Verlag OntoPrax Berlin

Die Märchenerzähler

Heusgens Interview und Ischingers „Tanz auf dem Vulkan“

Übersicht

1. Heusgen als „Militär“- und „Wirtschafsexperte“
2. Heusgen als „Rechtsexperte“
3. Ist eine souveräne und eigenständige EU-Geo- und Sicherheitspolitik möglich?

Anmerkungen

„Die USA werden den Weltpolizisten nicht mehr spielen wollen und können.“
(Christoph Heusgen, Interview, 24.01.24)

1. Heusgen als Militär- und Wirtschaftsexperte

Der Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, hat dem Handelsblatt am 24. Januar 2024 ein Interview gegeben. Zahlreiche Themen wurden in diesem Interview angesprochen, u. a. auch über den Ukrainekonflikt und das Verhältnis des Westens zu Russland.

Was da geschrieben steht, irritiert und befremdet. Es sind nicht nur die Äußerungen über die Vorgeschichte des Konflikts, die irritieren, sondern auch die Pose eines „Militärexperten“, der genau weiß, woran die sog. ukrainische „Gegenoffensive“ im Frühjahr und Sommer gescheitert ist.

Als Militärexperte ist Heusgen bis zu diesem Interview jedenfalls nicht aufgefallen. Jetzt aber erblickt er urteilssicher das Scheitern darin, dass der Ukraine „nicht die militärischen Mittel zur Verfügung (standen), die sie für ihre Gegenoffensive gebraucht hätte.“

„Ich bedaure“ – fügt er gleich hinzu -, „dass Deutschland zum Beispiel die Leopard-Panzer erst sehr spät und die Taurus-Marschflugkörper immer noch nicht geliefert hat.“ Heißt das im Umkehrschluss, dass die „Gegenoffensive“ erfolgreich wäre, hätte die Ukraine rechtzeitig die Leopard-Panzer und die Taurus-Marschflugkörper geliefert bekommen?

Als wäre das nicht genug, beteuert unser „Militärexperte“, dass es leichter gewesen wäre, Putin, hätte er „früher erkannt, dass die russische Position in Gefahr ist … zum Einlenken zu bringen. Heute glaubt er, dass Russland am längeren Hebel sitzt. Ich hoffe aber, dass man doch zu einem Waffenstillstand und einer für die Ukraine annehmbaren politischen Lösung des Konflikts kommt.“

Die zitierte Äußerung irritiert und man fragt sich, ob Heusgen die deutsche Öffentlichkeit bewusst oder aus Unkenntnis in die Irre führt. Zum einen glaubte Putin immer und nicht nur jetzt, dass „Russland am längeren Hebel sitzt“. Dessen ungeachtet war er zu jeder Zeit zu Friedensverhandlungen bereit. Den Beweis hat Russland bereits ein Monat nach dem Kriegsausbruch geliefert, als es im März/April 2022 einen unterschriftsreifen Vertrag ausgehandelt hat, bis die Angelsachsen die Friedensverhandlungen zunächst gestoppt, sodann torpediert und anschließend zu Nichte gemacht haben.

Der britische Ex-Premier, Boris Johnson, kann das alles bestätigen.1 Zum anderen ist es sehr rührend, wenn Heusgen für einen Waffenstillstand plädiert und sich Sorgen um eine „annehmbare politische Lösung des Konflikts“ für die Ukraine macht.

Nur geht es in diesem blutigen Konflikt leider nicht allein um die Ukraine, sondern genauso um eine Neugestaltung der gesamteuropäischen Friedens- und Sicherheitsordnung bzw. um die von Russland am 15. Dezember 2021 an die Nato-Staaten gestellten Forderungen, die die russischen Sicherheitsinteressen unmittelbar tangieren.

Weiß Heusgen als Chef der Münchener Sicherheitskonferenz davon nichts? Oder lenkt er nur den interessierten Leser davon ab? Ohne die Beachtung der vitalen russischen Sicherheitsinteressen wird es weder einen Waffenstillstand noch ein Kriegsende in der Ukraine noch einen Frieden in Europa geben.

