzlers ist längst in Erfüllung gegangen. Diplomatie hat sich heute ausgedient und zu einem weltanschaulichen >Machtspiel< verkommen.
In diese unheilvolle Entwicklung reiht sich auch die grüne Außenministerin Annalena Baerbock ein. In ihrem Wochenend-Interview für das Handelsblatt (31.05/1./2.06.2024, S. 50 f.) zeigt sie geradezu paradigmatisch, was die junge Außenpolitikergeneration in Deutschland – aber auch in Europa insgesamt – unter Außenpolitik und Diplomatie versteht: eine weltanschauliche bzw. ideologisch verbrämte Veranstaltung. Am Ende des Interviews fand ein ungewöhnlicher Schlagabtausch – ein verbales Scharmützel – statt. Es ging um Stile der Diplomatie.
Auf die Feststellung eines der beiden Interviewer, dass die Außenministerin „als eine der chinakritischsten Stimmen in der Bundesregierung“ gelte und den chinesischen Staats- und Parteichef Xi Jinping mal einen „Diktator“ nannte, und auf die anschließende Frage, warum sie das mache, reagierte Baerbock belehrend mit der Replik: „Zu guter Diplomatie gehört, alle Tonarten spielen zu können. Leise hinter verschlossenen Türen zu agieren, aber auch die Dinge nicht ständig schönzureden. Sonst nimmt einen keiner ernst.“
Außenpolitik als „Spiel“ – als Husarenstück -, um ernst genommen zu werden? „Sonst nimmt einen keiner ernst“? Wohlgemerkt: „Einen“ und nicht „eine“! Da nimmt die erste Außenministerin der Bundesrepublik, die noch zu Beginn ihrer Amtszeit die sog. „feministische Außenpolitik“ öffentlichkeitswirksam und wortreich propagierte, selbst die Gendersprache nicht einmal ernst. Apropos, wo ist die „feministische Außenpolitik“ eigentlich geblieben? Schon lange hat man von ihr nichts mehr gehört!
Wie auch immer, die Außenministerin ist bis jetzt nur mit einer „Tonart“ aufgefallen: lautstark aufzutreten und ihre ausländischen Kollegen, die ihrer Weltanschauung nicht entsprechen, mit Maßregeln und Belehrungen aller Art zu düpieren. Mit dieser „Tonart“ glaubt sie „ernstgenommen“ zu werden?
Und auf den Einwand: „Stärke muss man sich auch leisten können. Die deutsche Wirtschaft stagniert, da bringt die harte Gangart nur wenig“ erwiderte Baerbock selbstbewusst: „Stark ist man nur dann, wenn man viele Partner hat – auf die man sich am besten auch verlassen kann, weil sie die eigenen Interessen und Werte teilen.“
Jetzt wissen wir, was die deutsche Außenministerin unter „feministischer Außenpolitik“ versteht: nicht allein auf weiter Flur zu sein, sondern lieber viele starken Partner zu haben, die ihre „Interessen und Werte teilen“, wobei „Teilen“ hier im Sinne der Teilung – die Teilung der Welt in die wertvollen Partner und die unwerten Gegner – zu verstehen ist. Den einen folgt man kritik- und bedingungslos, die anderen darf man gelegentlich auch beschimpfen und verunglimpfen. „Sonst nimmt einen keiner ernst.“
Für dieses „Teilen“ als Teilung zahlt die deutsche Außenpolitik zusammen mit „vielen Partnern“ aus der EU mittlerweile einen hohen geopolitischen und geoökonomischen Preis und erweist damit nicht zuletzt der deutschen Wirtschaft einen Bärendienst. Zudem stößt die deutsche Diplomatie mit der Außenministerin an der Spitze vor allem im „Globalen Süden“ zunehmend auf offenen Widerstand.4
Es ist im Übrigen auch nicht überliefert, dass die deutsche Außenministerin Diplomatenschule besucht hat. Sonst hätte sie gewusst, dass allein Achtung und Respekt im außenpolitischen „Machtspiel“ auf Zustimmung stößt. Wer aber sein Gegenüber düpiert, geringschätzt oder gar beleidigt, verwirkt jede Chance auf irgendeinen konstruktiven Dialog.
