Über einen neuen US-Interventionismus
Übersicht
- Gibt es eine westliche „Interventionsmüdigkeit“?
- Von der Gefahr der Globalisierung des Krieges
Anmerkungen
„Selbst eine theoretische Lösung des Kriegsproblems“ hängt nicht so sehr
von der Frage nach einer „Zukunft der Menschheit“ als vielmehr von der
Frage ab, „ob die Menschheit überhaupt eine Zukunft haben wird.“
(Hannah Arendt)1
- Gibt es eine westliche „Interventionsmüdigkeit“?
Neulich druckte das Handelsblatt einen Artikel von Almut Wieland-Karimi ab, die von 2009 bis 2022 das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) in Berlin leitete und derzeit als Politikberaterin für die Stiftung Mercator und den UN Peacebuilding Fund tätig ist. Der am 7. September 2023 veröffentlichte Artikel trägt den mit Fragezeichen versehenen Titel „Das Ende der humanitären Interventionen?“.
Bereits im ersten Satz ihrer Ausführungen stellte Wieland-Karimi die kühne These auf, dass es „eine internationale Interventionsmüdigkeit“ gibt, und meinte anschließend: „Das Scheitern in Afghanistan, Libyen und Irak hat zu großer Ernüchterung in den USA und in ihren westlichen Partnerstaaten … geführt.“
Der erste Satz verrät schon eine terminologische Mainstream-Konformität der Autorin. Dass der „internationalen Interventionsmüdigkeit“ in Wahrheit keine „internationale“, sondern die vom Westen bzw. den USA (noch) dominierte Weltordnung zugrunde liegt, die „den Namen der internationalen Gemeinschaft usurpiert“ hat,2 diese Erkenntnis scheint der Autorin entgangen zu sein.
Ohne sich offenbar dessen bewusst zu sein, dass die sog. „humanitären Interventionen“ ein Produkt der nach dem Ende der bipolaren Systemkonfrontation entstandenen „unipolaren Weltordnung“ ist, schreibt sie euphemistisch: „In den 1990er- und 2000er-Jahren gab es so viele humanitäre Interventionen wie niemals sonst: Somalia, Bosnien, Haiti, Kosovo, Afghanistan, Irak und schließlich Libyen im Jahr 2011. Ihre Bilanz fällt unter dem Strich eher negativ aus: Obwohl Bosnien und Kosovo als Erfolg wegen der Eindämmung von Gewalt gelten, sind die Konfliktursachen weiterhin ungelöst.“
Wo die „humanitären Interventionen“ „sonst“ waren, darauf geht die Verfasserin der zitierten Zeilen nicht ein. Die verheerenden Zerstörungen der erwähnten Länder und die Vernichtung von zahllosen Menschenleben werden dabei als „eher negativ“ verharmlost. Dass dem Kosovo-Krieg Tausende unschuldige Zivilisten (man schätzt zwölf bis dreizehntausend) zum Opfer gefallen sind und die Nato-Allianz unter der US-Führung einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Volksrepublik Jugoslawien geführt hat, wird „als Erfolg wegen der Eindämmung von Gewalt“ gepriesen.