Offenbar ist sich Heusgen dessen gar nicht bewusst, es sei denn, er will bewusst davon nichts wissen. Wenn das letztere der Fall ist, dann muss seine Konferenzveranstaltung nicht so sehr „die Münchener Sicherheitskonferenz“ als vielmehr die Münchener Kriegskonferenz heißen.

Nun zeigt sich Heusgen nicht nur als ein „Militär“- und „Sicherheitsexperte“, sondern auch als „Wirtschaftsexperte“, der auf die Frage des Interviewers, ob „der Westen mit Sanktionspolitik nur eingeschränkt Effekte erzielen kann“, mit einer in der letzten Zeit üblich gewordenen, nicht desto weniger aber inhaltsleeren Floskel antwortete: „Nein. Sanktionen brauchen ihre Zeit“.

„Auf lange Sicht sind wir alle tot,“ hätte John Maynard Keynes auf solche Sprüche spöttisch reagiert. Und so könnte man auch Heusgen zurufen: Nicht nur „Sanktionen brauchen ihre Zeit“; sie können sich „auf lange Sicht“ auch totlaufen.

Dieser Spott würde unseren „Wirtschaftsexperten“ freilich gar nicht irritieren, beteuert er doch im gleichen Atemzug, dass die westlichen Sanktionen im „Kalten Krieg“ auch die Sowjetunion zum Fall brachten: „Letztlich ist die Sowjetunion auch gescheitert, weil ihr Wirtschaftssystem zusammenbrach.“ So simpel kann nun mal die Gedankenwelt der Repräsentanten unserer Funktionseliten sein.

Heusgen ignoriert einfach, dass die Sowjetunion seit ihrer Entstehung nicht nur den schärfsten Sanktionen ausgesetzt, sondern auch ein geschlossener und autarker Wirtschaftsstaat war, dessen geistiger Vordenker nicht so sehr die marxistische Ideologie als vielmehr Johann Gottlieb Fichte mit seiner im Jahre 1800 veröffentlichten Schrift „Der geschlossene Handelsstaat“ war.

Ob die Sowjetwirtschaft als „geschlossener Handelsstaat“ effizient und wettbewerbsfähig war, ist eine ganz andere Frage. Dass die Sowjetunion aber wegen „westlichen Sanktionen“ gescheitert sei, ist eine gewagte These, die von der Sowjetologie nicht ohne weiteres bestätigt wird.

2. Heusgen als „Rechtsexperte“

Bei einer weiteren Lektüre seines Interviews stellt sich heraus, dass Heusgen nicht nur als Militär- und Wirtschaftsexperte, sondern auch als „Rechtsexperte“ auftritt.

„Russland hat sich an kein Abkommen gehalten“, behauptet Heusgen unverfroren und holt weite aus: „Es hat 1994 der Ukraine versprochen, seine territoriale Integrität und Souveränität zu respektieren, wenn die Ukraine die auf ihrem Territorium stationierten Atomwaffen abrüstet. Die Ukraine hat Russland vertraut. Dieses Vertrauen haben Tausende Ukrainer mit ihrem Leben bezahlt. Die Unterschrift Putins auf einer neuerlichen Vereinbarung ist für die Ukraine wertlos, wenn ihr die Nato-Staaten nicht gleichzeitig für den Fall einer neuerlichen russischen Aggression Sicherheitsgarantien geben, bis hin zu einem Nato-Beitritt. Das würde Putin beeindrucken.“

Es ist nicht zum ersten Mal, dass Heusgen sich zu solchen die jüngste Vergangenheit verklärten Behauptungen hinreißen lässt. Bereits in einem anderen, ebenfalls dem Handelsblatt am 16. Dezember 2022 gegebenen Interview unter einer ziemlich forschen Überschrift „Eine Lösung gibt es nur mit dem Ende des Putins-Regimes“ hat Heusgen eine durch nichts belegte Behauptung aufgestellt, dass Putin „sich nicht an das Minsker Abkommen gehalten (hat), das eine diplomatische Lösung für die Besetzung des Donbass erlaubt hätte“.

