Verlag OntoPrax Berlin

Auf dem Wege zu einer antihegemonialen Weltordnung?

Zur deutschen „Realpolitik“ im antihegemonialen Zeitalter

Überblick

1. Ideologie statt Strategie
2. Primakovs „strategisches Dreieck Moskau – New Delhi – Peking“ und die Gegenwart
3. Antihegemoniale Weltordnung?

Anmerkungen

„Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man
Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen
ist gar nicht abzuhelfen.“
(Kant)

1. Ideologie statt Strategie

Laut Medienberichten hat das Auswärtige Amt einen Entwurf der Chinastrategie vorgelegt, deren Veröffentlichung im Frühjahr oder Sommer 2023 geplant ist. In dem Strategieentwurf wird die Abschottung Pekings beklagt, die zu einer „wachsenden Asymmetrie“ der deutsch-chinesischen Beziehungen geführt habe. „Der europäische Dreiklang vom Partner, Systemwettbewerber und systemischen Rivalen“ setzte – zitieren Dana Heide und Anja Müller den Entwurf zustimmend – „den richtigen Rahmen“, wobei „die beiden letzten Aspekte … jedoch zunehmend an Gewicht (gewinnen)“.1

Dabei bleibt es völlig unklar, was hier unter dem aus der Mottenkiste des „Kalten Krieges“ geholten Ausdruck „Systemwettbewerb“ und dem Neologismus „systemische Rivale“ verstanden wird. Im Gegensatz zum Westen, der seine „universalen Werte“ missionieren will, sind keine ideologischen Grundlehren aus China bekannt, welche die weltweite Geltung beanspruchen und insbesondere gegen den Westen eine „systemische“ Subversion betreiben.

„Die Botschaft der Chinastrategie“ beteuert Petra Sigmund (Abteilungsleiterin Asien im AA und federführend für das Strategiepapiere) „China als Handelspartner und Absatzmarkt bewahren und gleichzeitig diversifizieren, kurz gesagt: China plus X.“ Gegen diese rein ökonomische Vorgehensweise hätte vermutlich auch China nichts, wenn, ja wenn eine klare Anti-Chinastrategie nicht dahinter verborgen wäre.

Zwar beteuert der Entwurf: „Unser Ziel ist nicht eine neue Blockkonfrontation.“ Gleichzeitig aber sind eine enge Einbindung Taiwans sowie ökonomische Strafmaßnahmen geplant, wie der Boykott ganzer Regionen Chinas. Indem der Entwurf für eine Vertiefung der Beziehungen zu Taiwan plädiert, konterkariert er die völkerrechtlich geltenden UN-Resolutionen, welche Taiwans Zugehörigkeit zu China bestimmen. Damit provoziert der Strategieentwurf nicht nur die Infragestellung der Ein-China-Politik, sondern maßt sich auch an, Chinas Russlandpolitik zu beeinflussen. „China und Russland nähern sich immer stärker an“, heißt es darin, was eine Zusammenarbeit mit Deutschland unmöglich mache.2

Diesem sog. „Strategieentwurf“ fehlt es am strategischen Denken, da es ihm am „kleinen Einmaleins der Politik des Machtgleichgewichts“ (John Mearsheimers ) mangelt. Das ist keine Chinastrategie, sondern eine zur Schau gestellte Provinzpose, die ideologisch fundiert und innenpolitisch motiviert ist. China wird hier ohne Not provoziert, wodurch auch die deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen unnötig erschwert werden.

Wen wundert es, wenn das chinesische Außenministerium darauf verärgert reagierte? „In einer Stellungnahme hieß es auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur in Peking“: Die „Einstufung Chinas als >Wettbewerber< und >systemischer Rivale< sei ein >Erbe des Denkens aus dem Kalten Krieg. Die chinesische Regierung lehne auch die >Verunglimpfung Chinas durch die deutsche Seite< mit sogenannten Menschenrechtsfragen sowie >Lügen und Gerüchten< ab.“3

Wenn an Stelle des fehlenden strategischen Denkens ein ideologisches tritt und die Außenpolitik durch die Außenideologie4 substituiert wird, erreicht man außer einer Depravierung der deutsch-chinesischen Beziehungen nichts. Da erinnert man sich geradezu nostalgisch an die „alten schönen Zeiten“, als die Nixon/Kissinger-Administration anfangs der 1970er-Jahre eine neue Chinapolitik einleitete, die strategisch voll durchgeschlagen hat. An den Schalthebeln der Macht saßen damals die Staatsmänner und Geostrategen und nicht wie heute Polit-Amateure, die den (geopolitischen) Wald vor lauter (ideologischen) Bäumen nicht sehen. Sie befinden sich allerdings in guter Gesellschaft.