Diplomatie ist weder ein Instrument für innen- bzw. parteipolitische Selbstprofilierung noch ein lautstarker Straßenwahlkampf. Der altgediente russische Außenminister Sergej Lawrow bezeichnete in seiner unnachahmlicher Weise einst diese bei den Transatlantikern so beliebte und zum „guten Ton“ gewordene „Tonart“ als „Megaphon-Diplomatie“.
Als eine überzeugte Transatlantikerin, glaubt Baerbock mit ihrer „Diktator“-Beschimpfung und ähnlichen „Nettigkeiten“ den US-Präsidenten Joe Biden nachahmen zu dürfen, der diesen Ausdruck des Öfteren benutzt, um nicht nur Xi Jinping zu düpieren.
Allein, was dem Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen noch lange nicht gestattet. „Quod licet Jovi non licet bovi“. Diesen römischen Spruch hat die deutsche Außenministerin noch nicht verinnerlicht.
Sie versteht zudem offenbar immer noch nicht, dass der größte Trumpf einer außenpolitisch handelnden Person die persönliche Integrität und Glaubwürdigkeit ist, die man sich in der Außenpolitik mühsam erst erarbeiten muss, um überhaupt ernst genommen zu werden. Erst diese persönlichen Eigenschaften begründen den Respekt seitens der Außenwelt.
Mit Lautstärke und Beschimpfungen erreicht man in der Welt außerhalb der deutschen Provinz genau das Gegenteil: statt Respekt nur Verachtung. Der Ton macht auch in der Außenpolitik die Musik. Da kommt man mit einer weltanschaulich verbrämten Außenpolitik nicht weiter.
2. Die gescheiterte US-Außen- und Russlandpolitik
Die sogenannte „werteorientierte Außenpolitik“, die den universalen Charakter der „westlichen Werte“ propagiert, zwischen wertvollen Partnern und unwerten Rivalen, „demokratischen“ und „autokratischen“ Staaten, „Schurkenstaaten“ und demokratisch wohlgeordneten Gesellschaften distinguiert, ist mittlerweile aus der Zeit gefallen. Sie ist gescheitert und hat keine Zukunft mehr.
Gefragt ist vielmehr eine Außenpolitik, die auf Dialog und nicht auf Konfrontation, auf Achtung vor anderen Wert- und Lebensentwürfen und nicht auf Belehrungen aller Art, auf Gleichgewicht und nicht auf Hegemonie und zu guter Letzt auf die „souveräne Gleichheit“ aller Mitgliedsstaaten de facto und nicht nur de jure (UN-Charta, Art. 2.1) setzt.
Der Krieg in der Ukraine hat das Scheitern, ja das Versagen sowohl der US-Außenpolitik als hegemonialer Weltordnungspolitik als auch der US-Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik bloßgelegt, weil eben zur Errichtung der eigenen Hegemonialstellung in der Welt den USA alle Mittel recht waren. Ohne die Politik der verbrannten Erde und die ständige Erfindung und Findung der neuen Feinde der Menschheit wäre die US-Weltordnungspolitik in den 1990er- und 2000er-Jahren nicht durchsetzbar.
So avancierten Miloševič, Gaddafi, Saddam Hussein und Assad zu vier Wiedergängern „Hitlers“, um die zahlreichen Interventionen und Angriffskriege der 1990er-, 2000er-Jahre und darüber hinaus zu legitimieren. Und nun stieg auf die Weltbühne der Geschichte mit Putin der neue, fünfte Wiedergänger „Hitlers“ auf, den man mit allen Mitteln zu bekämpfen hat.
