Verlag OntoPrax Berlin

Pensionäre als Atomprediger

Das Gerede von der atomaren Abschreckung und Aufrüstung

Übersicht

1. Joschka – der Zauberlehrling
2. Ein „zweites Afghanistan“ oder ein „zweites Vietnam“?

Anmerkungen

„Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister
Werd’ ich nun nicht los.“

(Der Zauberlehrling)

  1. Joschka – der Zauberlehrling

Es ist in der letzten Zeit eine merkwürdige Diskussion aufgekommen. Als würden wir uns immer noch inmitten des „Kalten Krieges“ befinden, rufen zwei Pensionäre zur atomaren Abschreckung und Aufrüstung auf.

Sei es aus purer Langweile oder aus einem Selbstinszenierungsdrang hat der grüne Ex-Außenminister Fischer, genannt Joschka (geb. 1948), der gegen die friedliche Nutzung der Atomenergie lebenslang gekämpft hat, heute nichts anderes im Sinne, als im „zarten“ Alter von 75 Jahren der atomaren Abschreckung und Aufrüstung das Wort zu reden.

„Wir müssen unsere Abschreckungsfähigkeit wiederherstellen“, verkündet Fischer, genannt Joschka („Zeit Online“, 3.12.2023). Zwar gefalle ihm der Gedanke daran „überhaupt nicht“, beschwichtigt Joschka, aber der Ex-Außenminister Fischer ist „besorgt“ und der festen Überzeugung, dass kein Weg daran vorbeiführe. „Solange wir einen Nachbarn Russland haben, der der imperialen Ideologie Putins folgt, können wir nicht darauf verzichten, dieses Russland abzuschrecken, sagt Fischer „unserem“ Joschka.

Und der andere Pensionär, Herfried Münkler (geb. 1951), sekundiert: „Wir brauchen einen gemeinsamen Koffer mit rotem Knopf“.

In einem Interview mit dem „Stern“ fordert unser Pensionär „mit rotem Knopf“ bereits ein paar Tage zuvor am 29.11.2023: „Europa muss atomare Fähigkeiten aufbauen“. „Die Briten“ – mutmaßt er – „haben zwar Atom-U-Boote, Frankreich die Bombe, aber werden sie die wirklich einsetzen, um Litauen oder Polen zu schützen? Das darf man aus Sicht des Kremls bezweifeln. Wir brauchen einen gemeinsamen Koffer mit rotem Knopf, der zwischen großen EU-Ländern wandert.“

Jawohl, den „roten Knopf“, „der zwischen großen EU-Ländern wandert“, brauchen wir. Unbedingt! So wie ein Tourist im Sommerurlaub wird der „rote Knopf“ jeder Sommer aus einem EU-Land in das andere EU-Land „wandern“ und dessen Repräsentanten gemütlich am Strand sitzend mit ihm spielen. Was will man mehr?

Warum glaubt Münkler aber, dass man nur den Briten und Französen nicht trauen kann? Kann man etwa den US-Amerikanern trauen, dass sie die EU-Europäer mit ihrem imaginären nuklearen Schutzschirm gegen den Kreml verteidigen werden?

Wieso ist er da so sicher? Glaubt Münkler wirklich, dass der US-Schutzpatron Litauen, Polen, Deutschland oder wen auch immer beschützen wird, um die eigene atomare Vernichtung in Kauf zu nehmen? Und warum soll der Kreml überhaupt die EU-Länder angreifen? Diese Fragen interessieren aber unsere Pensionäre gar nicht.

Sie haben offenbar gar nicht mitbedacht, worauf sie sich da mit ihrem atomaren Gerede einlassen. Verantwortung müssen sie ja nicht (mehr) tragen. Umso mehr ist man irritiert darüber, dass sie im Namen der Allgemeinheit von „wir“ sprechen.

Wer ist hier „wir“? Und wer hat „unserem“ Joschka denn erzählt, dass Putin „der imperialen Ideologie“ folgt? Hat er sie womöglich in einem schlechten Traum geträumt? Oder hat „unser“ Joschka vergessen, wie ein gewisser Außenminister Fischer – gerade an die Macht gelangt – sich für einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Volksrepublik Jugoslawien 1999 mitentschieden hat? Hat Joschka damals dem Außenminister Fischer etwa auch „die imperiale Ideologie“ vorgeworfen?