Bereits Kissinger spottete über seine Amtsvorgänger: „Die Väter der >containment<-Politik – Acheson, Dulles und ihre Kollegen hatten . . . ihr Werk ausschließlich mittels theologischer Kategorien konzipiert.“ Die Ost-West-Beziehungen seien – ärgerte Kissinger sich – „in eine Sackgasse geraten. Die traditionelle Eindämmungstheorie hatte eine diplomatische Pattsituation herbeigeführt.“ Diese Pattsituation erforderte laut Kissinger eine neue, auf ganz anderer Grundlage fußende Außenpolitik. An die Stelle einer „totalen Konfrontation (im Sinne der >Theologen<)“ oder „totalen Versöhnung (wie die >Psychiater< forderten)“ sollte nach der Nixon-Doktrin „das nationale Interesse als maßgebliches Kriterium für eine langfristige amerikanische Außenpolitik“ treten5.

Und genau diese an nationalen Interessen orientierte deutsche Außenpolitik fehlt nach wie vor beim deutschen außenpolitischen Establishment. Die deutsche China- und Russlandpolitik wird heute vielmehr von Theologen, Ideologen und allen möglichen Amateur-Diplomaten konzipiert und dadurch provinzialisiert. Statt Außenpolitik herrscht Außenideologie6, statt Diplomatie regiert Axiologie, sodass an die Stelle eines strategischen Denkens längst axiologische Glaubensbekenntnisse getreten sind. Man darf sich dann nicht wundern, wenn altbekannte Begriffe „urplötzlich“ einen neuen Sinngehalt erhalten und umdefiniert werden.

„Realpolitik muss heißen“ – erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz am 29. August in seiner Prager Rede7 – „Freunde und Wertepartner einzubinden …, um im globalen Wettbewerb durch Zusammenarbeit stärker zu sein“. Einer solchen „Realpolitik“ liegen axiologische Postulate zugrunde, die belehren und bevormunden wollen, statt auf die geopolitischen und geoökonomischen Machtinteressen der Gegenseite einzugehen.

Das Ziel ist den geopolitischen Gegenpart auf Distanz zu halten, um so „strategische Abhängigkeiten von China reduzieren“ zu wollen.8 Dass Deutschland sich dabei in eine noch größerer „strategische Abhängigkeit“ von den USA begibt, was schon heute im Falle der Energiekrise mehr als deutlich geworden ist, spielt für eine solche „Realpolitik“ gar keine Rolle. Wir sind ja schließlich unter „Freunden und Wertepartnern“.

„Realpolitik“ bedeutet also hier nicht etwa die eigenen nationalen Interessen zu vertreten, sondern sich auf der Suche nach „Freunden und Wertepartnern“ zu begeben, „um im globalen Wettbewerb“ mittels der axiologischen Belehrungen bestehen zu können. Da China zu diesen „Freunden und Wertepartner“ nicht gezählt werden kann, glaubt die neudeutsche „Realpolitik“ diese „Wertepartner“ in den Nachbarn Chinas – den zehn Mitgliedern des Verbands südostasiatischer Nationen (Asean) gefunden zu haben.

Die Asean-Mitglieder (Brunei, Kambodscha, Indonesien, Laos, Malaysia, Myanmar, die Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam) haben zwar 2021 zusammen mit Indien mehr Investitionen als China angezogen. „Und die Technologiemächte Japan, Südkorea und Taiwan sehen im Westen ihren strategischen Partner. Zudem setzen sie auch bei Investitionen ein Gegengewicht zu China“, jubelt das Handelsblatt9.