Nicht erst seit der russischen Invasion in die Ukraine wird Putin mit Hitler gleichgesetzt. Um nur wenige Namen zu nennen: So soll Prinz Charles bei einem Kanada-Besuch 2014 einen Hitler-Putin-Vergleich bemüht haben. Gegenüber einer 78-jährigen Jüdin soll der Brite in Bezug auf die Ukraine-Krise gesagt haben: „Und jetzt tut Putin so ziemlich dasselbe wie Hitler.“
Und Wolfgang Schäuble verglich im gleichen Jahr vor Berliner Schülern die Krim-Politik Russlands mit dem Anschluss des Sudetenlands an das Deutsche Reich 1938. „Das kennen wir alles aus der Geschichte. Solche Methoden hat schon Hitler im Sudetenland übernommen – und vieles andere mehr.“
Bereits 2008 hat Zbigniew Brzezinski, der sein Leben lang zunächst die Sowjetunion und dann Russland unerbittlich bekämpfte, im Gespräch mit WELT ONLINE am 11. August 2008 den Westen aufgefordert, Russland zu isolieren, weil es angeblich Georgien angegriffen hat. „Unglücklicherweise hat Putin Russland einen Kurs einschlagen lassen, der erschreckenderweise dem von Stalin und Hitler in den 1930er Jahren sehr ähnlich ist,“ schimpfte der alte Haudegen des „Kalten Krieges“.
Wie sich später herausstellte, entlarvten die EU-Ermittler „Saakaschwilis Kriegslüge“. „>Es war Georgien, das den Krieg auslöste<: Präsident Saakaschwili steht nach der Veröffentlichung des EU-Berichts zum Kaukasus-Krieg als Schwindler da“, berichtete Der Spiegel am 30. September 2009.
Wie auch immer man zu all den Schimpftiraden stehen mag, erstaunlich ist bei alledem, dass keiner bis heute danach fragte, wie es eigentlich dazu kommen konnte, dass ausgerechnet im Zeitalter der unipolaren Weltordnung unter der Führung des US-Hegemonen so viele „Adolfs“ herumlaufen.
Statt aber diese einfache Frage beantworten zu können, versucht man lieber den geopolitischen Rivalen zu dämonisieren und zu entmenschlichen. Russland unter Putin wird als ein „faschistoides Regime“ denunziert, vor dem man weder Angst noch Respekt, aber viel „Verachtung“ und „Abscheu“ empfinden müsse. Denn „das Grundproblem mit Russland“ sei „die Natur des Regimes, welches sich in einen faschistoiden Größenwahn hineingesteigert hat und offenbar unbeirrt an der Umsetzung seiner imperialen Pläne arbeitet: der Revision des Endes des Kalten Krieges zu russischen Bedingungen.“5
Wie war es also möglich, dass ungeachtet der von den USA dominierten Weltordnung lauter „Hitlers“ herumliefen, die ihr „Unwesen“ trieben und Gerüchten zufolge immer noch treiben? Hat das womöglich etwas mit der „wertebasierten“ oder gar „feministischen Außenpolitik“ zu tun?
Die ganze Misere in den spannungsgeladenen Beziehungen zwischen dem postsowjetischen Russland und dem Westen fing bereits um die Mitte der 1990er-Jahre an6 und erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt mit dem Ausbruch des Kosovo-Krieges 1999.
Zwar rühmten sich die Nato-Unterhändler im Vorfeld des Kosovo-Krieges Russland „mit ins Boot“ geholt zu haben. Über die „dunkle Seite der Kriegspolitik, die politisch-psychologischen Langzeitwirkungen schweigen sie sich allerdings aus“, meinte Ekkehart Krippendorff bereits im August 19997 besorgt.