Gleichzeitig gesteht die Autorin, dass „die Konfliktursachen weiterhin ungelöst“ bleiben. Von welchem Erfolg kann dann überhaupt die Rede sein? Allein die sog. „Kollateralschäden“ (das Unwort des Kosovo-Krieges) für die Umwelt und Natur waren verheerend, von deren geopolitischen Folgen ganz zu schweigen. Zwar rühmten sich die Nato-Verbündeten, Russland „mit ins Boot“ geholt zu haben, „über die dunkle Seite der Kriegspolitik, die politisch-psychologischen Langzeitwirkungen, schweigen sie sich aber aus“.3
Als Mary Wynne Ashford, Ko-Präsidentin der seit Jahrzehnten einer völlig unideologischen, blockübergreifenden Friedensarbeit verpflichteten Organisation Internationale Ärzte gegen den Atomkrieg (IPNW, Trägerin des Friedensnobelpreises), im Mai 1999 Moskau besucht hat, berichtete sie von einer „tiefgreifenden Veränderung der öffentlichen Meinung in Russland, die sogar von Moskauer Mitgliedern der IPPNW ausgedrückt wird. Eines unserer langjährigen Mitglieder vertritt nicht mehr Atomwaffen-Abrüstung, sondern nukleare Abschreckung. … Wissenschaftler, Politiker, Ärzte und Generäle sagten uns alle das gleiche: dass die Nato-Bombenangriffe auf Jugoslawien die Abrüstung um 20 Jahre zurückgeworfen haben. … >Heute Serbien, morgen Russland< sei im Bewusstsein der Menschen tief verwurzelt. … Offizielle Außenpolitiker … sagen uns, Russland hätte keine andere Wahl als auf Atomwaffen zurückzugreifen, da ihre konventionellen Militärkräfte unzureichend seien. Als ich sie fragte: >Falls Russland nur eine einzige Atomwaffe einsetzen würde, hätte dies den Abschuss von Hunderten oder Tausenden von Raketen der USA zur Folge?<, nickten sie und sagten: >Ja, das wäre Selbstmord, aber wie können wir uns sonst verteidigen?< Als ich Moskau verließ, empfand ich die gleiche Furcht wie in der Reagan-Zeit, das gleiche Gefühl von Unwirklichkeit.“4
Und man liest erstaunt weiter: „Nach einem 20-jährigen Einsatz mit tausenden von Toten, Kosten von einer Billion Dollar allein auf US-Seite sowie strategischen Fehleinschätzungen haben die USA im Jahr 2020 das Doha-Abkommen mit den Taliban geschlossen.“ Haben die sog. „humanitäre Interventionen“ aber wirklich nur „tausende von Toten“ und lediglich „eine Billion Dollar“ gekostet? Auch hier verharmlost Wieland-Karimi! Auf astronomische acht Billionen Dollar schätzt man die Kosten aller in den vergangenen zwei Jahrzehnten geführten US-Interventions- und Invasionskriege.
Noch schlimmer sieht es bei den Opferzahlen aus. Die Opferzahlen der US-Interventionen und Invasionen nach dem 11. September 2001 in Afghanistan, Irak, Libyen, Jemen, Somalia, Syrien, Jemen und nicht zuletzt ein fortwährender Drohnenkrieg überall und zu jeder Zeit wurden zwar offiziell weder erfasst noch veröffentlicht. Manche Untersuchungen beziffern sie aber auf mehrere Millionen.
Allein im Irak wird die Opferzahl auf „etwa 2,4 Millionen Menschen“5 geschätzt. In Afghanistan „liegt die Zahl der seit 2001 auf beiden Seiten getöteten Afghanen bei etwa 875.000, mindestens 640.000 und maximal 1,4 Millionen“ (ebd., 141). In Kombination mit Pakistan schätzt Nicolas J. S. Davies diese „bis Frühjahr 2018 auf etwa 1,2 Millionen getöteter Afghanen und Pakistanis durch die US-Invasion in Afghanistan seit 2001“ (ebd., 142) usw.
Vor diesem Hintergrund stellt Wieland-Karimi offenkündig ohne ein historisches und geopolitisches Hintergrundwissen auf einer volkstümlichen Weise klar, was „humanitäre Intervention“ aus ihrer Sicht bedeuten. Sie ist „ein schwieriges Begriffspaar. … Die Wortbindung >humanitär< mit >Intervention< ist zudem irreführend. Solche Interventionen sind vor allem dann erfolgt, wenn geopolitische Interessen dahintersteckten, wie die Bekämpfung von Terrorismus oder die Herstellung von Stabilität in einem bestimmten Land, um Migration zu verhindern und Rohstoffe auszubeuten. Sicherlich gab es auch eine humanitäre Komponente dieser Einsätze. Sie war jedoch eher Beifang als Hauptziel.“
Eine solche rein deskriptive Deutung des Sachverhaltes ist wenig hilfreich und kaum erhellend, erklärt sie doch weder den Ursprung des Begriffs noch die Interventionsursachen. Diese Deutung der weltpolitischen Entwicklungen in der Zeit nach dem Ende der bipolaren Weltordnung ist umso erstaunlicher, als die Zeitgenossen – wie beispielsweise Andreas Buro (1928-2016) – bereits frühzeitig auf eine unaufhaltsame Militarisierung der westlichen Außen- und Geopolitik hingewiesen haben.