Es ist aber eine „realpolitische“ Illusion zu glauben, die genannten „Wertepartner“ gegen China in Stellung zu bringen, China durch sie zu substituieren oder mit deren Hilfe geoökonomisch zurückzudrängen, sind doch die Asean-Volkswirtschaften und Chinas Ökonomie eng miteinander verflochten und aufeinander angewiesen. Der Hauptprofiteur einer solchen Chinastrategie ist freilich – geopolitisch gesehen – Russland, weil dadurch die Beziehungen zwischen den beiden Großmächten noch enger werden. Und das ist weder im deutschen noch im westlichen Interesse.

Zu Recht wies Richard Fontain unlängst in seinem in Foreign Affairs am 18. November 2022 veröffentlichten Artikel „Taking on China and Russia“ auf die Binsenwahrheit hin, dass eine gleichzeitig auf zwei Fronten stattfindende US-amerikanische Konfrontation gegen China und Russland selbst mit Beteiligung der US-Verbündeten zum Scheitern verurteilt sei. Ein solches Abenteuer führe nur noch zu Verheerungen in der ganzen Welt und zur Untergrabung der US-Fähigkeiten, viel wichtigere Fragen zu lösen. Statt sich zu verzetteln, sollten die USA nach Fontain lieber Prioritäten setzen. Darin bestehe eben „das strategische Puzzle“ der US-Außenpolitik. Denn die USA seien einfach nicht in der Lage, gleichzeitig auf eine Konfrontation gegen Russland und China zu setzen.

Der Strategieentwurf des Auswärtigen Amtes ist auf dem besten Wege, die deutsch-chinesischen Beziehungen zu depravieren, was unweigerlich die Reduktion des Chinageschäfts der deutschen Wirtschaft mit sich bringt, eine Provinzialisierung der deutschen Außenpolitik vorantreibt, die geopolitische Abhängigkeit Deutschlands von den USA noch mehr erhöht und die geoökonomische Stellung der Bundesrepublik schwächt.

Es reichte offenbar nicht, dass Deutschland gemeinsam mit anderen westlichen Staaten beinahe alle Wirtschaftsbeziehungen zu Russland gekappt, einen beispiellosen Sanktionskrieg gegen Russland initiiert, sich dadurch vor allem energiepolitisch massiv geschadet und die eigene Volkswirtschaft in eine Rezession geführt hat. Als wäre all das noch nicht genug, geht es auf Konfrontationskurs zu China, um die deutsche Wirtschaft mutwillig endgültig abzuwürgen.

Auf der Asien-Pazifik-Konferenz in Singapur machten die deutschen Wirtschaftsvertreter allerdings deutlich, „dass sie nicht vorhaben, sich rasch vom chinesischen Markt zu lösen. >Ohne China ist Diversifizierung nicht möglich<, sagte Roland Busch, Siemens-CEO und Vorsitzender des Asien- Pazifik-Ausschusses der deutschen Wirtschaft … Ein großer Teil des Geldes für Investments in neue Märkte verdiene die deutsche Wirtschaft in China.“10

Merken die deutschen Polit-Amateure, die sich in eine Koalition von Theologen, Ideologen und Amateur-Diplomaten zusammengeschlossen haben, nicht, wie sehr sich die Welt um sie herum verändert hat und sich weiter dramatisch verändert? Und diese Veränderung findet nicht gerade zu Gunsten des Westens, sondern in einem solchen weltpolitischen Umfeld statt, in welchem der sog. Nichtwesten geopolitisch aufgewacht ist, seine geopolitischen Ambitionen geltend macht, und geoökonomische wie währungspolitische Forderungen stellt.

2. Primakovs „strategisches Dreieck Moskau – New Delhi – Peking“ und die Gegenwart

Der geopolitische Aufstieg des Nichtwestens findet nicht erst seit heute statt. Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine ist dieser Aufstieg lediglich offen zutage getreten und hat eine beschleunigte Fahrt aufgenommen. Der Nichtwesten formiert sich schon seit einem Vierteljahrhundert.

Bereits bei seinem offiziellen Besuch in Indien machte der russische Ministerpräsident Jevgenij M. Primakov (1998-1999) im Dezember 1998 den Vorschlag zur Schaffung „eines strategischen Dreiecks Moskau – New Delhi – Peking“ (стратегического треугольника Москва – Дели – Пекин). Der Vorschlag fand in einem geopolitischen Umfeld statt, in dem die russische Führung ohnmächtig zusehen musste, wie die Luftwaffe der USA und Großbritannien – die Luftverbotszone einrichtend – einen Russland befreundeten Staat Irak bombardierte.