Als Mary Wynne Ashford, Co-Präsidentin der International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW), im Mai 1999 Moskau besuchte, berichtete sie von einer
„tiefgreifenden Veränderung der öffentlichen Meinung in Russland, die sogar von Moskauer Mitgliedern der IPPNW ausgedrückt wird. Eines unserer langjährigen Mitglieder vertritt nicht mehr Atomwaffen-Abrüstung, sondern nukleare Abschreckung. … Wissenschaftler, Politiker, Ärzte und Generäle sagten uns alle das gleiche: dass die Nato-Bombenangriffe auf Jugoslawien die Abrüstung um 20 Jahre zurückgeworfen haben. … >Heute Serbien, morgen Russland< sei im Bewusstsein der Menschen tief verwurzelt. … Offizielle Außenpolitiker … sagten uns, Russland hätte keine andere Wahl als auf Atomwaffen zurückzugreifen, da ihre konventionellen Militärkräfte unzureichend seien. Als ich sie fragte: >Falls Russland nur eine einzige Atomwaffe einsetzen würde, hätte dies den Abschuss von Hunderten oder Tausenden von Raketen der USA zur Folge?<, nickten sie und sagten: >Ja, das wäre Selbstmord, aber wie können wir uns sonst verteidigen?< Als ich Moskau verließ, empfand ich die gleiche Furcht wie in der Reagan-Zeit, das gleiche Gefühl von Unwirklichkeit.“8
Ja, „das gleiche Gefühl von Unwirklichkeit“ erleben wir auch heute, als wäre der Ost-West-Konflikt nie zu Ende und als würden wir uns immer noch in den ideologischen Schutzgräbern des „Kalten Krieges“ befinden, wenn man sieht und hört, wie sich manche „wertebasierten Außenpolitiker“ hierzulande unbekümmert mit ihrem verantwortungslosen Gerede in Fragen von Krieg und Frieden umgehen.
Seit dem Kosovo-Krieg haben die Spannungen in den darauffolgenden zwei Jahrzehnten sukzessive zugenommen. Nicht nur die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen haben sich nachhaltig verschlechtert, sondern die sog. „wertebasierte Außenpolitik“ hat auch ihre gewalttätige und militante Kehrseite gezeigt.
Die „wertebasierte Außenpolitik“ gebar – um den berühmten Spruch von Francisco de Goya zu paraphrasieren – ein hässliches „Ungeheuer“, das den überwunden geglaubten „Kalten Krieg“ aus der Versenkung geholt, reanimiert und neu aufgelegt hat. „Es ist bitter zu konstatieren“, meinte Krippendorff 1999 resigniert, „wie sich gewisse historische Grundmuster wiederholen“9 und wie wenig die transatlantischen Machteliten bereit und gewillt sind, die Weltordnungspolitik gemeinsam mit dem Rest der Welt zu gestalten und/oder sich den neuen geopolitischen Realitäten zu stellen.
Die mit der „Enttabuisierung des Militärischen“ eingeleitete Militarisierung der „wertebasierten Außenpolitik“ trägt heute bittere Früchte. Wer Gewalt sät, erntet Gewalt. Der Ukrainekrieg kam nicht aus heiterem Himmel. Ihm gingen jahrzehntelang andauernde Gewaltorgien der „Weltgewaltordnung“, wie der Soziologe Karl Otto Hondrich (1937-2007) die US-Hegemonialordnung 2003 bezeichnete10, und eine exzessive Expansionspolitik der Nato und der EU voraus.
Diese Entwicklung von der bipolaren Weltordnung zur unipolaren „Weltgewaltordnung“ sagte der US-amerikanische Politologe John J. Mearsheimer bereits 1990 voraus.
In seinem aufsehenerregenden Aufsatz „Why We Will Soon Miss The Cold War“ (The Atlantic 90, Nr. 8, August 1990, 35-50) vertrat Mearsheimer die Auffassung, dass wir eines Tages bedauern werden, die Ordnung, welche dank dem Kalten Krieg an die Stelle des Chaos in den internationalen Beziehungen getreten sei, verloren zu haben.“
„Ich werde den Beweis erbringen“, schrieb er selbstbewusst weiter, dass „die Gefahr der großen Krisen und sogar Kriegen in Europa tendenziell wachsen werden, nachdem der Kalte Krieg (längst) der Geschichte angehört hat. Die nachfolgenden fünfundvierzig Jahre werden womöglich viel aggressiver sein, als die fünfundvierzigjährige Epoche, die wir vermutlich irgendwann statt einer Periode des >Kalten Krieges< einen – wie John Lewis Gaddis es nannte – >langen Frieden< nennen würden.“
Diese geradezu prophetische Äußerung hat sich leider bewahrheitet und Rolf Steininger stimmte Mearsheimer Jahre später indirekt zu, als er resigniert feststellte: „Angesichts der neuen Gefahren und Herausforderungen in der Welt kann daher bei der Erinnerung an den Kalten Krieg fast schon so etwas wie Nostalgie aufkommen.“11
Nun ja, Nostalgie sollte man lieber nicht haben, auch wenn es zugegebenermaßen dazu allen Anlass gibt. Die Verklärung der Vergangenheit ist heute fehl am Platz. Vielmehr sollte man der Frage nachgehen, die merkwürdigerweise bis heute nicht gestellt wurde: Wie konnte es dazu überhaupt kommen, dass wir uns aus einer vermeintlichen „Friedenszeit“ des „Kalten Krieges“ nach dessen Beendigung in noch gefährlicheren, friedensgefährdenderen Kalamitäten stürzten?