Offenbar hat Joschka vergessen, wie der Außenminister Fischer inmitten des Kosovokrieges die aufgeheizte Stimmung weiter anheizte: „Nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen. Deswegen bin ich in die Grüne Partei gegangen“? (Auszug aus der Joschka Fischer-Rede auf dem Parteitag am 13.05.1999).

Mit diesen Worten rechtfertigte Fischer die Entscheidung der Bundesregierung, die unter gewaltigem Druck der Clinton-Administration, vor allem der US-Außenministerin Madeline Albright, stand, in den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu ziehen. Hat Joschka das vergessen?

Der Kosovokrieg war angeblich zur Durchsetzung des „internationalen Rechts“ bzw. „der Herrschaft des Rechts“ erforderlich und sogar – wenn man Bundeskanzler Schröder und Vizekanzler Fischer Glauben schenkt – „alternativlos“.

Bereits kurz nach dem Beginn des Kosovokrieges behauptete der Bundeskanzler Gerhard Schröder: „Wir haben eine Entscheidung getroffen, die nach unserer Auffassung ohne Alternative war“ (Der Spiegel 15 (1999), S. 32). Seitdem haben wir des Öfteren von einer vermeintlichen „Alternativlosigkeit“ der deutschen Politik gehört.

Und Fischer pflichtete dem Kanzler nach dem Kriegsende bei: „Es gab nie wirklich eine Alternative, selbst für die nicht, die diesen Krieg heftig kritisiert haben“ (Der Spiegel 25 (1999), S. 34). Wirklich nicht? Die historischen Forschungsergebnisse malen uns ein ganz anderes Bild.

Man fragt sich zudem irritiert: Wie will man denn das „internationale Recht“ bzw. die „Herrschaft des Rechts“ durchsetzen, indem man es gleichzeitig bricht? Der Einsatz der militärischen Gewalt erfolgte ohne die Zustimmung des Weltsicherheitsrates.

Dass der Kosovokrieg zur Bekämpfung „schwerster Menschenrechtsverletzungen“ oder gar zur Vermeidung eines „Völkermords“ diente, widerspricht den umfangreichen Forschungsergebnissen. Mehr noch: Statt Sicherheit und Wohlstand erzeugte der Kosovokrieg Tod und Vernichtung, Verelendung der Bevölkerung und Zerstörung der elementaren Lebensgrundlagen des Landes und fußte darüber hinaus auf falschen, zum Teil verfälschten Behauptungen.1

Die Nato müsste selbst schließlich eingestehen, dass die Zielsetzung der Intervention, „weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte zu unterbinden und eine humanitäre Katastrophe zu verhindern“ (Gerhard Schröder, Erklärung zur Lage im Kosovo, Bonn 24.03.1999), nicht eingelöst werden konnte und dass die „humanitäre Intervention“ „inhumanere Auswirkungen zeitigte als die Belgrader Politik in der gesamten Zeit der (aus Sicht der Kosovo-Albaner) kommunistisch-serbischen Herrschaft über Kosovo“.2

Hat Joschka alles vergessen? Oder will Joschka uns all das vergessen lassen, was der Außenminister Fischer dem gemeinen Volk damals verkauft hat, und uns heute aber wieder weismachen, dass nur Putins „imperiale Ideologie“ an allem schuld sei. Diese Irreführung der Öffentlichkeit hat sich anscheinend in der grünen Partei zu einer „guten“ Tradition entwickelt.

Offenbar in Unkenntnis der Geschichte der eigenen grünen Partei warf Fischers Nachfolgerin im Amt, die amtierende Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, neuerlich in einem FAZ-Gastbeitrag „Gegen Putins Weltordnung der Gewalt“ vom 10. Dezember 2023 Putin die Verletzung des „internationalen Rechts“ vor: „Wladimir Putin kämpft nicht nur gegen die Ukraine. Er kämpft auch für eine Weltordnung, in der internationales Recht nichts gilt. Dagegen müssen wir uns wehren“, empört sich die grüne Außenministerin.