„Die Umgestaltung der alten zu einer >neuen Nato<, wie sie neuerdings offiziell genannt wird, die außerhalb des Verteidigungsauftrages, also out-of-area, tätig wird, zeigt“ – prophezeite Buro in seinem Vortrag „Militärgewalt und Globalisierungsprozess“ vom 21. Februar 1997 – „eindeutig: Die reichen Industriestaaten unter Führung der USA organisieren ein weltweites militärisches Eingreifsystem. Darin übernimmt die Nato die Zuständigkeit vom Atlantik bis weit nach Afrika, Nahost und Asien.“
Im Hinblick auf das bereits in den 1990er-Jahren sichtbar gewordene Streben der Nato nach einer weltweiten Expansionspolitik stellt Buro eine die Zukunft vorwegnehmende These auf: Die „Sieger im Ost-West-Konflikt … bauen ein gemeinsames, globales militärisches Interventionssystem auf, in dem die USA eine eindeutig hegemoniale Position haben.“
Die sog. „humanitären Interventionen“ sind darum nichts anders als Ausfluss aus diesem „globalen militärischen Interventionssystem“ und sind folgerichtig weder „humanitär“ noch haben sie eine „humanitäre Komponente“ oder überhaupt mit irgendeiner „Humanität“ und schon gar nicht mit der „Herstellung von Stabilität“ oder Migrationsbekämpfung etwas zu tun. Ganz im Gegenteil: Die Interventionen haben meistens die Stabilität in zahlreichen Ländern zerstört und eine Migrationswelle ausgelöst.
Die Apologeten der „humanitären Interventionen“ sprechen oft und gern von Demokratie und Menschenrechten, wo es doch primär um die westliche Weltdominanz, die US-Hegemonie bzw. eine Etablierung, Entwicklung und den Ausbau der „unipolaren Weltordnung“ geht. Kein geringerer als Zbigniew Brzezinski hat uns diese Erkenntnis mit entwaffnender Deutlichkeit ins Stammbuch geschrieben, als er mit Bezug auf die US-Invasion im Irak 2003 die Bedeutung des Konflikts präzise auf den Punkt brachte: „Es geht nicht um den Irak. Es geht um unsere globale Rolle.“6
„Humanitäre Interventionen“ waren die Folge des Untergangs des ideologischen Systemrivalen, des Endes der bipolaren Weltordnung und des daraus resultierenden Aufstiegs der USA zur Hegemonialmacht – eine „Weltmacht ohne Gegner“,7 die es sich leisten konnte, ohne Rucksicht auf die Gegenmacht nach Belieben schalten und walten zu können.
Mit dem Kosovo-Krieg etablieren die USA eine hegemoniale Interventionspraxis unter Umgehung des UN-Rechts und machen die vom Völkerrecht geächteten Angriffskriege wieder salonfähig – Angriffskriege, die man im Nachhinein als „humanitär“ verklärt. Die „responsibility to protect,“ womit der Westen seine „humanitäre Interventionen“ zu legitimieren und zu rechtfertigen suchte, diente weder der Humanität noch einer imaginären „Demokratisierung“ noch den Menschenrechten, sondern ist ein machtpolitisches Selbstermächtigungsinstrument zwecks Durchsetzung der von der geopolitischen Opportunität geleiteten Hegemonialinteressen.