Zwar unterstrich Primakov , dass sein Vorschlag keinen offiziellen Charakter hat. Die Diskussion über ein „geopolitisches Dreieck“ (геополитический треугольник) nahm aber trotzdem einen breiten Platz ein. Der Vorschlag kam allerdings zur Unzeit. Die erste Reaktion der indischen Öffentlichkeit war vorsichtig und kritisch und die indische Regierung hielt sich bedeckt. Sie witterte eine antiwestliche Tendenz in Primakovs Vorschlag, was nicht im Interesse von New Delhi war. Die Beziehungen zu den USA hatten für die damalige indische Regierung absoluten Vorrang, da sie zu dieser Zeit mit Washington Verhandlungen über die Aufhebung der Wirtschaftssanktionen führte, welche die USA als Reaktion auf die von Indien im Mai 1998 ausgeführten unterirdischen Atomwaffentests eingeführt haben.

Die militärpolitischen Spannungen um Serbien, die Anfang 1999 in den sog. „Kosovo-Krieg“ mündeten, haben Indien hellhörig gemacht und in New Delhi derart Besorgnis ausgelöst, dass die indische Regierung im Nato-Angriff auf Jugoslawien eine klare Verletzung des völkerrechtlichen Souveränitätsprinzips und damit ein gefährlicher Präzedenzfall sah. Als Folge des Kosovo-Krieges nahm die indische Seite eine Neubewertung von Primakovs Vorschlag vor.

Im März 1999 wollte der indische Premier Atal Bihari Vajpayee (1998-2004) den „strategisches Dreieck“-Vorschlag aufgreifen, musste aber aus zwei Gründen schnell zurückrudern. Indem Washington New Delhi im Konflikt zwischen Indien und Pakistan unterstützte, schwächte sich die zuvor grassierende antiamerikanische Stimmung ab, wodurch sich auch die Einstellung zu Primakovs Vorschlag erneut änderte. Hinzu kam die indische Enttäuschung über Peking mit seinen besonders engen Beziehungen zum Islamabad.

Auch China war von der Idee eines „strategischen Dreiecks“ alles andere als begeistert. Zum einen war China genauso wie das Russland der 1990er-Jahre aus ökonomischen, handels- und entwicklungspolitischen Erwägungen an guten Beziehungen zum Westen und insbesondere zu den USA interessiert. Darum passte ihm auch ein antiwestlicher Unterton von Primakovs Vorschlag nicht. Zum zweiten reagierte China auf die Begründung des indischen Premiers und Verteidigungsministeriums verärgert, die die unterirdischen Atomwaffentests mit einer potentiellen chinesischen Bedrohung rechtfertigten. Zum dritten ist China noch nie in seiner Geschichte irgendwelche Allianzen eingegangen und hat bis heute Schwierigkeiten, sich geopolitisch binden zu lassen.

Indien und China waren also um die Jahrhundertwende nicht soweit, um solche weitgehenden strategischen Überlegungen aufzugreifen, auch wenn ein Teil der jeweiligen Gesellschaften die russische „Dreieck“-Initiative mit großer Sympathie zur Kenntnis nahm. Die Zeit war einfach noch nicht reif, um an Primakovs „geopolitisches Dreieck“ nur denken zu können.

Die Zeiten ändern sich – wie man weiß – und sie haben sich seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine sogar dramatisch geändert. Die geo- und militärpolitische sowie geoökonomische Eskalation zwischen Russland und dem Westen hat nach dem 24. Februar 2022

(a) zu einer vom Westen gezielt herbeigeführten Abschottung von Russland mittels eines geopolitisch und geoökonomisch geleiteten Sanktionskrieges geführt, der zugleich auch die Errichtung eines neuen „Eisernen Vorhangs“ mit sich brachte. Das Ziel war und ist ein dreifaches: (1) Russland geopolitisch zu isolieren, (2) ökonomisch „zu ruinieren“ (Annalena Baerbock ) und (3) militärisch in Schach zu halten, wenn nicht gar eine militärische Niederlage herbeizuführen.

