Verlag OntoPrax Berlin

Europa und sein US-Patron

Die neue US-Ukraine- und Allianzstrategie

Übersicht

1. Bidens gescheiterte Außenpolitik und die Krise der Unipolarität
2. Europa als Lückenbüßer der gescheiterten US-Ukrainestrategie

Anmerkungen

Die USA stehen vor dem Scherbenhaufen ihrer Hegemonialpolitik: Die
Verbündeten haben kein Vertrauen, die Feinde keine Angst.

1. Bidens gescheiterte Außenpolitik und die Krise der Unipolarität

Die Außenpolitik der Biden-Administration liegt in Trümmern. Die Beziehungen zu China und Russland hat sich derart drastisch verschlechtert, dass die Gefahr eines Konflikts der Großmächte seit 1945 nicht so groß war, wie heute, schreibt Stephen Wertheim in seiner jüngsten Veröffentlichung „Why America Can’t Have It All. Washington Must Choose Between Primacy and Prioritizing“ für Foreign Affairs am 14. Februar 2024.

Zwar wollten Biden und sein Team „die nie enden wollenden Kriege der USA“ (the United States’ forever wars) ein für alle Mal beenden und Biden hat den zwei Jahrzehnte andauernden Krieg in Afghanistan tatsächlich auch beendet. Zwar wollte die Biden-Administration die US-Militärpräsenz im Nahen Osten neu ordnen und strebte anfänglich sogar „eine stabile und berechenbare Beziehung zu Russland“ (a stable and predictable relationship with Russia) an, um sich auf den „Wettbewerb“ mit China und die globalen Bedrohungen wie Klimawandel und Pandemien zu konzentrieren.

All das hat sich aber als unerfüllbar und realitätsfern erwiesen. Die USA seien heute in mehreren Kriegen in Europa und im Nahen Osten involviert, auch wenn sie dafür nicht direkt verantwortlich gemacht werden können, beteuert Wertheim und fügt sodann vorwurfsvoll hinzu: Es war Putin, der in die Ukraine 2022 einmarschierte und niemand hatte „eine Kristallkugel“ (a crystal ball), um eine solche Entwicklung „Jahre im Voraus vorherzusagen“ (to predict … actions years in advance).

Die Großmächterivalität folgt in der Tat ihrer Eigengesetzlichkeit und nimmt keine Rücksicht auf unsere Wünsche, Absichten und Vorstellungen. Was aber die erwähnte „Kristallkugel“ angeht, so hätte man den heute in der Ukraine stattfindenden Konflikt voraussehen können, hätte man ihn voraussehen wollen und die Warnungen ernstgenommen.

Alle US-Administrationen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts schlugen aber konsequent und ganz bewusst die Warnungen vor einer die vitalen russischen Sicherheitsinteressen ignorierenden US-Geopolitik in den Wind.

Wertheims Äußerung ist darum entweder eine Schutzbehauptung oder Unkenntnis der Geschichte der russisch-amerikanischen Beziehungen der vergangenen dreißig Jahren seit dem Untergang des Sowjetreiches vor dem Hintergrund der Nato-Expansionspolitik.

Seit der Clinton-Administration hat die US-Außenpolitik alle Warnungen vor der Nato-Expansion in die Ukraine aus Machtarroganz und Selbstüberschätzung beharrlich ignoriert. Es war kein geringerer als das Urgestein der US-amerikanischen Russlandforschung und der Erfinder des sog. „Eindämmungspolitik“, George F. Kennan (1904-2005), der die Nato-Expansionsbestrebungen von Anfang an vehement bekämpft hat, hat er doch nicht ohne Recht die gravierenden Folgen einer solchen US-Russlandpolitik befürchtet.

Die Geschichte hat Kennan – wie wir heute wissen – recht gegeben. Dass Russland bereits seit Jelzins Präsidentschaft immer schon gegen die Nato-Expansion war, sei nur am Rande erwähnt.1 Wer wie die Biden-Administration und seine europäischen Bündnisgenossen von Putins „unprovozierter“ Invasion spricht, ist entweder geschichtslos oder tut so, als hätte man keine Ahnung vom heftig geführten und dreißig Jahre ununterbrochen andauernden Streit zwischen Russland und den USA über die Nato-Osterweiterungspolitik2.