Die „responsibility to protect“ geht auf eine Initiative der kanadischen Regierung zurück, „die als Reaktion auf den Kosovo-Krieg … dazu beitragen sollte, Grundsatzfragen des internationalen Schutzes der Menschenrechte in aktiven Konflikten aufzuarbeiten … Aber gerade der Anlass für diese Krise (der Kosovo-Krieg) zeigt, dass die liberalen Demokratien auf der anderen Seite selbst einen erheblichen Anteil an der >Weltordnungskrise< … haben, die beide umfasst: das Völkerrecht und die UN.“8
Mit dem Kosovo-Krieg wurde die UN-Nachkriegsordnung endgültig zu Grabe getragen, indem das höchste Prinzip der UN-Charta, die kollektive Friedenssicherung, de facto auf die „Friedensschaffung“ durch die vom US-Hegemon dominierte Hegemonialordnung überging. Es war nur folgerichtig vom Vorsitzenden des Beratungsausschusses beim US-Verteidigungsministerium, Richard Perle, 2002 seine „tiefe Besorgnis“ darüber zu erklären, dass den Vereinten Nationen das Recht zugesprochen werde, über Krieg und Frieden zu entscheiden, wo doch diese Berechtigung mit größerer Legitimation der NATO als der Gemeinschaft demokratischer Staaten zustünde (International Harald Tribune, 28.11.2002, S. 4).9
Die folgenschwere Transformation der UN-Völkerrechtsordnung in eine unipolare Weltordnung hat Ingeborg Maus bereits 1999 mit einer kaum zu überbietenden Deutlichkeit klar gemacht: „Dient heute die Berufung auf Menschenrechte direkt der Legitimation militärischer Aktionen und wird die UN-Charta … interventionsgerecht uminterpretiert“ – schrieb die große alte Dame der deutschen Rechts- und Verfassungstheorie, Ingeborg Maus, bereits 1999 -, „so werden umgekehrt Menschenrechte in diesem neuen Kontext um genau die individualistische Dimension verkürzt, die ihre ursprüngliche Bedeutung ausmachte: Die militärische Intervention zum Zweck der Menschenrechte kommt als militärische nicht umhin, gleichzeitig ganz fundamentale Menschenrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu verletzen, ohne doch die Zustimmung der betroffenen Individuen als Träger dieser Rechte einholen zu können. Menschenrechte werden so von individuellen subjektiven Rechtsansprüchen zu objektiven Systemzwecken verkehrt.“10
„Humanitäre Interventionen“ waren somit nie dazu da, Humanität zu praktizieren, sondern den Hegemonialansprüchen der einzig verbliebenen Supermacht Geltung zu verschaffen. Die US-Machtpolitik wurde lediglich „humanitär“ verklärt.
In Verkennung dieser US-amerikanischen Geo- und Außenpolitik glaubt Wieland-Karimi eine „Interventionsmüdigkeit“ erkannt zu haben und sagt voraus, dass es in „den nächsten zwei Jahrzehnten … wohl nicht zu größeren Interventionen seitens westlicher Staaten kommen (wird)“.
Diese These entbehrt jeder Substanz. Der Ukrainekrieg zeigt mit aller Deutlichkeit, dass nicht nur eine massivste Intervention des Westens bereits seit mehr als achtzehn Monaten stattfindet, sondern ein in den vergangenen dreißig Jahren aufgebautes „globales militärisches Interventionssystem“ der Nato auch einen Transformationsprozess erleidet. Das Nato-Interventionssystem nimmt eben eine ganz andere Form und Gestalt an, als die, die wir vorher kannten. Von einer „Interventionsmüdigkeit“ kann darum gar keine Rede sein.
Wir erleben vielmehr eine massive Ausweitung des westlichen bzw. US-Interventionismus über den gesamten Globus. Nur sieht diese „neue“ Interventionspolitik anders aus und kann darum erst recht nicht ohne weiteres als „humanitär“ verklärt bzw. etikettiert werden, weil es hier um eine ganz andere geoökonomische, geokulturelle und nicht zuletzt auch militärische Konfrontation geht, die über die bloßen Strafexpeditionen gegen die weit unterlegenen Gegner hinausläuft. Wir treten in ein Zeitalter der Globalisierung des Krieges als Folge der globalen Großmächterivalität und der wachsenden Emanzipation des als „Globaler Süden“ camouflierten Nichtwestens.
2. Von der Gefahr der Globalisierung des Krieges
„Beide Weltkriege waren … noch überwiegend europäische Angelegenheiten. Der Kalte Krieg brachte nun … die Globalisierung der ethischen Enthemmungen auf fast allen Gebieten mit sich.“11 Und heute sehen wir die Fortsetzung dieser Globalisierungstendenz, die nicht mehr allein zur ethischen, sondern auch und insbesondere zur geopolitischen und geoökonomischen Enthemmung führt, die in ein globales Kriegsgeschehen ausarten kann und will.
Diese Entwicklung beobachten wir in Europa bereits seit dem Ende des „Kalten Krieges“. Der Westen sucht(e) unter US-Führung, nachdem er alle Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes in die Nato aufgenommen hat, ideologisch in den postsowjetischen Raum vorzudringen und die vom Sowjetimperium abgespalteten und als selbstständig existierenden Staaten (wie die Ukraine, Weißrussland, Armenien, Georgien, Aserbaidschan und Kirgisien) als „Cordon Sanitaire“ gegen Russland in Stellung zu bringen.