Nun ja, zurzeit des Kosovokrieges war sie – zu ihrer Entschuldigung gesagt – keine 19 Jahre alt. Sie muss ja nicht alles wissen! Oder doch? Muss sie nicht wissen, dass für die grüne Partei das internationale Recht bereits seit 1999 disponibel geworden ist? Da ist sie in einer guten Gesellschaft mit Joschka, der längst vergessen hat, was Fischer gemacht hat.

Aus der einst pazifistisch gesinnten grünen Partei ist längst eine militante Kriegspartei geworden, die sich „Military Humanism“ (Noam Chomsky) auf ihre Fahne geschrieben hat. Und so heißt es in ihrem FAZ-Gastbeitrag getreu der grünen Kriegslogik: Man dürfe den Krieg nicht „einfrieren“, „damit auch die Schulkinder in Charkiw wieder dauerhaft in Frieden leben können“. Man müsse sich schließlich gegen „Putins Weltordnung der Gewalt“ zur Wehr setzen.

Offenbar weist die grüne Außenministerin auch hier nicht, obschon sie es besser wissen sollte, dass die „Weltordnung der Gewalt“ bereits seit gut zwanzig Jahren existiert – lange bevor die russischen Invasionstruppen in die Ukraine einmarschierten.

Bereits 2003 plädierte der verstorbene Soziologe Karl Otto Hondrich (1937-2007) für eine – wie er es nannte – „Weltgewaltordnung“. Indem er den Krieg ganz im Sinne der Außenministerin als die „Hoch-Zeit der Moral“ charakterisierte, rechtfertigte er vor dem Hintergrund des am 20. März 2003 ausgebrochenen Irakkrieges die vom US-Hegemon angeführte „Weltgewaltordnung“.3

Und jetzt beklagt sich die grüne Außenministerin wie einst Goethes Zauberlehrling über „die Geister“, die ihr Vorgänger rief und sie „nun nicht (mehr) los (werde)“.

Ganz im Sinne dieser „modernen“ grünen Außenpolitik hat Joschka – an die alten „guten“ Zeiten des Außenministers Fischer erinnernd – aus der Mottenkiste des „Kalten Krieges“ eine atomare Abschreckungsstrategie ausgegraben – im Glauben „Putins Weltordnung der Gewalt“ >abschrecken< zu können, um die bellizistischen „Geister“, die Fischer rief, nun endlich loszuwerden und zurück in die „Büchse der Pandora“ zu zwingen.

Zu spät, viel zu spät! Glaubt Joschka wirklich, dass Fischer wirklich glaubt, Putin mit dieser Strategie wirklich abschrecken zu können? Da hätte Helmut Schmidt, der von Joschka einst als Sponti „bekriegt“ wurde, ihm diesen Unsinn schnell aus dem Kopf geschlagen und ins Stammbuch geschrieben, dass die sog. „glaubhafte (atomare) Abschreckung“ dummes Zeug und leeres Gerede sei.4

Auf die Frage, ob zu der Abschreckung auch gehöre, dass Deutschland sich eigene Atomwaffen anschaffe, sagte Fischer: „Das ist in der Tat die schwierigste Frage. Sollte die Bundesrepublik Atomwaffen besitzen? Nein. Europa? Ja. Die EU braucht eine eigene atomare Abschreckung.“ Denn: Die Welt habe sich verändert, und Russlands Präsident Wladimir Putin arbeite „auch mit nuklearer Erpressung“.

Glaubt Joschka auch hier, was Fischer beteuert, dass Putin „mit nuklearer Erpressung“ arbeite? Hat er das nur gehört oder gelesen? Vielleicht wurde Putin ins Deutsche falsch übersetzt, fragt Joschka sich. Worauf Fischer ihm wahrscheinlich sagen würde, dass er dasselbe auch in Englisch gelesen. Und die englische Übersetzung ist „natürlich“ jeden Zweifel erhaben.

Offenbar sind sich die beiden Pensionäre Joschka und Münkler gar nicht darüber im Klaren, dass Russland schon heute in der Lage wäre, ganz Europa in wenigen Stunden und mehrmals in Schutt und Asche zu legen. Von welcher atomaren Abschreckung fantasieren sie da überhaupt. Sie sollten lieber auf Verständigung mit Russland statt auf Abschreckung setzen.

Dazu fehlt ihnen aber die Phantasie. Zu sehr stecken sie im Gehäuse des „Kalten Krieges“ fest und zu wenig haben sie aus der Geschichte gelernt.