Die historische Wahrheit sieht genau umgekehrt aus: Der Westen war es, der nicht nur das Minsker Abkommen gebrochen hat, sondern von Anfang an nicht einmal vorhatte, es zu erfüllen. Als außen- und sicherheitspolitischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel muss Heusgen das gewusst haben.

Merkel hat das selber vor gut einem Jahr auch bestätigt. In einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit vom 7. Dezember 2022 sagte die Kanzlerin: „Auch wir hätten schneller auf die Aggressivität Russlands reagieren müssen.“ Und das Minsker Friedensabkommen von 2014 nannte sie einen „Versuch, der Ukraine Zeit zu geben“, berichtet Die Zeit.

Bereits vor Merkels Äußerung gab der ukrainische Ex-Präsident Petro Poroschenko (2014-2019), der an den Minsker Verhandlungen unmittelbar beteiligt war, unumwunden zu, dass die Ukraine zu keiner Zeit daran gedacht hat, die Minsker Vereinbarungen zu erfüllen.

Vielmehr hat sie für sich Zeit gewonnen, um die ukrainische Armee zu stärken und mit Hilfe der Nato aufzubauen. Wörtlich sagte er am 17. November 2022: „Мне нужны были эти Минские соглашения чтобы получить как минимум четыре года, чтобы сформировать украинские вооруженные силы, строить украинскую экономику и обучать украинских военных вместе с НАТО (Ich brauchte diese Minsker Vereinbarungen zumindest für vier Jahre, um die ukrainischen Streitkräfte und die ukrainische Wirtschaft aufzubauen sowie das ukrainische Militär mit Hilfe der Nato auszubilden).“

Poroschenkos Äußerung bestätigte kein geringerer als der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, als er bereits am 15. Oktober 2022 der Tagesschau ein Interview gab. Auf die ARD-Frage: „Wie würden Sie das Gleichgewicht zwischen der russischen und der ukrainischen Armee auf dem Schlachtfeld einschätzen?“ antwortete Stoltenberg: „Der Mut und die Entschlossenheit der Ukrainer ist viel höher als bei den russischen Streitkräften. Deren Moral ist niedriger. Hinzu kommt, dass die Ukrainer erfahrener sind. Denn seit 2014 haben Nato-Verbündete die ukrainischen Streitkräfte ausgebildet und ausgerüstet. Die ukrainischen Streitkräfte sind also viel besser ausgebildet, viel besser geführt, viel besser ausgerüstet und viel größer als im Jahr 2014. Und das ist der Grund, warum die Ukraine jetzt in der Lage ist, sich auf ganz andere Weise zu wehren als 2014, als Russland zum ersten Mal einmarschierte und die Krim illegal annektierte.“

Wie man sieht, hat sich der Westen „an kein Abkommen gehalten“. Denn das Minsker-Abkommen war für die EU-Europäer nichts weiter als ein Spiel auf Zeit, um das ukrainische Militär auszubilden und aufzurüsten?

Davon will Heusgen heute nichts hören und nichts wissen! Lieber betreibt er eine proukrainische Kriegspropaganda. Als wäre das nicht genug, betreibt er – sei es vorsätzlich oder aus purer Unwissenheit – Geschichtsklitterung mit seiner Behauptung: Russland habe „1994 der Ukraine versprochen, seine territoriale Integrität und Souveränität zu respektieren, wenn die Ukraine die auf ihrem Territorium stationierten Atomwaffen abrüstet. Die Ukraine hat Russland vertraut.“

Auch das ist weit hergeholt. Heusgen sollte sich zunächst gründlich informieren lassen, bevor er derartiges unqualifiziertes Interview gibt.

Er erweckt den Eindruck, als hätte die Ukraine nur deswegen auf die Stationierung der Atomwaffen verzichtet, weil Russland „1994 der Ukraine versprochen (hat), seine territoriale Integrität und Souveränität zu respektieren.“

Dem ist zu entgegnen: Erstens besaß die Ukraine zwar zum Zeitpunkt der Auflösung der UdSSR das drittgrößte Atomwaffenarsenal der Welt, hatte aber keine Verfügungsgewalt darüber, da Russland im Besitz der für den Einsatz der Atomwaffen erforderlichen Freischaltcodes war.