(b) Diese Ziele wurden bis heute und werden bis auf weiteres nicht erreicht. Der Ukrainekrieg hat die Grenzen der westlichen „Omnipotenz“ bloßgelegt. Denn er offenbarte eine Spaltung zwischen dem Westen und dem Nichtwesten und zeigte zugleich, dass die weltweite Vormachtstellung des Westens im Schwund begriffen ist. Der sich im Aufbau befindende „Nichtwesten“, den Russen mittlerweile „Weltmehrheit“ (мировое большинство) nennen, hat sich dem westlichen Sanktionskrieg gegen Russland zur Überraschung aller nicht angeschlossen. Ebenso wenig ist es dem Westen gelungen, Russland geopolitisch zu isolieren.

(c) Die zunehmenden Spannungen zwischen China und den USA wegen Taiwan und die gegenseitigen handels- und außenwirtschaftspolitischen Sanktionen haben eine ökonomische, militärische und geostrategische Zusammenarbeit zwischen Russland und China beschleunigt und noch enger werden lassen.

(d) Auch wenn die indisch-chinesischen Beziehungen wegen Grenzstreitigkeiten angespannt sind, sind die beiden Großmächte gemeinsam mit Russland Mitglieder mehrerer internationaler Organisationen, die außerhalb des Westens und ohne den Westen bestehen.

Es gibt also durchaus eine solidere geopolitische und institutionelle Basis zur Errichtung eines geopolitischen Dreiecks Moskau – New Delhi – Peking, die um die Jahrhundertwende noch fehlte.

Dessen ungeachtet wird es nicht zu dem von Primakov 1998 ins Spiel gebrachten „geopolitischen Dreieck“ kommen, auch wenn durchaus realistische Chancen hierzu bestünden: Der Aufstieg Chinas zu einem geoökonomischen Leviathan, der mit Russland in einer innigen Abneigung gegen die US-Hegemonie verbunden ist, und ein mittlerweile geopolitisch und geoökonomisch immer bedeutsam werdendes Indien machen ein antihegemoniales „geopolitisches Dreieck“ durchaus möglich und denkbar.

Der Kriegsausbruch in der Ukraine hat allerdings Entwicklungen in Gang gesetzt, die auch zu ganz anderen geopolitischen Konstellationen führen können:

(1) Eine zunehmende Abschottung des Westens gegen die sog. „Autokratien“ Russland, China und dergleichen. Dass das kommunistische Land China auf einmal mit dem ideologischen Kampfbegriff „Autokratie“ stigmatisiert wird, offenbart – sollte der Kampfbegriff nicht nur polemisch gemeint sein – allein die verfassungshistorische Unkenntnis dessen, was China ist und was man im Zarenreich „Самодержавие“ („Autokratie“) nannte.

(2) Ein mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine zu beobachtendes neues geopolitisches Phänomen: Eine geopolitische Emanzipation der nichtwestlichen Länder. Diese für den Westen durchaus bedrohliche Tendenz kann eine Eigendynamik entwickeln, welche die westliche Weltdominanz und die US-Hegemonie unter sich begraben könnte.

(3) Die nichtwestlichen Länder befinden sich – auch wenn das ein mühsamer Prozess sein wird – auf dem Wege der Dedollarisierung ihrer Volkswirtschaften. Ohne Dollar als Weltleitwährung ist die US-Welthegemonie nicht aufrechtzuerhalten.

Die zu beobachtende erneute Teilung der Welt verläuft heute nicht mehr und nicht nur entlang der Großmächterivalität. Mit einem beispielslosen Sanktionskrieg gegen Russland will der Westen u. a. auch seinen Geltungsanspruch auf die Fortsetzung der jahrhundertealten Weltdominanz unter Beweis stellen und der ganzen Welt demonstrieren, dass derjenige, der gegen seinen Willen einen Krieg anzettelt, einer „gerechten“ Strafe unterzogen werde.

Diese Manifestation der Selbstherrlichkeit hat der Westen aber ohne die Beachtung der außerhalb seiner Einflusssphäre stattfindenden geoökonomischen Prozesse gemacht. Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten: Statt einer Stärkung seines Geltungsanspruchs auf die Weltdominanz findet vielmehr zunehmend eine geoökonomische Dissonanz und Entfremdung zwischen dem hegemonialen Westen und dem antihegemonialen Nichtwesten, dem westlichen Hegemonialanspruch unter Führung des US-Hegemonen und dem nichtwestlichen Streben nach Machtgleichgewicht statt.