Das war und ist nach wie vor das eigentliche geostrategische Ziel der USA mit ihrer Nato-Expansionspolitik. In der Ukraine hat der Nato-Expansionsversuch – wie wir heute wissen – zum Krieg geführt. Der hier und heute tobende Ukrainekrieg ist womöglich nur ein Vorgeschmack dessen, was uns bevorsteht.
Wir befinden uns momentan in einer Übergangszeit, in der sich wie in der Zwischenkriegszeit der 1920er-/30er-Jahre jeder vor jedem fürchtete: „Finnland fürchtete sich vor Sowjetunion, Dänemark vor Deutschland, Schweden konnte sich nicht entscheiden, welches Land es mehr fürchten sollte, und Norwegen betrachtete seine Lage als stark genug, um sich vor niemandem fürchten zu müssen“, schreibt etwa der finnische Historiker Tuomo I. Polvinen über die Befindlichkeiten der Skandinavier in der Zwischenkriegszeit.12
Noch sind wir nicht soweit, noch herrscht kein Gefühl der allgegenwärtigen Bedrohung und der Kriegsgefahr. Das kann sich aber schlagartig ändern, sobald die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen auf ukrainischem Boden und/oder zwischen China und den USA um Taiwan weiter eskaliert.
Der Westen scheint nichts aus der Geschichte gelernt zu haben. In seinem 1926 erschienenen Werk „Bolschewismus, Faschismus und Demokratie“ schreibt der liberale Politiker und italienische Ministerpräsident Francesco S. Nitti (1919/20): „Ein grundlegender Irrtum hat das ganze europäische Leben beeinflusst: die Stellung gegen Russland. Die siegreichen Mächte … sträubten sich nicht nur lange Zeit, die Regierung von Moskau anzuerkennen, sondern suchten sie mit allen militärischen und wirtschaftlichen Mitteln zu bekämpfen … Später versuchten sie die wirtschaftliche Isolierung Russlands.“13
Nichts hat sich seitdem im Wesentlichen geändert. Die transatlantischen Macht- und Funktionseliten haben offenbar die Geschichte der Zwischenkriegszeit längst vergessen und scheinen vor dem Hintergrund des „glorreichen“ Sieges über Sowjetrussland im Kalten Krieg ihrer Sache immer noch ganz sicher, zu sicher zu sein, haben sie doch gar nicht vor, ihre ideologisch bewehrte und geostrategisch motivierte Vorgehensweise gegen „Putins Russland“ zu ändern.
Neulich appellierte der Nato-Generalsekretär, Jens Stoltenberg an Russland seine Waffen niederzulegen. „Wenn Präsident Putin und Russland ihre Waffen niederlegen,“ sagte Stoltenberg in einem am 17. September veröffentlichten Interview mit der deutschen Website „Funke“, „werden wir Frieden haben“. War dieser Appell ein Wünsch oder vielmehr eine Aufforderung zur Kapitulation?
Wie auch immer, der Westen und insbesondere die EU stoßen an ihre ideologischen, ökonomischen und geopolitischen Grenzen als Folge von mindestens vier Faktoren:
- Eine schwindende ideologische Attraktivität des Westens in den nichtwestlichen Kultur- und Machträumen.
- Ein geradezu dramatischer geoökonomischer Machtverlust des US-Hegemonen.
- Chinas Aufstieg zu einer ökonomischen Supermacht.
- Ein fortschreitender geopolitischer Bedeutungsverlust der EU und in dessen Folge eine noch größere geo- und sicherheitspolitische EU-Abhängigkeit von den USA.
Die geopolitisch und geoökonomisch gestresste Gegenwart ist zum einen die Folge der Transformation der UN-Nachkriegsordnung in eine unipolare Weltordnung unter Führung des US-Hegemonen und zum anderen das Ergebnis zahlreicher Interventionen und Invasionskriege, welche große Landstriche der Welt verwüstet haben und die Bevölkerung verelenden ließen. Das führte letztlich zur Nivellierung der bestehenden UN-Ordnung mit dramatischen Folgen für die Stabilität und friedliche Koexistenz der Staatenwelt.