Zweitens konnte sie das Atomwaffenarsenal gar nicht finanzieren, da sie nach dem Zerfall der Sowjetunion pleite war. Das bestätigte kein geringerer als der erste ukrainische Staatspräsident, Leonid Kravčuk (1991-1994), in einem Interview für die Deutsche Welle am 12. Dezember 2014. Die Finanzierung hätte laut Kravčuk fünfundsechzig Dollar Milliarden gekostet. Die Ukraine hätte aber leere Kassen.

Und drittens übten die Bush- und Clinton-Administrationen unter Drohung, die Ukraine zu isolieren, einen massiven Druck auf die Ukraine aus und forderten sie die auf die in der Ukraine stationierten Atomwaffen zu verzichten. Das zeigt nur, dass die Bedeutung des ukrainischen Atomwaffenverzichts für das Budapester Memorandum nicht überschätzt werden darf.

Was das Budapester Memorandum selber angeht, so wurde es von der Staatsduma nie ratifiziert und ist darum rechtlich nicht bindend gewesen. Selbst die deutsche Botschafterin in der Ukraine, Anka Feldhusen, hat in einem Interview (November 2020) erklärt, dass das Memorandum nicht mehr als eine politische Deklaration und kein internationaler Vertrag sei.

Dieser Auffassung schloss sich im Übrigen auch der ehem. US-Botschafter in der Ukraine, Steven Karl Pifer (1998-2000), der bei der Unterzeichnung des Memorandums anwesend war. In einem dem Fernsehkanal „112 Ukraine“ am 5. Dezember 2019 gegebenen Interview hat er darauf hingewiesen, dass im englischen Text des Memorandums das Wort „assurances“ und nicht „guarantees“ steht.

Woher Heusgen seine Kenntnisse nimmt, bleibt sein Geheimnis, es sei denn, er redet einfach ins Blau hinein. Das ist aber in seinem Amt als Chef der Münchener Sicherheitskonferenz schlicht unverantwortlich, in einer solch aufgeheizten Stimmung zusätzlich die unnötigen antirussischen Ressentiments zu schüren.

Vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund kann man von einer Verletzung der territorialen Integrität und Souveränität der Ukraine mit Verweis auf das Budapester Memorandum gar keine Rede sein. Der Ukrainekrieg muss vielmehr im Zusammenhang mit dem als „Maidan-Revolution“ verklärten Staatsstreich 2014 betrachtet werden.

Dieser Staatsstreich hat die Verfassung der Ukraine vom 28. Juni 1996 in eklatantester Weise verletzt

(Art. 5: „Niemand darf die Staatsgewalt usurpieren“) und die von der Verfassung garantierten freundschaftlichen russisch-ukrainischen Beziehungen (Art. 10: „In der Ukraine wird die freie Entwicklung, der Gebrauch und der Schutz der russischen Sprache und der anderen Sprachen der nationalen Minderheiten der Ukraine garantiert“) in Frage gestellt.

Es war nur die Frage der Zeit, dass auch der von der Verfassung garantierte Neutralitätsstatus der Ukraine (Art. 17: „Auf dem Territorium der Ukraine ist die Errichtung ausländischer Militärstutzpunkte nicht gestattet“) ausgehebelt wird.

Die Besorgnis der russischen Führung, dass beispielsweise die Halbinsel Krim von der Nato zum Stutzpunkt benutzt wird, war allzu verständlich. Es wäre für Russland eine geostrategische Katastrophe.

Und wenn Heusgen nach wie vor darauf beharrt, dass die Nato-Staaten „für den Fall einer neuerlichen russischen Aggression Sicherheitsgarantien geben (sollen), bis hin zu einem Nato-Beitritt“ der Ukraine, dann hat er immer noch nicht verstanden, worum es Russland in diesem Krieg eigentlich geht.