Schlimmer noch: Zurzeit des „Kalten Krieges“ hat sich die Erfindung der Atombombe als friedensstiftendes und friedensstabilisierendes Element erwiesen. Heute scheint die atomare Bedrohung als friedenssicherndes Element nicht mehr zu funktionieren und es besteht sogar die Gefahr einer akuten nuklearen Konfrontation.
Der Westen hat anscheinend die Angst vor dem nuklearen Inferno verloren. Der Grund liegt womöglich im Ableben der Kriegsgeneration und in der Übernahme politischer Verantwortung durch die neue Politikergeneration, die den Krieg persönlich nicht erlebt hat.
Ein weiterer Grund dürfte wohl in der Zerstörung des sog. „Gleichgewichts des Schreckens“ liegen, an dessen Stelle statt eines neuen Machtgleichgewichts die „Weltmacht ohne Gegner“ trat. Und wenn einer Macht keine Gegenmacht entgegengesetzt wird, wird sie grenzen- und skrupellos.
Und genau das ist mit der US-Hegemonie eingetreten. Sie hat ihre Allmacht in eine Gewaltmacht, die bipolare Weltordnung in eine „Weltgewaltordnung“ verwandelt, ist Quelle der Instabilität geworden und erntet jetzt mit der Entstehung von Gegenmächten die bittersauren Früchte ihrer dreißig Jahre andauernden unipolaren Weltordnung, die statt einer wohlgeordneten Welt aus sich allein Chaos, Krisen und Kriege hervorgebracht hat.
Jetzt können wir die Zeit nicht mehr zurückdrehen, wohl aber womöglich die Kehrtwende in der gescheiterten Außen- und Russlandpolitik vollziehen.
3. Brzezinskis „Vision“ und Amerikas Zukunft
Selbst ein solcher Haudegen des „Kalten Krieges“ wie Zbigniew Brzezinski (1928-2017) hat im greisen Alter diese Kehrtwende vollzogen. In seinem letzten Werk Strategic Vision (2012) hat er eine jahrzehntelang praktizierte Feindschaft zu Sowjetunion/Russland aufgegeben und empfohlen, Russland im Westen zu integrieren.
Die Empfehlung kam zwar spät, aber für die neue Politikergeneration (noch) nicht zu spät. Wie begründete er seine Kehrtwende? Brzezinskis strategisches Ziel sah laut Hauke Ritz nach dem Ende des „Kalten Krieges“ das Vordringen der USA und der EU „bis nach Zentralasien vor, indem die EU sich nach Osten ausdehnen … die Nato gleichfalls Richtung Georgien und Ukraine expandieren … und Pipelinerouten durch verbündete Staaten bis ins kaspische Becken hinein verlegt werden sollten … Zugleich würde dieses Vorgehen Russland – die größte Landmacht auf dem eurasischen Kontinent – an seiner Südflanke umgehen und so die ehemalige Supermacht zum Randstaat einer zukünftigen Weltordnung degradieren.“12
Diese Expansionsstrategie Brzezinskis ist – wie man heute weiß – gescheitert. Georgien wendet sich allmählich vom Westen ab, die Ukraine steht in Flammen und Zentralasien bleibt im Einflussbereich Chinas und Russlands. Schlimmer noch: Chinas und Russlands geostrategisches Ziel ist mittlerweile die USA ganz aus Eurasien zu vertreiben.