„Wer Wind sät, wird Sturm ernten“ und wer die Sicherheitsinteressen einer Großmacht jahrzehntelang mit Füßen tritt, erntet einen Krieg. Man kann freilich Wertheim zugutehalten, dass er Bidens Außenpolitik kritisch beleuchtet und dafür verantwortlich macht, dass sie – wie er es nennt – „eine gescheiterte Wette abgeschlossen“ hat.

Diese „gescheiterte Wette“ fasst Wertheim in einer griffigen Formel zusammen: Bidens Außenpolitik wollte priorisieren, was ihrer Meinung nach am wichtigsten sei, weigerte sich aber gleichzeitig, sich von dem zu trennen, was weniger wichtig sei (vgl.: The Biden administration wanted to prioritize what in its view mattered most while declining to disentangle the United States from what mattered less).

Diese sich selbst gefährdende US-Außenpolitik gehe seiner Meinung nach heute nicht mehr auf. Sie sei ein „Wunschdenken“ (wishful thinking). Das ist allerdings nicht allein die Schuld der Biden-Administration, sondern liegt an der grundsätzlichen Ausrichtung der US-Außen- und Geopolitik der vergangenen dreißig Jahre, die stets eine globale Weltdominanz anstrebte.

Genau diese Auffassung vertritt auch Wertheim, indem er davon spricht, dass die US-Außenpolitik 1992 vom Pentagon formuliert wurde und im US-Streben nach einer „globalen Dominanz Amerikas nach dem Kalten Krieg“ (American global dominance after the Cold War) bestehe. Durch die Aufrechterhaltung „der militärischen Vorherrschaft“ (military primacy) in den meisten Regionen der Welt, strebte die US-Geopolitik jahrzehntelang an, die potentiellen Herausforderer nicht aufkommen zu lassen.

Damit spielt Wertheim offenbar auf das berühmte Strategiepapier „Defense Planning Guidance“ von Paul D. Wolfowitz aus dem Jahr 1992 an. Die konzipierte Präventivstrategie der zum weltweiten Hegemonen aufgestiegenen Supermacht setzte zum Ziel der US-Geopolitik, „den Aufstieg neuer Rivalen überall zu verhindern – also das Emporkommen der Staaten, die Washington feindlich gesinnt seien, und den Aufstieg demokratischer US-Verbündeter wie Deutschland und Japan.“3

Diese US-Geopolitik der vergangenen drei Jahrzehnte ist gescheitert, weil sie das Aufkommen der potentiellen Herausforderer nicht hat verhindern können und mit China und Russland zwei mächtige geopolitische Rivalen bekommen hat. Und so stellt Wertheim zutreffend fest: Die „globale Dominanz Amerikas“ und die „militärische Vorherrschaft“ (military primacy) seien heute nicht mehr aufrechtzuerhalten. Denn „die unipolare Ära ist vorbei“ (the unipolar era is over).

Es ist nicht zum ersten Mal, dass die außenpolitischen US-Experten das Ende der unipolaren Ordnung diagnostizieren. Bemerkenswert an der Diagnose von Wertheim ist allerdings, dass er das Ende der Unipolarität als Folgewirkung der Bestrebungen der USA ansieht, die „globale Dominanz Amerikas“ mit militärischer Gewalt zu etablieren bzw. zu perpetuieren, was letztendlich auch zu der Krise der Unipolarität geführt hat.

Es gebe darum laut Wertheim nur eine Alternative: Die USA müssen entweder die Kosten und Risiken ihres außenpolitischen Engagements reduzieren bzw. zurückfahren oder weiterhin an der „globalen Vorherrschaft“ (global primacy) festhalten und „von Krise zu Krise taumeln“ (lurch from crisis to crisis).