Sollten die Transatlantiker mit Heusgen an der Spitze weiterhin am Nato-Beitritt der Ukraine festhalten, dann wird dieses Vorhaben unweigerlich zum Krieg in Permanenz in Europa führen.

3. Ist eine souveräne und eigenständige EU-Geo- und Sicherheitspolitik möglich?

Auf die Frage des Interviewers nach einem „schuldenfinanzierten Rüstungsfonds auf europäischer Ebene“ antwortet Heusgen vorsichtig distanziert: „Ich würde einen solchen Fonds zumindest nicht ausschließen, glaube aber, dass wir noch etwas anderes brauchen: Wir brauchen in unserem Land, in Europa eine breite gesellschaftliche Diskussion darüber, wie viel uns unsere Sicherheit wert ist.“

Da ist sein Vorgänger im Amt des Chefs der Münchener Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, nicht so zurückhaltend. Empört und verärgert schreibt er in seinem kleinen Artikel „Tanz auf dem Vulkan“ für das Handelsblatt am 26. Januar 2024:

„Es herrscht Krieg in Europa. Eigentlich müsste es angesichts einer mehr als zwanzigfachen ökonomischen Überlegenheit des Westens ja ein Leichtes sein, Russland – mit einer Wirtschaftsleistung etwa wie Spanien – schlicht und ergreifend totzurüsten. Eigentlich müsste allen bewusst sein, dass die militärische Produktion der USA 1943 und in den Folgejahren umfangreicher war als die der sämtlichen anderen Kriegsteilnehmer des Zweiten Weltkriegs und dass das das Kernelement des Sieges der Alliierten 1945 war.

Weit gefehlt: Die EU-Mitglieder treiben im Bereich von Rüstung, Bewaffnung und Beschaffung neue Blüten klassischer europäischer Kleinstaaterei. … Noch nicht einmal vollmundige Artilleriemunitionsversprechen konnte Brüssel einlösen …“

Sieht man von der fragwürdigen These, „dass die militärische Produktion der USA 1943 und in den Folgejahren … das Kernelement des Sieges der Alliierten 1945 war“, ab und lässt man die Anspielung auf das „Totrüsten“, in dessen Folge „Putins Russland“ das gleiche Schicksal wie das des Sowjetsystems wiederfahren könnte, auf sich beruhen, so stellt sich in der Tat die von Ischinger aufgeworfene Frage: Wie ist es überhaupt möglich, dass der Westen mit seiner erdrückenden ökonomischen Überlegenheit Russland weder ökonomisch noch militärisch in die Schranken weisen kann?

Und hier sollte man schleunigst mit einem tiefsitzenden Vorurteil der vom Wohlstand verwöhnten und vom Triumphalismus nach dem Ende des „Kalten Krieges“ immer noch ergriffenen westlichen Eliten aufräumen, dass eine „zwanzigfache ökonomische Überlegenheit des Westens“ Russland nicht nur ökonomisch in die Knie zwingen, sondern auch kriegsunfähig machen – wenn nicht gar kriegsentscheidend sein – kann.

Denn eine „zwanzigfache ökonomische Überlegenheit des Westens“ bedeutet nicht automatisch dessen zwanzigfache Überlegenheit im Bereich der „militärischen Produktion“. Davon kann gar keine Rede sein.

Wie Hal Brands (Henry A. Kissinger Distinguished Professor of Global Affairs an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies) neuerlich in seiner Studie „The Next Global War“ (Foreign Affairs, 26. Januar 2024) gezeigt hat, haben selbst die USA heute große Schwierigkeiten, „die riesigen Munitionsvorräte herzustellen, die für Konflikte zwischen Großmächten benötigt werden, oder die in den Kämpfen verlorenen Schiffe, Flugzeuge und U-Boote zu ersetzen“, von den fehlenden militärischen Produktionskapazitäten der EU-Europäer ganz zu schweigen.

Wie Brands weiter schreibt, heiß es in einem Pentagon-Bericht, dass China mittlerweile „in vielen Bereichen die globale Industriemacht – vom Schiffbau über kritische Mineralien bis hin zur Mikroelektronik“ geworden sei, was ihm im Wettbewerb mit den USA einen entscheidenden Mobilisierungsvorteil verschaffen könnte.