2. Ein „zweites Afghanistan“ oder ein „zweites Vietnam“?

Das Gerede von einer nuklearen Abschreckung und Aufrüstung der EU ist kein Zufall, ist doch eine nukleare Eskalation seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine stets in aller Munde. Zuletzt haben Keir A. Lieber und Daryl G. Press das Thema in ihrer Studie „The Return of Nuclear Escalation“ (Foreign Affairs, 24.10.23) aufgegriffen und mit Bezug auf den Ukrainekonflikt beteuert: „Russia is threatening to use nuclear weapons in its war in Ukraine“ (Russland droht in seinem Krieg in der Ukraine mit dem Einsatz von Atomwaffen).

Sieht man von dem Atomwaffensperrvertrag bzw. dem Nichtverbreitungsvertrag (NVV) ab, der u. a. das Verbot der Verbreitung und die Verpflichtung zur Abrüstung von Kernwaffen regelt, so fragt man sich: Wie soll die EU eine solche nukleare Infrastruktur aufbauen, die die nukleare Bedrohung seitens der nuklearen Supermacht Russland abschrecken könnte? Und wer soll all dieses nukleare Abenteuer überhaupt finanzieren? Die grüne Partei aus ihrer Portokasse?

Die sich hier zu stellende Frage ist freilich eine ganz andere: Wie kommen die beiden Pensionäre Fischer und Münkler darauf, dass Putin „der imperialen Ideologie“ folge, mit „nuklearer Erpressung“ arbeite und überhaupt die Nato-Länder bedrohe?

Die europäische Geschichte und erst recht die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts erzählt uns etwas ganz anderes. In den vergangenen zweihundert Jahren waren es die europäischen Großmächte, die Russland überfallen haben und nicht umgekehrt.

„Die Russen“ – meinte der US-Diplomat Georg W. Ball (1909-1994) einst, der unter den Präsidenten John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson Staatssekretär im US-Außenministerium war, – „sind wiederholt vom Osten her überrannt worden und allein in diesem Jahrhundert zweimal vom Westen überfallen worden. Sie haben eine pathologische Furcht vor Umzingelung. Wenn wir mutwillig versuchen sollten, sie zum rücksichtslosen Handeln zu verleiten, dann können wir am erfolgreichsten sein, wenn wir die atavistische Umklammerungsangst der Russen verstärken und sie an zwei Fronten bedrohen.“5

Und genau das ist eingetreten, wovor Ball uns noch zurzeit des „Kalten Krieges“ gewarnt hat. Der Westen hat in den vergangenen dreißig Jahren nach dem Ende des Ost-West-Konflikts mit seiner Nato-Expansionspolitik nichts unversucht gelassen, um „die atavistische Umklammerungsangst der Russen“ zu schüren und es „zum rücksichtslosen Handeln“ zu verleiten.

Statt jedoch diese >Urangst< der Russen ernst zu nehmen, wird eine Angst vor Russen geschürt, die Nuklearhysterie verbreitet und über die „nukleare Erpressung“ Russlands schwadroniert. Diese „Philosophie der Angst“ – dieses immer noch nicht überwundene Schlagwort „lieber tot als rot“ – führt uns in die Irre, verstellt den Blick auf die realen Gefahren, die lauern, und verschleiert unser eigenes Unvermögen oder Unwillen, uns in die Lage des Rivalen zu versetzen, um seine ureigenen Interessen zu begreifen und notfalls anzuerkennen.

Wenn es so weitergeht, dann wird genau das eintreten, was einer der Vordenker der russischen Außenpolitik, Sergej Karaganov, uns bereits vor gut einem Jahr warnte: „Наши противники должны понять, что они поставили себя и мир на порог ада“ (Unsere Gegner müssen verstehen, dass sie sich und die Welt an den Rand des Abgrunds brachten).6

Momentan fährt der Westen eine Strategie, die man in Anlehnung an Robert S. McNamara die Strategie einer „kontrollierten Eskalation“ bezeichnen könnte. Die Strategie zielte damals (wie heute im Ukrainekonflikt) darauf ab, die nordvietnamesischen Kräfte mürbe zu machen und irgendwann erschöpfen zu lassen.