Man kann freilich einer weiteren Begründung von Hauke Ritz für das Scheitern von Brzezinskis Geostrategie nur bedingt zustimmen. „Ähnlich wie Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg bei der Ausgestaltung des Versailler Vertrags für eine dauerhafte Schwächung des Deutschen Reichs eintrat, so propagierte Brzezinski in den 1990er-Jahren gleichfalls eine Weltordnung, in der der besiegte Konkurrent nur als geschwächter und eingekreister Problemstaat vorkam, während ihm die Rolle eines respektierten geopolitischen Akteurs nicht zugestanden wurde.“13
Diese Strategie der Schwächung, Einkreisung und letztlich machtpolitischen Neutralisierung Russlands geht allerdings ursprünglich nicht auf Brzezinski zurück. Die Strategie hat andere Väter und diese Väter haben die US-Außenpolitik nicht nur theoretisiert, sondern auch tatkräftig in die Wege geleitet und umgesetzt.
Bereits 1992 hat Paul D. Wolfowitz in seinem Strategiepapier „Defense Planning Guidance“ alles Nötige gesagt. Die darin konzipierte Präventivstrategie setzte zum Ziel der US-Geopolitik, „den Aufstieg neuer Rivalen überall zu verhindern – also das Emporkommen der Staaten, die Washington feindlich gesinnt seien, und den Aufstieg demokratischer US-Verbündeter wie Deutschland und Japan.“14
Und die Clinton-Administration hat mit ihrer Entscheidung für die Osterweiterung15 Wolfowitz´ Präventivstrategie nur noch vervollständigt, sodass die US-Russlandpolitik bereits in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre zum außenpolitischen Consensus des US-Establishments wurde und bis dato gilt.
Dass diese US-Geostrategie zur Schwächung, Einkreisung und Neutralisierung Russlands scheitern sollte, war nicht von vornherein ausgemacht und selbst manche russischen Experten rätseln bis heute, wie es Russland gelungen ist, aus dem Schlamassel der 1990er-Jahre herauszukommen. Dass Putin dazu einen entscheidenden Beitrag geleistet hat, ist nicht zu leugnen.
Dass dies – wie in der letzten Zeit zu beobachten ist – beinahe zum Personenkult um Putin geführt hat, ist aber zu viel des Guten. Der Grund für das Scheitern der US-Russlandpolitik liegt auch nicht – worauf Ritz (ebd.) hinweist, allein in der „Unfähigkeit, den Kalten Krieg geistig hinter sich zu lassen“ oder in „Brzezinskis Überschätzung der zukünftigen Rolle der Vereinigten Staaten“.
Das sind zwar wichtige, aber bei weitem nicht ausreichende Gründe für das Scheitern von Brzezinskis Geostrategie und der US-Russlandpolitik. Der eigentliche Grund liegt in einer verfehlten Analyse der Ursachen des Endes des „Kalten Krieges“.
Darum ist auch die gezogene Parallele zwischen Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und Russland nach dem Ende des „Kalten Krieges“ unzutreffend. Russland hat den Krieg im Gegensatz zum Deutschen Kaiserreich nicht auf dem Schlachtfeld „verloren“, sondern hat sich sozusagen freiwillig „ergeben“. Die militärische, insbesondere nukleare Infrastruktur blieb trotz eines dramatischen politischen, ökonomischen und sozialen Niedergangs Russlands in den 1990er-Jahren mehr oder weniger intakt.
Zudem hat Putin begonnen, die russischen Streitkräfte seit dem Ende des Georgienkrieges 2008, der gezeigt hat, in welchem beklagenswerten Zustand sich das russische Militär befindet, zu modernisieren. Vor diesem Hintergrund konnte Brzezinskis 1997 konzipierte „imperiale Geostrategie“16 keinen durchschlagenden Erfolg verzeichnen.