Die Krise der Unipolarität sei eine direkte Folge der Krise der globalen US-Machtanspruchs und Biden konnte diese Krise bis dato nicht überwinden. Seine Außenpolitik sei gescheitert, postuliert Wertheim.

Biden erweist sich – folgt man Wertheims Kritik und denkt sie zu Ende – im Grunde als Sachverwalter der Konkursmasse der unipolaren Weltordnung. Diesem harten Urteil ist kaum etwas entgegenzusetzen.

Und man muss hinzufügen, dass die Biden-Administration mit ihrer Ukraine- und Nahostpolitik den globalen Führungsanspruch der USA in den Augen des sog. „Globalen Südens“ bzw. des Nichtwestens endgültig diskreditiert.

2. Europa als Lückenbüßer der gescheiterten US-Ukrainestrategie

Bidens Versuch, die „globale Dominanz“ bzw. „globale Vorherrschaft“ (global primacy) Amerikas aufrechtzuerhalten und gleichzeitig außenpolitische Prioritäten zu setzen, indem er den Sicherheitsanforderungen im Indopazifik Vorrang vor denen in Europa und im Nahen Osten einräumt, sei kläglich gescheitert, kritisiert Wertheim.

Da „die unipolare Ära vorbei“ sei, schadet das Festhalten der USA an ihrem weltweiten Führungsanspruch den globalen US-Interessen. Damit greift Wertheim seine bereits vor einem Jahr geäußerte Kritik wieder auf, dass nämlich der US-Außenpolitik nach wie vor ein verfehltes, aber immer noch unverändert bestehendes „Streben nach einer globalen Vorherrschaft“ und „globalen Dominanz“ („the pursuit of global primacy“ und „global dominance“) zugrunde liege.4

Statt eine „globale Dominanz“ anzustreben, müssen die USA laut Wertheim Prioritäten setzen. Zwar werden in der im Oktober 2022 veröffentlichten Nationalen Sicherheitsstrategie, die Begriffe „priority,“ „priorities,“ und „prioritize“ dreiundzwanzig Mal erwähnt. Sie hat aber zugleich die von den USA geschmiedeten globalen Allianzen und Partnerschaften als „unser bei weitem wichtigstes strategisches Asset“ (our most important strategic asset) bezeichnet, was laut Wertheim „einem Selbstzweck“ gleichkäme und darum alles beim Alten lasse.

Denn „die Administration wollte eigentlich bestimmte Regionen vom Schreibtisch des Präsidenten fernhalten, blieb aber trotzdem an diesen Orten der wichtigste Sicherheitsakteur“ (In essence, the administration wished to keep certain regions off the president’s desk while remaining the paramount security actor in those same places).

Es gebe nur eine Alternative: entweder Prioritäten zu setzen oder die globale Vorherrschaft (global primacy) aufrechtzuerhalten. Beides werde es gleichzeitig nicht geben. Wenn die USA tatsächlich Prioritäten (priorities), die ihren Interessen entsprechen, setzen und „strategisch handeln“ (to act strategically) wollen, gebe es keine andere Alternative als der Rückzug aus den weniger wichtigen Bereichen.

Mit anderen Worten: Wertheim plädiert für die Rückführung des US-Weltmachtanspruchs auf eines dem ökonomischen und militärischen Machtpotenzial angemesseneres „Normalmaß“. Ist aber die von Wertheim formulierte Alternative wirklich die Lösung der Probleme der US-Außenpolitik? Mitnichten! Eine außenpolitische Prioritätensetzung spricht weder für noch gegen eine „globale Dominanz Amerikas“ und löst damit keineswegs das unlösbare Dilemma der US-Außenpolitik.5

Seine Kritik übersieht zudem einen erkennbaren Versuch der Biden-Administration vor allem im Falle des Ukrainekonflikts Prioritäten durch eine Lastenverlagerung zu setzen. Genau eine solche Lastenverlagerung fordert Wertheim doch selber, wenn er schreibt: „Lastenteilung ist kein Ersatz für Lastenverlagerung“ (Burden sharing is no substitute for burden shifting). Konkret verlangt er: Washington müsse zwischen den Regionen differenzieren und eine klare Arbeitsteilung unter den Bündnispartnern einführen.