Und wenn es den Chinesen und den Sowjets klarzumachen gelänge, „dass Amerika an einer Ausweitung dieses Konflikts über deutlich begrenzte Ziele hinaus nicht interessiert sei, dann – so sagte sich der >zweibeinige Computer< im Pentagon“, wie manche McNamara nannten – würde man diesen Krieg mit der Zeit austrocknen können.

Diese US-Strategie sollte allein „der Erhaltung des Status quo, der Wiederherstellung der Machtverhältnisse vor dem Konflikt“ dienen. „Der militärische Einsatz wurde genauso groß dosiert, wie es dieses Ziel nach Ansicht des Pentagon verlangte.“7

„Man wollte nicht gewinnen“ – kommentiert Woller diese US-Strategie im Vietnamkrieg -, „sondern war von vorherein auf einen Kompromiss aus. Man wollte den Kommunisten nur zeigen, dass Amerika sich nichts vom Brot nehmen lässt“ (ebd., 31).

Wie sehr ähnelt diese US-Kriegsführungsstrategie doch der US-Strategie im Ukrainekrieg. Lediglich die modale Begründung hat sich geändert. Es ist nicht so, dass die US-Strategen den Krieg nicht gewinnen wollen; sie können es nur nicht darauf ankommen lassen, den Ukrainekonflikt soweit eskalieren zu lassen, dass er in eine nukleare Konfrontation umschlägt.

Und so strampelten sich die USA im Vietnamkrieg „von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr immer tiefer in diesen Kriegssumpf hinein. Und man merkte im Weißen Haus und im Pentagon nicht, dass die rechnerische Methode des Verteidigungsministers McNamara in Wirklichkeit der Sowjetunion die Initiative überließ. Moskau bestimmte die Höhe des Einsatzes in diesem Krieg.“ (ebd.)

Genau dasselbe geschieht anscheinend auch heute im Ukrainekonflikt. Nach dem Scheitern der Friedensverhandlungen im März/April 2022 und einem teils freiwilligen, teils erzwungenen Teilrückzug aus den besetzten Territorien im Sommer 2022 hat sich die russische Militärführung offenbar für eine vorsichtigere defensive Strategie des Abnutzungskrieges entschieden, deren Ziel nicht etwa eine territoriale Eroberung um jeden Preis, sondern die Wehrlosmachung des Gegners ist.

Diese defensive Strategie der Russen haben die US-Kriegsstrategen als Schwäche und einen desolaten Zustand der russischen Armee missinterpretiert, welche unfähig sei, die Kriege des 21. Jahrhunderts zu führen.

Aufgerüstet mit dieser Fehldiagnose und voller Selbstüberschätzung hat der Westen die ukrainischen Streitkräfte mit Milliarden und Abermilliarden Dollars sowie tonnenweise Waffen vollgepumpt, nach monatelangen Vorbereitungen in die sog. Konteroffensive (ab 4. Juni 2023) geschickt, die letztendlich im Sand verlaufen und gescheitert ist.

Analysiert man den Verlauf des Kriegsgeschehens zwischen Sept. 2022 und Nov./Dez. 2023, so kommt man unweigerlich zu dem Ergebnis, dass die von Russen etwa seit Sept. 2022 gefahrene defensive Kriegsführungsstrategie ein durchschlagender Erfolg war, wohingegen die von den US-Kriegsstrategen gesteuerte Konteroffensive der Ukraine außer Dezimierung der ukrainischen Streitkräfte und der Vernichtung des beinahe gesamten vom Westen gelieferten Kriegsmaterials nichts gebracht hat.

Wer den Gegner unterschätzt, muss sich dann über das Endergebnis der eigenen Fehldiagnose nicht wundert. Erneut bewahrheitet sich die alte Weisheit: Russland sei nicht so schwach, wie man denkt, und nicht so stark, wie es vorgibt.

Kurzum: Der Westen hat bis zum Scheitern der ukrainischen Konteroffensive gar nicht verstanden, dass er von Moskau vorgeführt wurde und dass Moskau zumindest seit Sept./Okt. 2022 begann, das Kriegsgeschehen strategisch zu kontrollieren. Die Russen befinden sich immer noch in einer – wie sie es nennen – „aktiven Verteidigung“.