Und so vollzog er 2012 die Kehrtwende. Zwei Ereignisse haben diese Kehrtwende eingeleitet: Der Krieg gegen den Terror, der in der islamischen Welt als Krieg gegen den Islam gedeutet wurde und die Stellung der USA schwächte, und der gescheiterte Versuch, Russland aus Europa herauszuhalten und durch die Nato-Expansionspolitik, Einkreisung mit Militärbasen und durch den Raketenschild militärisch zu schwächen bzw. einzuschüchtern.
Diese für die US-Hegemonie unbefriedigte Entwicklung vor Augen schreibt Brzezinski in seinem letzten Werk Strategic Vision 2012 weitsichtig: „Amerikas Rolle … muss in Zukunft angesichts der neuen Realitäten in Eurasien subtiler und verantwortungsbewusster ausgeübt werden. Dominanz durch einen einzigen Staat, egal wie mächtig er ist, ist nicht länger möglich, besonders, seit neue regionale Mächte in Erscheinung getreten sind.“17
Brzezinskis Äußerung kommentierend, schreibt Ritz: „Das aber bedeutet weit mehr als nur den Eintritt in eine multipolare Welt. Brzezinski weist in verschiedenen Interviews zu seinem Buch darauf hin, dass damit eine fast 500jährige Epoche zu Ende geht, in der stets die atlantischen Mächte die Welt dominiert hätten. Nach den Konsequenzen gefragt, sagte er: >Es bedeutet vor allem, dass wir nicht länger diktieren können. Wir können nicht mehr der abschreckende und für alle internationalen Belange zuständige Akteur auf der globalen Szene sein<.“18
Was Brzezinski im Jahr 2012 längst erkannt hat, bleibt für die transatlantischen Machteliten im Jahr 2024 immer noch unverstanden. Immer noch glauben sie der Welt diktieren zu können, wie sie zu leben, zu denken und zu handeln hat. Immer noch wollen sie weder wahrhaben noch akzeptieren, dass die 500jährige Weltdominanz der westlichen Hemisphäre zu Ende geht.
Darum kämpfen sie so erbittert im Ukrainekrieg – im unausrottbaren Glauben, dass der Störenfried Russland ihnen im Wege steht, um ihre Weltherrschaft weiterhin aufrechterhalten zu können. Und wenn es niedergerungen wird, dann, ja dann ist ihnen die Vormachtstellung in der Welt für die nächsten 500 Jahren „sicher“. Ohne Russland würden sie dann mit China „spielend“ fertig werden.
Das ist aber eine unverzeihliche Illusion. Selbst Klein- und Mittelmächte weigern sich heutzutage, sich der Pax Americana zu unterwerfen. Es ist darum die Zeit für eine ganz andere US-Außen- und Russlandpolitik gekommen. „Wir können nicht länger der globale Polizist sein, denn es wird uns in den Bankrott treiben, innenpolitisch soziale Wut entfachen und international zum Verlust unserer Legitimität führen,“ warnte Brzezinski19.
Wie prophetisch waren doch die Worte des greisen Mannes. Seine Warnung verhallte jedoch ungehört! Wie George F. Kennan, der die Clinton-Administration vor der Nato-Expansionspolitik eindringlich warnte, als Prophet in die Geschichte einging, der im eigenen Land nichts galt20, so wurde auch Brzezinskis Warnung in den Wind geschlagen.
Heute stehen die USA vor dem Scherbenhaufen ihrer Außen- und Russlandpolitik der vergangenen dreißig Jahre. Nichts geht mehr in der US-Außenpolitik außer Drohgebärden und Imponiergehabe. Die unipolare Weltordnung zerfällt vor unseren Augen und ein nicht unwesentlicher Grund dafür ist die verfehlte US-Russlandpolitik.