Zum einen sollten sich die USA vom Nahen Osten fernhalten und den größten Teil der europäischen Verteidigungslast auf die europäischen Verbündeten abwälzen.

Zum anderen müssen die USA „auf eine wettbewerbsfähige Koexistenz mit China hinarbeiten“ (working to establish competitive coexistence with China), um die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu stabilisieren und gleichzeitig eine militärische Macht, falls nötig, zwecks Verhinderung eines chinesischen Strebens nach regionaler Hegemonie einsetzen zu können.

Das steht aber keineswegs im Gegensatz zu dem, was die Biden-Administration eben bezüglich ihrer Ukrainepolitik neuerdings betreibt, ohne dass Wertheim das offenbar verstanden hat. Biden denkt zwar nach wie vor nicht daran, auf die globale US-Vorherrschaft (global primacy) zu verzichten.

Hinter seiner neuerlichen Vorgehensweise verbirgt sich aber eine zunehmende Distanz zu der ursprünglich geplanten und nunmehr gescheiterten Ukrainepolitik und eine Umorientierung auf eine erkennbar neue US-Ukraine- und Allianzstrategie.

Diese Strategie besteht in einem Versuch, die Lasten der Ukraine-Finanzierung ganz und vollumfänglich auf die europäischen Nato-Verbündeten abzuwälzen, ohne dabei die US-Ordnungsmachtfunktion in Europa aufgeben bzw. beeinträchtigen zu wollen. Die immer wieder zur Schau gestellte strategische US-Umorientierung Richtung Indopazifik kann in diesem Kontext aber auch als ein Ablenkungsmanöver gedeutet werden, um sich aus dem ukrainischen Abenteuer zurückzuziehen und das absehbare Scheitern des Nato-Engagements in der Ukraine auf die EU-Europäer abzuwälzen.

Diese neue US-Ukraine und Allianzstrategie bestätigt Wertheim ja selber indirekt und ungewollt, wenn er schreibt: Der Rückzug der USA aus Europa stellt eine Herausforderung dar. Die Kehrseite ist zwar für die US-Interessen riskant und nicht ungefährlich, aber kalkulierbar und verspricht „ein ideales Ergebnis“, nämlich einen geordneten Übergang zu einer europäischen Führungsrolle in der europäischen Verteidigung (vgl. „Retrenchment from Europe presents a different challenge: the downside risk is more deleterious to U.S. interests but the odds of an ideal outcome—an orderly transition to European leadership of European defense“).

Aus Sicht der Biden-Administration bedeutet dieser „Rückzug“ die Abwälzung der finanziellen Lasten (inclusive das absehbare strategische Scheitern des Ukrainefeldzuges) ganz auf die EU-Europäer, was aus US-Sicht „ein ideales Ergebnis“ (an ideal outcome) darstellt, ohne freilich auf ihre Hegemonialstellung als Ordnungsmacht in Europa verzichten zu wollen. Die Dummen bleiben dann allein die EU-Europäer! Sie dürfen den gefolgschaftspflichtigen Tribut zahlen und dem US-Patron bedingungs- und kritiklos folgen.

Und so stellt Wertheim frohlockend und begeistert fest: Der Ukrainekrieg habe die Lastenverlagerung erstmals möglich gemacht, indem der Krieg die europäischen Nato-Verbündeten dazu anspornte, mehr für ihre Verteidigung auszugeben, und ihnen die Gefahr vor Augen geführt hat, von den Launen Washingtons abhängig zu sein (vgl. „The war in Ukraine has made the transition more feasible by spurring European allies to spend more on defense and … by showing them the danger of depending on the whims of Washington“).

Die Biden-Administration hat, anders ausgedrückt, mit ihrer vermeintlich freundlicheren pro-europäischen Allianzpolitik mehr von den EU-Europäern finanz- und außenwirtschaftspolitisch abverlangt und durchgesetzt als alle Drohgebärden und Schimpftiraden der vorangegangenen Trump-Administration.