Da die entstandene unipolare Weltordnung mittlerweile selbst einen zunehmenden Erosionsprozess erleidet, verschärfen sich dadurch die geopolitischen und geoökonomischen Spannungen zwischen den rivalisierenden Großmächten Russland und China einerseits und den USA und dem konsolidierten Westen andererseits. Hinzu kommt eine zunehmende Emanzipation des sog. „Globalen Südens“.
Die Großmächterivalität nimmt an Fahrt, globalisiert sich, breitet sich über den gesamten Globus aus und hat in Verbindung mit dem immer selbstbewusster auftretenden „Globalen Süden“ die Potenz das bestehende Weltordnungssystem in selbstmörderische Kalamitäten zu stürzen, falls der Eskalation keine Grenzen gesetzt würden.
Der seit dem Ausbruch des Ukrainekrieges geführte allumfassende westliche Wirtschafts- und Sanktionskrieg gegen Russland sowie eine direkte, wohl aber nicht unmittelbare militärische Beteiligung des Westens am Ukrainekrieg machen jede Eskalationsdrosselung praktisch unmöglich, da die beiden Kontrahenten zu keinem Kompromiss bereit und willig sind, sei es aus gesichtswahrenden Gründen oder aus der immer noch unerschütterlichen Siegesgewissheit bzw. aus dem nicht vergehen wollenden westlichen Triumphalismus über den Sieg im „Kalten Krieg“.
All das verleitet die transatlantischen Eliten zu der irrigen Annahme, dass die erneute Eindämmungspolitik in Verbindung mit einer Missionierung der „westlichen Werte“ genauso wie zu Zeiten Sowjetrusslands von Erfolg gekrönt sein wird.
Wir befinden uns nicht mehr in der bipolaren Welt des „Kalten Krieges“, in welcher „das Gleichgewicht des Schreckens“ herrschte. Heute leben wir in Europa, wo an Stelle des Machtgleichgewichts die hegemoniale Dysbalance14 vorherrscht, die Russland mit seiner Invasion in der Ukraine zu korrigieren sucht.
Hier prallen eine Macht des Status quo und Revisionsmacht auf- und gegeneinander. Der tobende Krieg in der Ukraine ist für Russland ein Kampf um die Wiederherstellung des Machtgleichgewichts und für die USA ein Kampf um die Aufrechterhaltung der hegemonialen Dysbalance in Europa. Und um nichts anderes geht es – geopolitisch gesehen – in diesem Krieg.
Dass dieser Kampf ums Gleichgewicht sich nicht allein auf die europäische Staatenwelt beschränken lässt, zeigt die Konfrontation zwischen China und den USA um Taiwan.
Der Kampf ums Gleichgewicht der Mächte nimmt globale Dimension an, was die Gefahr einer globalen Eskalation mit sich bringt. Und diese Eskalation kann entweder eingedämmt oder enthemmt werden. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Momentan sieht es eher nach Enthemmung denn nach Eindämmung der Eskalation aus. Der berühmt-berüchtigte Hermann Kahn (Direktor der New-Yorker Hudson-Instituts) baute bekanntlich in seinem Werk „On Escalation“ (New-York 1965), das in Deutsch 1965 unter dem Titel „Eskalation – Die Politik mit der Vernichtungsspirale“ übersetzt wurde, eine Eskalationsleiter von 44 Sprossen.
Eskalation (in der deutschen Übersetzung als „Vernichtungsspirale“ gedeutet) wird von Kahn selber als „Wettbewerb in der Risiko-Bereitschaft“ („competition in risk-taking“) definiert, womit er „ein genaues Kalkulieren des nächsten Schrittes beim Höherschrauben des Einsatzes von militärischen oder politischen Machmitteln, und zwar mit dem Ziel in einer gesteuerten Eskalation oder De-Eskalation immer mehrere gedankliche Möglichkeiten zur Auswahl zu haben. Der Gegner soll veranlasst werden, Nutzen oder Schaden genau abzuwägen, um so – nach den gleichen Spielregeln – seinen eigenen Interessen entsprechend zu handeln. Er soll entweder kapitulieren oder seinen Einsatz in diesem >Chicken-Game< vermindern, sodass ein Ausgleich, ein Abbau der Spannungen, möglich wird.“15
Diese Eskalationsspirale ist keineswegs nur ein intellektuelles Spielchen, sondern bitterer Ernst. Der amerikanischen Air-Force-General und der oberste Einsatzplaner der US-amerikanischen atomaren Abschreckungsmaschinerie Lee Butler berichtete erst nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst im Jahr 1994, wie gefährlich die Lage war.