Statt Russland zu isolieren, müssen die USA lieber aufpassen, selbst nicht in eine Isolation zu geraten und das gleiche Schicksal zu erleben, wie der Sowjetunion der 1980er-Jahre widerfahren ist. Die wertebasierte Außen- und Russlandpolitik hat versagt und wenn die transatlantischen Machteliten nicht schleunigst eine zukunftsträchtigere außenpolitische Vision entwickeln (können), dann gehen die USA und der Westen schweren, sehr schweren Zeiten entgegen. Dann wird der Westen keine Zukunft haben und es wird zunehmend einsam um den US-Hegemon, der neben sich nur die tributpflichtigen Vasallen gelten lässt und auch diese werden mit der Zeit immer weniger. Die Weltmehrheit wendet sich allmählich, aber unaufhaltsam von ihm ab und dem scheint kein Entrinnen mehr zu sein.
Anmerkungen
1. Aron, R., Zwischen Macht und Ideologie. Politische Kräfte der Gegenwart. Wien 1974, 286.
2. Krippendorff, E., Kritik der Außenpolitik. Frankfurt 2000, 176.
3. Zitiert nach Sonnenhol, G. A., Diplomatie ohne Außenpolitik in einer unregierbaren Welt, in:
Kaltenbrunner, G.-K. (Hrsg.), Wozu Diplomatie? Außenpolitik in einer zerstrittenen Welt. München 1987,
76-95 (78).
4. Näheres dazu „Eine Schneise der Verwüstung“, german-foreign-policy.com, 1. Februar 2024.
5. ISPK: „Die militärische Lage in der Ukraine seit Beginn des russischen Überfalls und die Aussichten für
eine Beendigung des Krieges“. 12. Juli 2022, S.17.
6. Silnizki, M., Dreißig Jahre US-Russlandpolitik. Zwischen Ideologie und Expansion. 17. Januar 2023,
www.ontopraxiologie.de; ders., George F. Kennan und die US-Russlandpolitik der 1990er-Jahre.
Stellungnahme zu Costigliolas „Kennan’s Warning on Ukraine“. 7. Februar 2023, www.ontopraxiologie.de;
ders., Fluch oder Segen? Zur Diskussion über die NATO-Osterweiterung. 26. April 2022,
www.ontopraxiologie.de.
7. Krippendorff, E., Nato vs. Serbien 1999, in: ders., Kritik der Außenpolitik (wie Anm. 2), 208.
8. Vgl. Frankfurter Rundschau, 29.5.1999. Zitiert nach Krippendorff (wie Anm. 2), 208 f.
9. Krippendorff, E., Sieg des Militärs über die Politik, in: ders., Kritik der Außenpolitik (wie Anm. 2), 221.
10. Näheres dazu Silnizki. M., Im Würgegriff der Gewalt. Wider Apologie der „Weltgewaltordnung“. 30. März
2022, www.ontopraxiologie.de.
11. Steininger, R., Der Kalte Krieg. Frankfurt a.M. 2003, 53.
12. Ritz, H., Warum der Westen Russland braucht. Die erstaunliche Wandlung des Zbigniew Brzezinski, in:
Blätter f. dt. u. intern. Politik 57 (2012), 89-97 (91).
13. Ritz (wie Anm. 12), 91.
14. Näheres dazu Silnizki, M., Anti-Moderne. US-Welthegemonie auf Abwegen. Berlin 2021, 21 f.
15. Vgl. Silnizki, M., Die US-Expansionspolitik versus Russlands Geopolitik, in: ders., Kolonialpolitik versus
Kontinentalmachtpolitik. Ein geopolitischer Machtkampf um die Ukraine. 2. September 2024,
www.ontopraxiologie.de.
16. Silnizki, M., Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ im Lichte der Gegenwart. Zum Scheitern der US-
amerikanischen Russlandpolitik. 9. November 2022, www.ontopraxiologie.de.
17. Zitiert nach Ritz (wie Anm. 12), 93 f.
18. Zitiert nach Ritz (wie Anm. 12), 94.
19. Zitiert nach Ritz (wie Anm. 12), 95.
20. Näheres dazu Silnizki, M., George F. Kennan und die US-Russlandpolitik der 1990er-Jahre. Stellungnahme
zu Costigliolas „Kennan’s Warning on Ukraine“. 7. Februar 2023, www.ontopraxiologie.de.