Die Statistik zeigt ja, wer der eigentliche Verlierer dieses ukrainischen Abenteuers ist: „Die wirtschaftlichen Kosten für Deutschland nach zwei Jahren Ukraine-Krieg dürften deutlich höher liegen als 200 Milliarden Euro“, sagt der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher. „Vor allem die hohen Energiekosten haben das Wachstum in Deutschland im Jahr 2022 um 2,5 Prozentpunkte oder 100 Milliarden Euro und im Jahr 2023 bis heute um eine ähnliche Größenordnung nochmals reduziert.“

„Das industrienahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) kommt in einer unveröffentlichten Studie auf ein ähnliches Ergebnis: Es beziffert die Kosten des Ukraine-Kriegs und der Folgewirkungen der Corona-Pandemie 2022 und 2023 auf 240 Milliarden Euro.“6

Die Gesamtverluste der EU-europäischen Volkswirtschaften betragen schätzungsweise eine Billion Euro, von der bisherigen finanziellen Unterstützung der Ukraine seitens des Westens im Wert von 252,4 Mrd. € ganz zu schweigen.7 Und man fragt die verängstigten EU-Europäer unbedarft: Wer hat nun Europa mehr geschadet: Biden oder Trump?

All das hat Europa freilich – man sehe und staune – zum eigenen Schaden frei- und mutwillig akzeptiert. Man muss nur einen „richtigen“ Außenfeind identifizieren und benennen und alles läuft im Sinne der US-Geopolitik wie geschmiert.

Biden und seine Mannschaft haben mit ihrer verschlagenen Allianzpolitik eine machiavellistische Kunst des außenpolitischen Handelns vorexerziert, ohne dass die EU-Europäer das bis heute verstanden haben. Wie schön für die US-Außenpolitik und wie bitter für Europa!

Während die russischen Streitkräfte weiterhin in der Ukraine konzentriert seien, frohlockt Wertheim weiter, hätte die transatlantische Allianz die einzigartige Gelegenheit, den Großteil der Verteidigungslast auf die EU und die europäischen Nato-Mitglieder abzuwälzen, ohne Moskau ein Zeitfenster für weitere Aggressionen zu geben. Ein an der Ausgabenkürzung orientierter Präsident würde einen neuen Deal eingehen, der die USA in der Nato hält, zugleich aber die meisten US-Streitkräfte und US-Kapazitäten über ein Jahrzehnt hinweg stets durch die europäischen substituiert (vgl. „While Russian forces remain concentrated in Ukraine, the transatlantic alliance has a unique opportunity to shift the bulk of the defense burden onto the EU and the European members of NATO without allowing Moscow a window of opportunity for further aggression. A retrenchment president would strike a new bargain that keeps the United States within NATO but over a decade steadily replaces most U.S. forces and capabilities with European ones“).

Mit einer derartigen Allianzstrategie wäre auch Trump durch und durch einverstanden. Was Wertheim als eine US-Allianzstrategie empfiehlt, nimmt bereits zu Bidens Amtszeit allmählich Konturen an. Umso merkwürdiger klingt seine Behauptung, dass „die Biden-Administration diesen Ansatz nicht adoptieren will, falls sie eine zweite Amtszeit gewinnt“ (the Biden administration will not adopt this approach if it wins a second term).

Wertheim verkennt offenbar die gerade vor seinen Augen stattfindende Revision der US-Ukraine- und Allianzstrategie durch die Biden-Administration.

Indem er von der Biden-Strategie der „globalen Vorherrschaft“ (global primacy) ausgeht, stellt er fest: „Die Wiederbelebung des Vertrauens in die US-Vorherrschaft nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine erwies sich als kurzlebig“ (The revival of confidence in U.S. primacy following Russia’s invasion of Ukraine has proved short-lived).

Biden dürfe darum keine neuen Verteidigungsverpflichtungen eingehen, um beispielsweise Saudi-Arabien zu verteidigen, wie er es jetzt abwäge. Das würde nur den US-Interessen schaden.

Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Denn vor dem Hintergrund des bevorstehenden Zusammenbruchs der ukrainischen Front hat die Biden-Administration längst begonnen, die finanziellen Kriegslasten auf die europäischen (und neuerdings auch japanischen) Alliierten zu verlagern, wie das inszenierte Schauspiel im US-Kongress bezüglich der Ukraine-Finanzierung deutlich macht.

Wäre die Biden-Administration tatsächlich an der Ukraine-Finanzierung bedingungslos interessiert, hätte sie längst Zugeständnisse an die US-Republikaner bei der Finanzierung und dem Schutz der amerikanisch-mexikanischen Grenze gemacht. Dem ist aber nicht so.

Die Biden-Administration macht vielmehr aus der Not eine Tugend, indem sie vor dem Hintergrund des inszenierten Streits zwischen den Demokraten und Republikanern im Kongress versucht, die finanziellen Verpflichtungen der USA auf die EU abzuwälzen.

Deswegen klingt es ziemlich naiv und unausgegoren, wenn Wertheim am Schluss seiner Ausführungen beteuert: Die USA bräuchten keine globale militärische Dominanz, um zu gedeihen. Was sie tun müssen, sei ihre liberale Demokratie zu retten, ihre Parteipolitik wieder aufzubauen und das Vertrauen ihres Volkes wiederherzustellen. Das Festhalten am Primat wirft diese große Aufgabe zurück. Sie betreibe eine Außenpolitik, die ständig außer Kontrolle gerate, und schaffe ein Land, das seine Selbstkontrolle verliere (vgl. „And that is just fine. The United States does not need global military dominance in order to thrive. What it must do is rescue its liberal democracy, rebuild its party politics, and restore the confidence of its people. Clinging to primacy sets back this great task. It creates a foreign policy that is perpetually out of control, and a country that is losing its sense of self-control“).

Ungeachtet seiner durchaus berechtigten Kritik ist Wertheims Empfehlung eher eine geopolitische Romantik als eine Realpolitik. „Große Nationen setzen Prioritäten“ (Great nations set priorities), beteuert Wertheim hochtrabend. Mag sein! Nur: Der US-Hegemon befindet sich nicht mehr in der komfortablen Lage der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts, in dem er schalten und walten konnte, wie er wollte, sondern in den 20er-Jahren des 21. Jahrhunderts, in denen die US-Hegemonie erodiert und dramatisch an einer globalen Gestaltungsmacht einbüßt.

Da kann der US-Hegemon es sich nicht mehr leisten, wählerisch zu sein und auf die globale Dominanz Amerikas zu verzichten, selbst wenn es zu Lasten seiner europäischen Nato- und EU-Partner geht.

Anmerkungen

1. Vgl. Silnizki, M., George F. Kennan und die US-Russlandpolitik der 1990er-Jahre. Stellungnahme zu
Costigliolas „Kennan’s Warning on Ukraine“. 7. Februar 2023, www.ontopraxiologie.de.
2. Vgl. Silnizki, M., Dreißig Jahre Nato-Expansion. Zur Vorgeschichte des Ukrainekonflikts. 4. Oktober 2023,
www.ontopraxiologie.de.<> 3. Zitiert nach Silnizki, M., Anti-Moderne. US-Welthegemonie auf Abwegen. Berlin 2021, 21 f.
4. Vgl. Silnizki, M., „Globale Dominanz als Selbstzweck“. Zur Frage nach den „Pathologies of Primacy“ in der
US-Außenpolitik. 29. März 2023, www.ontopraxiologie.de.
5. Näheres dazu Silnizki, M., Trump und das Dilemma der US-Außenpolitik. Im Lichte der
Geoökonomisierung der US-Geopolitik. 21. Januar 2024, www.ontopraxiologie.de.
6. Zitiert nach Birgit Marschall, Ukrainekrieg kostet die deutsche Wirtschaft deutlich über 200 Milliarden Euro,
Rheinische Post, 21.02.24.
7. Siehe „Weckruf für Europa“, Handelsblatt, 19.02.24, S. 4 f. (5).

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