Vor diesem Hintergrund ist das Gerede von einer „nuklearen Eskalation“ oder „nuklearen Erpressung“ Russlands fehl am Platz. Die russische Führung hat es gar nicht nötig, mit Atomwaffen zu drohen, wo sie doch alle Chancen hat, diesen blutig geführten Krieg auch konventionell für sich zu entscheiden.

Sie wissen zudem ganz genau, dass keine Atommacht die andere mit ihren Kernwaffen vernichten kann, ohne ihrerseits nicht vernichtet zu werden. Nun fragt unsereiner irritiert, was um alles in der Welt die russische Führung dazu bringen könnte oder sollte, einen nuklearen Konflikt zu provozieren, der selbst nach russischer Lesart zu einem weltweiten Atomkrieg mit verheerenden Folgen für alle führen muss.

Das Gerede von einer nuklearen Abschreckungsstrategie und Nuklearaufrüstung ist darum ein Irrweg und führt in eine strategische Sackgasse, die eskalierend wirkt, statt zu deeskalieren. Oder nehmen unsere Pensionäre mit ihrem nuklearen Gerede eine weitere Eskalation des Konflikts zwischen Russland und dem Westen billigend in Kauf?

Freilich haben Fischer und Münkler eine Rechnung ohne den russischen Wirt gemacht. In seinem am 7. Dezember 2023 erschienenen Artikel „2024 – Das Jahr des geopolitischen Erwachens“ (2024 — Год геополитического пробуждения) schreibt Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes, Sergej Je. Naryškin, u. a. über die Zukunftsperspektiven des Ukrainekonflikts im Jahr 2024 folgendermaßen: „Bezüglich der Lage in der Ukraine ist zu erwarten, dass die westlichen Politiker aufgrund objektiver Unmöglichkeit eines militärischen Sieges über unser Land versuchen werden, die Kämpfe so weit wie möglich in die Länge zu ziehen und den Ukrainekonflikt in ein >zweites Afghanistan< (>второй Афганистан<) zu verwandeln, indem sie auf unsere allmähliche Erschöpfung in diesem zermürbenden Kampf setzen …

Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass die weitere Unterstützung der Kiewer Junta nicht zuletzt wegen einer zunehmenden >Toxizität< des ukrainischen Themas für die transatlantische Einheit und die westliche Gesellschaft den Niedergang der weltweiten Autorität des Westens beschleunigen wird. Die Ukraine selbst wird mit fortscheitender Zeit immer mehr in ein >schwarzes Loch< fallen, das die materiellen und menschlichen Ressourcen verschlingt.

Letztendlich laufen die USA Gefahr, ein >zweites Vietnam< (>второй Вьетнам<) zu erleben, mit dem sich jede neue US-Administration zu tun haben wird, bis in Washington eine mehr oder weniger vernünftige Person an die Macht kommt, die genug Mut und Entschlossenheit hat, diesen >Wahnsinn< zu überwinden.“

Ein „zweites Afghanistan“ (второй Афганистан) oder ein „zweites Vietnam“ (второй Вьетнам): Das ist die Alternative, vor dem wir laut Naryškin 2024 stehen: Washington müsse seiner Meinung nach aufpassen, dass es statt eines erhofften „zweiten Afghanistans“ für Russland die Wiederholung eines „zweiten Vietnams“ für die USA erlebe.

Die Spekulation des Chefs des russischen Auslandsgeheimdienstes darüber, dass die USA seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine das Ziel verfolgen, Russland eine Niederlage vergleichbar mit der im Afghanistankrieg der 1980er-Jahre zuzufügen, ist bemerkenswert. Darauf habe ich bereits am 16. März 2022 hingewiesen.8

Von Anfang an witterten die US-Geostrategen seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine die einmalige Chance, Russland eine Niederlage in der Art des gescheiterten sowjetischen Afghanistankrieges in den 1980er-Jahren zuzufügen, indem sie verklausuliert stets von einer sog. „strategischen Niederlage“ sprachen.

Als alter Haudegen des „Kalten Krieges“ hat Biden das sowjetische Afghanistan-Desaster der 1980er-Jahre und dessen Folgen noch gut in Erinnerung. Der Einmarsch der Sowjets in Afghanistan 1979 und der darauffolgende langjährige Afghanistankrieg haben mutmaßlich auch zum Untergang des Sowjetreiches beigetragen.