Auch die russische Rüstungsindustrie hat beachtliche Kapazitäten aufgebaut, was im Wesentlichen noch mit der zu Zeiten des Sowjetsystems übermilitarisierten sowjetischen Volkswirtschaft zusammenhängt, in deren Folge gigantische Rüstungskonglomerate entstanden sind, nach dem Ende des „Kalten Krieges“ stillgelegt und heute reaktiviert bzw. modernisiert wurden.

Die von Ischinger in Erinnerung gerufene „militärische Produktion der USA 1943 und in den Folgejahren“, die umfangreicher als die der sämtlichen anderen Kriegsteilnehmer des Zweiten Weltkriegs“ war, ist vor dem Hintergrund des Gesagten irrelevant, irreführend und nicht zielführend.

Hinzu kommt noch ein innerwestliches Problem, das weit in die Zeiten des „Kalten Krieges“ zurückgeht und die westeuropäische Rüstungsindustrie ungeachtet der europäischen Wirtschaftsmacht ausbremst und marginalisiert.

Das Problem lag in einem gängigen Vorurteil, das ökonomisches Machpotential mit realpolitischer Machtgenerierung vermengte und dem selbst Henry Kissinger unterlag, als er Mitte der 1960er-Jahre mit Bezug auf die westeuropäischen Bündnispartner annahm, dass das Anwachsen der Wirtschaftsmacht Westeuropas „auch die Rückkehr Europas zu seiner traditionell dynamischen Politik mit sich bringen“ würde und dass deshalb die westeuropäischen Länder sich die Mittel schaffen würden, „eine eigene, spezifisch europäische Politik“ zu betreiben.2

Kissingers Äußerung kommentierend, wies Lothar Ruehl bereits 1974 auf „Kissingers Missverständnis der europäischen Situation“ hin, das „in dem nicht näher bestimmten Begriff der >wirtschaftlichen Macht< (liegt). Solche >Macht< kann letztlich nur auf der Fähigkeit beruhen, Macht selbst zu bilden und zu erhalten oder fremde Macht zu kaufen. In beiden Fällen handelt es sich um die Umsetzung von Reichtum in Machtmittel.“3

Mit anderen Worten: Die „wirtschaftliche Macht“ ist nicht gleichbedeutend mit dem militärischen Potential und die militärische Macht bedarf anderer Voraussetzungen, die nicht allein auf die überlegene Wirtschaftsmacht zurückzuführen sind.

„Die westeuropäischen Staaten“ – meinte Ruehl (ebd.) – „haben gemeinsam die Kaufkraft, um Machtmittel zu erwerben, und die Wirtschaftskraft, um sie selbst zu erzeugen. Aber diese Fähigkeiten sind noch keine Macht, sondern nur ein materielles Machtpotential, das erst genutzt und eingesetzt werden muss, damit Macht entstehen kann.“

Warum konnten aber die Westeuropäer zurzeit des „Kalten Krieges“ und die EU-Europäer von heute „ein materielles Machtpotential“ nicht nutzen und einsetzen, um damit die militärische Macht zu generieren? Ischinger führt dieses Phänomen, wie gesehen, auf die „klassische europäische Kleinstaaterei“ zurück.

Ruehl sah hingegen das Problem in der US-amerikanischen Europapolitik, die beharrlich und irrtümlich das ökonomische Machtpotential mit „Macht“ gleichsetzte und dadurch „die Machtbildung durch Umsetzung von materieller Masse in Energie, konkret gesagt: die westeuropäische Machtkonzentration zu einer politisch-strategischen Aktionseinheit in Autonomie von den Vereinigen Staaten“ blockierte (ebd.).