Die geopolitische Emanzipation des Nichtwestens macht heute Primakovs „strategisches Dreieck Moskau – New Delhi – Peking“ zwar realistischer als vor einem Vierteljahrhundert, schließt aber auch andere geopolitische Konstellationen nicht mehr aus. Und genau diese geopolitische Emanzipation blendet die deutsche „Realpolitik“ aus.

3. Antihegemoniale Weltordnung?

Der sog. Nichtwesten ist ein amorphes geopolitisches Gebilde, das sich allmählich formiert. Der Ukrainekrieg hat ihm Leben eingehaucht. Die seit 2001 gegründete BRICS-Staatengruppe als ein Verein der aufstrebenden Volkswirtschaften (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) bekommen heute neuen Zulauf und werden von BRICS zu BRICS+. Die Liste der Staaten, die an einer Mitgliedschaft im BRICS-Club interessiert sind, ist lang: Sie reicht von Ägypten, Argentinien und Indonesien über Kasachstan, Nigeria und Senegal bis hin zu Saudi-Arabien, Thailand und den Vereinigten Arabischen Emiraten.

BRICS positioniert sich geopolitisch nicht – wie manche behaupten – gegen den Westen bzw. „als Alternative“ oder gar „Gegenmodell zu G7“11, sondern ohne den Westen als eine im Entstehen begriffene antihegemoniale Weltordnung.

Auch die 2001 gegründete Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) hat sich von ursprünglich sechs Staaten ( China, Russland, Usbekistan, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan) zuletzt auf neun erhöht. Belarus soll 2023 als Mitglied aufgenommen werden, Afghanistan und die Mongolei haben einen Beobachterstatus. Mittlerweile hat sich die SCO zu einer supranationalen Organisation entwickelt. Am SCO-Gipfel in Samarkand, der am 15. und 16. September 2022 stattfand, nahmen achtzehn Staaten (darunter Israel als Beobachter) mit schätzungsweise gut vier Milliarden Menschen und neun internationalen Organisationen teil.

Der sog. Nichtwesten formiert sich, baut neue Institutionen auf und ist bestrebt, eine neue antihegemoniale Weltordnung aufzubauen, die parallel zu der noch bestehenden westlichen Welthegemonie entsteht und nicht mehr aufzuhalten ist.

Wie wenig der Westen diese Entwicklung begreift, zeigt ein Kommentar von Jens Münchrath . In seinem Artikel „Das Ende der Sprachlosigkeit“ (Handelsblatt, 22. November 2022, S. 16) spricht er frohlockend von einer Überwindung der Sprachlosigkeit „zwischen den rivalisierenden Weltmächten China und USA“ und davon, dass Putin sich deswegen „seiner Verbündeten nicht mehr sicher sein (kann)“.

Ferner behauptet Münchrath : Weder China noch Indien noch „das Gros der Entwicklungs- und Schwellenländer“ hätten „einen strategischen Vorteil“ von „Putins Krieg“ erzielen können. „Ergo“ – freut Münchrath sich – „Putin ist zunehmend isoliert“. Die Erkenntnis habe sich „durchgesetzt, dass die nuklearen Drohungen Putins alles andere als förderlich“ seien. Peking wende sich zwa r „nicht vollständig von Moskau“ ab, „aber die Signale – insbesondere was die nukleare Drohung Putins angeht – sind überraschend deutlich.“

Putin und die russische Führung haben entgegen aller Behauptungen zu keiner Zeit mit taktischen oder strategischen Nuklearwaffen gedroht. Vielmehr hat man im Westen die Gerüchte gestreut, Putin hätte mit Nuklearwaffen gedroht; sodann wurde eine Nuklearhysterie erzeugt, um anschließend – als die westliche Öffentlichkeit daran geglaubt hat – Putin zu beschuldigen, eine Nuklearhysterie zu schüren. Das nennt sich Desinformation in Zeiten des Krieges zwecks Denunzierung, Delegitimierung, Desavouierung und letztlich der Entmenschlichung des geopolitischen Rivalen.