Nun rät Naryškin den USA von diesen Träumen ab und warnt sie seinerseits vor dem „zweiten Vietnam“. Die Alternative: ein „zweites Afghanistan“ oder ein „zweites Vietnam“ ist freilich nichts weiter als ein Phantasiegebilde, das fern jeder geo- und sicherheitspolitischen Realität ist.

Was auf dem ukrainischen Schlachtfeld stattfindet, ist weder ein „zweites Afghanistan“ noch ein „zweites Vietnam“. Was im Ukrainekrieg stattfindet, ist ein Kampf um eine neue europäische und globale Sicherheitsarchitektur. Die Invasion in die Ukraine war – wenn man so will – Russlands Verzweiflungsakt. Sein Ziel war die Rückkehr zum Machtgleichgewicht als dem sicherheitspolitischen Ordnungsprinzip des „Kalten Krieges“, das als das „Gleichgewicht des Schreckens“ überhöht wurde.

Denn nur ein Machtgleichgewicht ermöglicht letztlich im nuklearen Zeitalter eine Kriegsvermeidungsstrategie, wohingegen eine Macht-Dysbalance als Ordnungsprinzip der europäischen Sicherheit früher oder später zum Krieg führt. Und der Ukrainekrieg zeigt eben dieses fehlende Machtgleichgewicht in Europa.

„Je stärker aber das Gleichgewicht der Macht sich ausprägt“, schrieb Helmut Schmidt inmitten des „Kalten Krieges“, „um so mehr verfestigt es den gegenseitigen Besitzstand und die Einflussbereiche. Eine Strategie des Gleichgewichts tendiert zur Strategie der Aufrechterhaltung des Status quo; denn wer den Status quo ändern will, tendiert zu einer Störung des Gleichgewichts. Deshalb haben die beiden nuklearen Weltmächte in den sechziger Jahren ihre gegenseitigen Einflusssphären markiert und respektiert.“9

Die Nato-Expansionspolitik hat in den vergangenen dreißig Jahren alles getan, um die ureigenen Sicherheitsinteressen Russlands nicht zu respektieren. Das sicherheitspolitische Ordnungsprinzip, das auf einer permanenten Expansion beruht, „tendiert (zwangsläufig) zu einer Störung des Gleichgewichts“ und in deren Schlepptau zu einer permanenten Verletzung des Status quo.

Wer aber das Status quo-Prinzip für disponibel erklärt, gewährleistet keine Sicherheitsordnung in Europa, sondern konstituiert eine europäische Unsicherheitsarchitektur. Die Wiederherstellung eines Machtgleichgewichts in Europa und nicht das verantwortungslose Gerede von der nuklearen Abschreckung und Aufrüstung soll darum heute das Gebot der Stunde sein.

Anmerkungen

1. Näheres dazu Silnizki, M., Ist „das Zeitalter des humanitären Interventionismus“ zu Ende? Stellungnahme
zu Jürgen Trittins These. 13. September 2021, www.ontopraxiologie.de.
2. Zitiert nach Pradetto, A., Integration, Regimewechsel, erzwungene Migration. Die Fälle Kosovo,
Afghanistan und Irak. Frankfurt 2008, 21.
3. Näheres dazu Silnizki, M., Im Würgegriff der Gewalt. Wider Apologie der „Weltgewaltordnung“. 30 März
2022, www.ontopraxiologie.de.
4. Vgl. Schmidt, H., Einleitung, in: Kahn, H., Eskalation. Die Politik mit der Vernichtungsspirale. Berlin
1965, 24.
5. Ball, G. W., Kalte Kriegsmanie im Weißen Haus, in: Bittorf, W. (Hg.), Nachrüstung. Der Atomkrieg rückt
näher. Spiegel-Verlag. Hamburg 1981, 167-170 (169).
6. Караганов, С., „Это надо прямо назвать Отечественной войной“, in: Россия в глобальной политике,
26. September 2022.
7. Vgl. Woller, R., Der unwahrscheinliche Krieg. Stuttgart 1970, 30 f.
8. Silnizki, M., Das friedlose Europa. Zum Scheitern der europäischen Sicherheitsordnung. 16. März 2022,
www.ontopraxiologie.de.
9. Schmidt, H., Strategie des Gleichgewichts. 5. Aufl., Stuttgart 1970, 19.

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