So forderte auch Kissinger 1973 inmitten der Entspannungspolitik „eine Beschränkung der regionalen Autonomie“ Westeuropas. Er ging davon aus, dass „die amerikanische Sicherheitspartnerschaft mit der Sowjetunion … eher einen europäischen Machtverzicht begünstigen (muss) als eine europäische Machtbildung, zumindest im strategisch relevanten Bereich der Rüstung und der Verteidigung, aber auch auf dem Feld der allgemeinen auswärtigen Politik“ (Ruehl, ebd., 177).

Dieser zurzeit des „Kalten Krieges“ festzustellende „Machtverzicht“ und die damit eingehende geo- und sicherheitspolitische Machtlosigkeit und Machtarmut der Westeuropäer dauern bis heute unvermindert fort. Und es war der Nationale Sicherheitsberater der Präsidenten Kennedy und Johnsons, McGeorge Bundy (1961-1966), der geradezu prophetisch aus der Abhängigkeit der Westeuropäer von der nach Europa verlagerten amerikanischen Macht die Schlussfolgerung zog, die da lautet: Die westeuropäischen Bündnispartner hätten sich ein für allemal mit diesem Zustand abgefunden und übten „einen dauerhaften >Machtverzicht< aus …., der die Minderung der Rolle Europas in der Welt als >irreversibel< erscheinen lasse.“4

Dass die USA selber daran nicht ganz unschuldig sind, unterschlug Bundy geflissentlich. Die von ihm diagnostizierte „Irreversibilität“ erzeugt freilich bis heute eine geo- und sicherheitspolitische Vasallität der EU-Europäer gegenüber den USA, deren „psychologisch-moralische Folge“ als „die zynische Resignation der Entmachteten“ (Ruehl, ebd.) charakterisierte.

Diese subjektiv-psychologische Seite des „Machtverzichts“ erklärt aber immer noch nicht, warum die Wirtschaftsmacht nicht gleichbedeutend mit der realpolitischen Macht ist. Die Behauptung, dass die ökonomische und monetäre Macht die geo- und sicherheitspolitischen Machtverhältnisse maßgeblich bestimmen und letztlich die militärische Macht generieren kann, „hat nur dann Geltung, wenn die Wirtschaftskraft entweder strategische Autonomie oder fremde Schutzmacht ohne Vorbehalt, ohne Einschränkung, ohne Frist kaufen kann. Weder das eine noch das andere kann das europäische Geld im Verhältnis zu Amerika und der Sowjetunion. Deshalb ist Westeuropa reich geworden, … aber es ist machtlos und unselbstständig geblieben“, diagnostizierte Ruehl (ebd., 177 f.) inmitten des „Kalten Krieges“.

Nichts anders verhält es sich auch heute. Heute ist die Lage für die EU-Europäer sogar noch prekärer als zurzeit des Ost-West-Konflikts, da neben der vermeintlichen oder tatsächlichen „russischen Gefahr“ die anderen wirtschaftsstarken Groß- und Supermächte wie China und Indien zu den einflussreichen globalen Machtzentren aufgestiegen sind, welche die EU-Wirtschaftsmacht nivellieren (können).

Erschwerend kommt noch ein merkwürdiges Phänomen hinzu: Der sich abzeichnende Verlust der globalen US-Hegemonie geht einher mit einer Zunahme und nicht Abnahme der regionalen US-Hegemonie gegenüber der EU. Das zeigt sich allein schon daran, dass es den USA gelungen ist, die EU-Europäer um sich zu scharen und im Ukrainekrieg gegen Russland in Stellung zu bringen.

Es geht so weit, dass die EU-Europäer bereit waren und sind – bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt – ihre Wirtschaftsinteressen zum eigenen Schaden zu opfern, um sich hinter dem US-Hegemon zu scharen. Das ist zwar ein erstaunlicher, aber nachvollziehbarer Vorgang, was die oben zitierte Äußerung von McGeorge Bundy aus den 1960er-Jahren nur noch bestätigt, dass nämlich ein „dauerhafter >Machtverzicht< …. die Minderung der Rolle Europas in der Welt als >irreversibel< erscheinen lasse“, wodurch es sicherheitspolitisch auf den nuklearen Schutzschirm der USA angewiesen ist.