Und die Journalisten, die solche Gerüchte kritiklos übernehmen bzw. für bare Münze halten, werden selbst Opfer dieser Kriegspropaganda. Was nun China angeht, so stellt sich die Lage auch hier anders dar. In den chinesischen Medien wird nicht Russland, sondern der Westen mit seinem verantwortungslosen Schüren einer Nuklearhysterie kritisiert. Mehr noch: Kein einziges Problem wurde beim drei Stunden andauernden Biden-Xi-Treffen gelöst. Alles spricht für eine weitere Verschärfung der Eskalation, was ein ausgewiesener US-amerikanischer Chinaexperte wie Robert A. Manning in seinem in The Hill am 23. November 2022 veröffentlichten Artikel „Post-Biden-Xi summit, could the US and China be on a path toward détente?“ bestätigt hat.

Ferner wird wahrheitswidrig „Putins Krieg“ für die „sprunghaft gestiegenen Nahrungsmittel – und Energiepreisen“ verantwortlich gemacht. Die Entwicklungs- und Schwellenländer wissen hingegen ganz genau, dass eben nicht „Putins Krieg“, sondern der vom Westen in Gang gesetzte beispiellose Finanz-, Wirtschafts- und Sanktionskrieg gegen Russland für die weltwirtschaftlichen Verwerfungen maßgeblich die Verantwortung trägt.

Richtig ist allerdings Münchraths Feststellung, dass der „Trend zur Fragmentierung der Weltwirtschaft … intakt“ sei. Aber genau diese „Fragmentierung“ führt zur noch mehr Entfremdung des Westens vom Nichtwesten und beschleunigt die Abwendung des einen von dem anderen, ohne dass der Westen das akzeptieren kann und will.

Ins gleiche Horn bläst auch Sigmar Gabriel , der eine Art Selbsthypnose betreibt und sich einredet, dass Russland am Ende des Ukrainekrieges „ein Schatten seiner selbst sein“ werde, „abhängig vor allem von China“. Mit dem Verweis darauf, dass Biden und Xi auf dem G20-Gipfel „Moskaus nukleare Drohgebärden“ verurteilten und „die dramatische weltweite Nahrungsmittelverknappung und die explodierenden Energiepreise“ angeblich „Folgen des Ukrainekriegs“ seien 12, wiederholt Gabriel genauso wie Münchrath lediglich die in die Welt gesetzten Narrative der westlichen Massenmedien. Diese sind aber in Zeiten des Ukrainekrieges längst nicht mehr Überbringer der Nachrichten, sondern Informationskrieger, die sich in die gemeinsame westliche Front gegen „die russische Aggression“ einreihen, um das gemeine Volk in einer immer schriller werdenden Kriegspropaganda in die gewünschte Denkrichtung zu manipulieren.

Der G20-Gipfel ist aber ebenso wenig eine Weltregierung wie der Westen ein Medienmogul, der die absolute Deutungshoheit über die weltweiten Stammtische hat und der ganzen Welt nur seine einzig „wahre“ Deutung aufzwingen kann. Und so bleibt die westliche Machtelite unter sich in ihrer selbstgeschaffenen medialen Blase, ohne zu merken, dass die nichtwestlichen Massenmedien ganz andere Deutungen über die gleichen Weltereignisse verbreiten.

Die nichtwestlichen Berichte, Informationen und Nachrichten vermitteln ganz andere, der westlichen Berichterstattung entgegengesetzte Narrative über den Ukrainekrieg. Die medialen und geopolitischen Deutungen und Bewertungen der stattgefundenen und stattfindenden Weltereignisse sind also viel komplexer als die westlichen Mainstream-Medien wahrhaben möchten.

Der Nichtwesten hat im Gegensatz zu anderweitigen Berichten davon profitiert, dass die beiden geopolitischen Rivalen in ihrem Machtkampf jeweils die Unterstützung der nichtwestlichen Länder einforderten. Im Bewusstsein dieses ziemlich unerwarteten Machtzuwachses ist der Nichtwesten zum geopolitischen Leben erwacht und dieses geopolitisches Erweckungserlebnis ist ihm nicht mehr wegzunehmen.