In seinem Vortrag „Sind Kernwaffen notwendig?“, den er bei einem Runden Tisch-Gespräch für das Canadian Network to Abolish Nuclear Weapons am 11. März 1999 gehalten hat, hat er sich u. a. zu einer Äußerung hinreißen lassen, die da lautet: „Am Ende einer drei Jahrzehnte dauernden Reise verstand ich endlich die Wahrheit, die mich jetzt als Außenseiter, als Spielverderber erscheinen lässt. Sie lautet, wir sind im Kalten Krieg dem atomaren Holocaust nur durch eine Mischung von Sachverstand, Glück und göttlicher Fügung entgangen, und ich befürchte, die letztere hatte den größten Anteil daran.“
Heute erleben wir diese Eskalationsspirale geradezu beispielhaft im Ukrainekonflikt. Sie kann freilich auch schiefgehen. Was passiert nämlich, wenn der Gegner weder kapituliert noch „seinen Einsatz in diesem >Chicken-Game<“ vermindert?
Am 2. April 1967 berichtete Der Spiegel in einem Artikel „Duell im Dunkel“ von einem mehrtätigen Seminar, das Kahn im Hamburger Diskussions-Treffpunkt „Haus Rissen“ vor bundesdeutschen Generalen, Beamten und Bundestagabgeordneten über seine Gedanken zur „Strategie im Atomzeitalter“ abgehalten hat“
„Befremdlich schien den deutschen Zuhörern“ – fasste Der Spiegel seine Eindrücke über das berichtete Treffen zusammen – „nicht nur das Szenario einer durch ost-westdeutsche Verbrüderung ausgelösten Krise, das Kahn und seine Mitarbeiter vortrugen. Noch immer hallt der Schock nach, den Kahn mit provozierenden Thesen auslöste, beispielsweise:
„In bestimmten Krisensituationen sei der Einsatz von Atomwaffen gerechtfertigt.“
„Atomkrieg sei eine Art Wettstreit, bei dem sich nach festen Spielregeln der Einsatz von Runde zu
Runde steigere.“
„Millionen von Strahlen-Krüppeln nach einem Atomangriff würden die amerikanische Nation
weniger belasten als die Opfer des Straßenverkehrs heute.“
„Auch nach einem Atomkrieg werden die Überlebenden die Toten nicht beneiden.“
Kurzum: „Er ist kein Mensch, sondern ein Monster“, entschieden die Kritiker angesichts solch düsterer Denkleistung des Atomgelehrten. Sie schauderten – wie der Rezensent des „Scientific American“, der fragte: „Gibt es ihn überhaupt, diesen Herman Kahn?“
Ja, ihn gab es wirklich und nicht nur ihn! Das „in den letzten Jahrzehnten ständig wachsende Ansehen der wissenschaftsgläubigen >brain trusters, von denen die Regierungen sich beraten lassen,“ sei „höchst beunruhigend“, warnte Hannah Arendt 1970 und merkte zugleich sarkastisch an: „Gegen ihre Kaltblütigkeit, >das Undenkbare zu denken<, wäre kaum etwas einzuwenden, wenn man nur sicher sein könnte, dass sie überhaupt denken.“16
Die in den 1960er-Jahren und darüber hinaus stattgefundene Diskussion über die „Strategie im Atomzeitalter“ zeigt, dass die Eskalationsstrategie der Biden-Administration im Ukrainekonflikt kein Novum in der Geschichte der russisch-amerikanischen Beziehungen ist. Das Neue ist freilich die hier und heute stattfindende exzessive Anwendung dieser Strategie, die bei der weiteren Zuspitzung des Konflikts statt einer Eskalation zur Deeskalation einer Enthemmung der Eskalation zur Folge haben könnte.