Vor diesem Hintergrund sind die USA als Garant der europäischen Sicherheit aus Sicht der EU-Europäer unverzichtbar ungeachtet ihres ökonomischen und monetären Machtpotentials.

Der geo- und sicherheitspolitische Wert Europas unterliegt hingegen für die USA seit dem Ende des Ost-West-Konflikts einer allmählichen Neubewertung nicht zuletzt angesichts eines fulminanten Aufstiegs Chinas zum ernsthaften US-Konkurrenten im Machtkampf um die globale Hegemonie.

Freilich ist der mit der Neubewertung des transatlantischen Verhältnisses einhergehende Bedeutungsverlust Europas für die USA ambivalent: Zum einen ist die EU für die globale US-Hegemonie unverzichtbar; zum anderen verlagert sich der US-Machtkampf um die globale Vorherrschaft nach Nordostasien, was die geo- und sicherheitspolitische Bedeutung Europas für die USA mindert.

Und in diesem unlösbaren Spagat zwischen Unverzichtbarkeit und Bedeutungsverlust Europas befinden sich die USA in ihrem scheinbar nie enden wollenden Machtkampf um die globale Weltdominanz. Und wo steht Europa? Am Rande des gigantischen eurasischen Kontinents als Objekt der Großmächterivalität zwischen Russland, China und den USA.

Ein jahrzehntelang praktizierter „Machtverzicht“ hat Europa geo- und sicherheitspolitisch „irreversibel“ (?) machtunfähig gemacht, sodass seine Wirtschaftskraft nur dann und insofern mächtig werden kann, solange es vom US-Hegemon seinen geopolitischen Intentionen entsprechend instrumentell gebraucht und missbraucht wird. Der anschauliche Beweis dafür ist der Ukrainekonflikt.

Um als Instrument der US-Geopolitik nicht mehr gelten und eine geo- und sicherheitspolitisch relevante Macht werden zu können, muss die EU eine Streitmacht mit einem vergleichbaren konventionellen und nuklearen Machtpotential wie das der anderen nuklearen Groß- und Supermächte werden, um von ihnen ernst genommen zu werden.

Wie soll das aber gehen? Aus heutiger Sicht ist es ein Ding der Unmöglichkeit. Denn es bedarf nicht nur hunderte und aberhunderte Milliarden Euros und einer geeigneten Infrastruktur zum Aufbau eines europäischen Nuklearpotentials, sondern auch der mentalen Voraussetzungen der europäischen Gesellschaften, die dieses wahnwitzige, weil anachronistische Projekt akzeptiert hätten.

Woher sollte die Akzeptanz vor allem in Deutschland kommen, wenn es selbst eine friedliche Nutzung der Atomenergie rigoros ablehnt? Es gibt allerdings auch einen anderen gangbaren Weg, wovon die EU-Europäer momentan nichts wissen und nichts hören wollen: den Aufbau der europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung mit und nicht ohne oder gegen Russland.

Dieser Weg ist freilich den EU-Europäern versperrt, solange sie in einer unüberwindbaren geo- und sicherheitspolitischen Abhängigkeit von den USA stehen und der US-Hegemon für die EU-Europäer eine unverzichtbare Ordnungsmacht in Europa bleibt. Und hier zeigt sich mit aller Deutlichkeit, wie wenig die ökonomische und monetäre Macht eine souveräne und eigenständige EU-Geo- und Sicherheitspolitik generieren kann.

Anmerkungen

1. Näheres dazu Silnizki, M., Im strategischen Niemandsland. Zwischen unerwünschtem Frieden und
erfolglosem Krieg. 9. Dezember 2023, www.ontopraxiologie.de.
2. Kissinger, H., The Troubled Partnership. A Reappraisal Of The Atlantic Alliance, New York 1965 (deutsch
Was wird aus der westlichen Allianz? Düsseldorf 1965). Zitiert nach Ruehl, L., Machtpolitik und
Friedensstrategie. Hamburg 1974, 176.
3. Ruehl (wie Anm. 2), 177.
4. Zitiert nach Ruehl (wie Anm. 2), 176.

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