Im Glauben, dass er den Nichtwesten in alter Kolonialherrenmanier wie selbstverständlich auf seine Seite im Ukrainekonflikt ziehen würde, hat der Westen sich verkalkuliert. Es stellte sich nämlich bald heraus, dass der Nichtwesten sich entweder neutral verhält und vorsichtig agiert oder sich selbst zur großen russischen Überraschung eher auf die russische als auf die westliche Seite schlägt.13

Der Westen stellte seinerseits ebenfalls zur eigenen Überraschung fest, wie wenig er den Nichtwesten beeinflussen oder einschüchtern kann und wie sehr sein Druck auf die nichtwestlichen Länder verpufft. Einerseits hat er mit der Gefolgschaftsverweigerung des Nichtwestens nicht gerechnet. Vielmehr ging er wie selbstverständlich davon aus, dass die ganze Welt gegen die „russische Aggression“ aufbegehrt. Das war bereits eine geopolitische Fehleinschätzung . Andererseits hat sich – was noch schlimmer ist – herausgestellt, dass der Finanz- und Währungskrieg gegen Russland die monetäre Übermacht und das gesamte westliche Finanz- und Währungssystem des Westens mittel- bis langfristig gefährden kann. Denn je länger der Sanktionskrieg dauert, „desto mehr werden nichtwestliche Länder Wege zur Abwicklung von Zahlungen außerhalb des westlichen Finanzsystems finden.“14

Und so steuern wir auf eine geopolitische Entwicklung zu, die eher auf eine antihegemoniale Weltordnung hinausläuft, was der seit Jahrhunderten die Welt beherrschenden westlichen Hemisphäre natürlich nicht gefallen kann und nicht gefallen wird. Der mit Wohlstand verwöhnte Westen wird sich seinen Platz an der geopolitischen und geoökonomischen Sonne nicht widerstandslos nehmen lassen, wohingegen der Nichtwesten nicht mehr gewillt und bereit ist, sich vom Westen geopolitisch, geoökonomisch und nicht zuletzt axiologisch bevormunden zu lassen.

Die Konfrontation scheint unabwendbar geworden zu sein. Und solange die neudeutsche „Realpolitik“ zusammen mit ihren „Wertepartnern“ in den Schützengräbern des „Kalten Krieges“ verbleibt, wird sie weiterhin auf Eskalation statt auf Deeskalation setzen und damit Gefahr laufen, eine unkontrollierte Konfrontation zu provozieren. Was dann passiert, steht noch in den Sternen und wir können das leider nicht voraussehen. „Denn Prognosen über die Zukunft könnte es nur geben, wenn es keine Zukunft mehr gäbe.“15

Anmerkungen

1. Zitiert nach Heide, D./Müller, A., Wirtschaft begrüßt den China-Plan der Ampel, Handelsblatt, 18./20. November 2022, 10.
2. Zitiert nach „Die Strategie für das entscheidende Jahrzehnt (II)“, german-foreigh-policy.com. 18.11.2022.
3. Zitiert nach Heide/Müller (wie Anm. 1).
4. Silnizki, M., Außenpolitik ohne Außenpolitiker. Zum Problem der Außenideologie in der Außenpolitik. 6. Dezember 2022, www.ontopraxiologie.de.
5. Kissinger, H., Die Vernunft der Nationen. Über das Wesen der Außenpolitik. Berlin 1994, 782, 784, 788.
6. Silnizki (wie Anm. 4).
7. Rede von Olaf Scholz an der Karls-Universität zu Prag. prag.diplo.de.
8. Greive, M./Olk, J./Peer, M., Wettstreit in Asien, in: Handelsblatt, 14. November 2022, 4.
9. Kölling, M./Peer, M., Chinas Rivalen formieren sich, Handelsblatt, 18./20. November 2022, 12.
10. Zitiert nach Greive u. a. (wie Anm. 8).
11. Maihold, G., Von BRICS zu BRICS+: Suche nach Allianzen und neuer Identität, SWP. Kurz gesagt, 27. Juli 2022.
12. Gabriel, S., Mehr statt weniger Kooperation, Handelsblatt, 24. November 2022, S. 16.
13. Vgl. Silnizki, M., Außenpolitisches Denken in Russland vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges. Am Scheideweg zwischen dem Westen und dem Nichtwesten. 19. September 2022, www.ontopraxiologie.de.
14. Dieter, H., Die Irrtümer der Sanktionsbefürworter, in: Internationale Politik 6 (2022), 70 f.
15. Junker, D., Power and Mission. Was Amerika antreibt. Freiburg 2003, 174.

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