Man hat heute die Lehren des „Kalten Krieges“ vergessen, dass nämlich das Nuklearpotenzial zwar „bisher in der Weltgeschichte unbekannt gewesene Machtfülle verleiht, sie aber gleichzeitig, bei der Gefahr der Selbstvernichtung, bindet, von dieser Macht keinen militärischen Gebrauch zu machen.“17
Dies vorausgeschickt, kam Helmut Schmidt inmitten der Diskussion über die „Strategie im Atomzeitalter“ zu dem Ergebnis, dass „Strategie heute weitgehend zu der Kunst geworden (ist), Kriege zu vermeiden“,18 statt Kriege zu schüren. Man kann sich aber nicht des Eindrucks erwehren, dass der konsolidierte Westen unter Führung der Biden-Administration im Ukrainekonflikt an Stelle einer Strategie zur Kriegsvermeidung nicht so sehr eine Strategie der Eskalation zur Deeskalation als vielmehr eine Strategie der Eskalation zur Enthemmung der Eskalation verfolgt.
Zu Ende gedacht, bedeutet diese Enthemmungsstrategie, die heutzutage in der Ukraine praktiziert wird, eine neue US-Interventionspolitik, die uns – unabhängig davon, ob sich die Biden-Administration dessen bewusst ist oder nicht – direkt in eine globale Konfrontation aller gegen alle führen könnte.
Anmerkungen
1. Arendt, H., Macht und Gewalt. 6. Aufl. München 1987, 9.
2. Maus, I., Vom Rechtsstaat zum Verfassungsstaat. Zur Kritik juridischer Demokratieverhinderung, in: Blätter f. deutsche u. internationale Politik 7 (2004), 835-850 (835).
3. Krippendorff, E., Nato vs. Serbien 1999, in: des., Kritik der Außenpolitik. Frankfurt 2000, 208.
4. Frankfurter Rundschau, 29.5.1999; zitiert nach Krippendorff (wie Anm. 3), 208 f.
5. Davies, Nicolas J. S., Die Blutspur der US-geführten Kriege seit 9/11: Afghanistan, Jemen, Libyen, Irak, Pakistan, Somalia, Syrien, in: Mies, U. (Hrsg.), Der tiefe Staat schlägt zu. Wie die westliche Welt Krisen erzeugt und Kriege vorbereitet. Wien 22019, 131-152 (132).
6. Zitiert nach Hippler, J., Unilateralismus der USA als Problem der internationalen Politik, in: Aus Politik und< Zeitgeschichte. 22.7.2003.
7. Rudolf, P./Wilzewski, J. (Hrsg.), Weltmacht ohne Gegner. Amerikanische Außenpolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Baden-Baden 2000, 65-86.
8. Brock, L., Universalismus, politische Heterogenität und ungleiche Entwicklung: Internationale Kontexte der Gewaltanwendung von Demokratien gegenüber Nichtdemokratien, in: Geis u. a. (Hrsg.), Schattenseiten des Demokratischen Friedens. Frankfurt/New York 2007, 45-68 (46).
9. Zitiert nach Müller, H., Die Arroganz der Demokratien. Der „Demokratische Frieden“ und sein bleibendes Rätsel, in: Wissenschaft & Frieden 2 (2003).
10. Maus, I., Der zerstörte Zusammenhang von Freiheitsrechten und Volkssouveränität in der aktuellen nationalstaatlichen und internationalen Politik (1999), in: des., Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie. Berlin 2011, 359-374 (360 f.).
11. Krippendorff, E., Kritik der Außenpolitik. Frankfurt 2000, 77.
12. Polvinen, T., Die Rolle Finnlands in der internationalen Politik vor dem Winterkrieg, in: 1939. An der Schwelle zum Weltkrieg, hrsg. v. Klaus Hildebrand u. a. Berlin/New York 1990, 327-333 (328).
13. Nitti, F., Bolschewismus, Faschismus und Demokratie. München 1926, 22 f.
14. Silnizki, M., Posthegemoniale Dysbalance. Zwischen Hegemonie und Gleichgewicht. 31. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
15. Zitiert nach Woller, R., Der unwahrscheinliche Krieg. Eine realistische Wehrkonzeption. Stuttgart 1970, 11 f.
16. Arendt (wie Anm. 1), 10.
17. Woller (wie Anm. 15), 10.
18. Schmidt, H., Strategie des Gleichgewichts (1969). 5. Aufl. Stuttgart 1970, 19; zitiert nach Woller (wie Anm. 15), 10.