Zur geoökonomischen Verfallsgeschichte der USA
Übersicht
1. Zwischen Euphorie, Hochmut und Geoökonomie
2. Der Aufstieg der USA zur Weltwirtschaftsmacht als merkantilistischer und bellizistischer Vorgang
3. Monetäre und technologische Machterosion des US-Hegemons
4. Im Strudel der Vergänglichkeit?
Anmerkungen
Deficit omne quod nascitur (Alles, was entsteht, vergeht).
(Marcus Fabius Quintilian)
1. Zwischen Euphorie, Hochmut und Geoökonomie
Auf der Höhe der US-Hegemonie schrieb Benjamin R. Barber 2003: „An der Hegemonie der Vereinigten Staaten besteht kein Zweifel.“1 Und Tim Wiener verkündete 2002 voller Stolz: „Die militärische, wirtschaftliche und politische Macht der Vereinigten Staaten lässt den Rest der Welt wie Liliput aussehen.“2 Die USA seien das einzige Land auf der Welt – fügte Michael Ignatieff ebenfalls 2002 zustimmend hinzu -, „das den Globus durch fünf über ihn verteilte militärische Befehlszentren überwacht, … auf allen Weltmeeren kampfbereite Flugzeugträgerverbände patrouillieren lässt, … die Räder des Welthandels antreibt und mit seinen Träumen und Sehnsüchten die Herzen und Hirne eines ganzen Planeten erfüllt.“3 Die Euphorie und Bewunderung der USA kennen auch bei Walter Russell Mead keine Grenzen. 2002 frohlockte er: Die USA seien „nicht nur die einzige Weltmacht; ihre Werte sind auch dabei, in einen globalen Konsens einzufließen, und sie dominieren in einem nie da gewesenen Grad die Entstehung der ersten wahrhaft globalen Zivilisation, die unser Planet je erlebt hat.“4
Zwanzig Jahre später stellen wir fest: Von der Euphorie und Begeisterung am Anfang des 21. Jahrhunderts ist ziemlich wenig bis gar nichts übriggeblieben. Die unser Planet umfassende „globale Zivilisation“ kam ebenso wenig zustande, wie die Vorherrschaft der US-amerikanischen „Werte“. Die Geschichte der ersten zwanzig Jahre des 21. Jahrhunderts brachte vielmehr eine ganz andere Entwicklung mit sich: Die USA schwächeln und ihre Welthegemonie erodiert. Wie konnte es zu einer solchen Entwicklung kommen? Ideologische Selbstüberhöhung und geopolitische Überdehnung haben dazu ebenso, wie ein geoökonomischer Machtschwund beigetragen:
1. Amerikanischer Exzeptionalismus. In der Weltgeschichte gab es immer wieder Kulturvölker von Altgriechen und Juden über Chinesen und Russen bis Franzosen und Briten, die sich für einzigartig und auserwählt hielten. „Noch nie freilich hat sich eine Nation in ihrer Politik und ihrem Auftreten so entschieden zu ihren exzeptionalistischen Mythen bekannt wie die Vereinigten Staaten, und keine hat je den Exzeptionalismus so in den Mittelpunkt ihres nationalen Lebens und ihrer Außenpolitik gestellt.“5 Ins Maßlose gesteigert, führt ein derartiger außenpolitischer Exzeptionalismus zu Gewaltexzessen und Gewaltphantasien. So verkündete Clinton s Außenministerin Madeleine Albright (1997–2001) einst unumwunden und mit Hingabe einer zur einzig wahren Gewaltreligion Bekehrten: „Wenn wir Gewalt anwenden müssen, dann weil wir Amerika sind; wir sind die unverzichtbare Nation. Wir stehen aufrecht und blicken weiter in die Zukunft als andere Nationen.“6 Dem pflichtete auch Obama bei, als er pathetisch sein Glaubensbekenntnis ablegte: „Ich glaube an die Sonderstellung Amerikas mit jeder Faser meiner Existenz“ (in einer Rede an der Militärakademie West Point 2014). Die nationale Selbstüberhöhung hat einen unmittelbaren Einfluss auf die geopolitischen Aktivitäten des US-Hegemons und verleitet ihn zu Interventionen, die oft sehr viel Unheil anrichten und die Autorität der amerikanischen Nation weltweit untergraben.
2. Eine geopolitische Überdehnung. Benjamin Barber nahm die geopolitische Überdehnung der USA vorausschauend bereits 2003 vorweg: „Hinter ihrer beispiellosen Macht verbirgt sich eine beispiellose Verwundbarkeit, denn um die Machtpositionen abzusichern, über die sie bereits verfügen, müssen die USA die Reichsweite ihrer militärischen Macht immer wieder vergrößern und befinden sich so fast per definitionem im Zustand der Überdehnung.“7
Charles Maurice de Talleyrands Äußerung an die Adresse Napoleon s: „Sir, Sie können mit einem Bajonett alles machen, aber Sie können nicht darauf sitzen“, wurde vom US-Hegemon in den vergangenen zwanzig Jahren offenbar dahingehend uminterpretiert, dass er jeden militärischen Versuch unternehmen sollte, um doch auf einem geopolitischen Bajonett sitzen zu können. Ein solches Abenteuer hat der US-Hegemonie nicht nur keinen geopolitischen Surplus eingebracht, sondern auch die geoökonomische Vormachtstellung der USA unterspült. Selbst ein solch mächtiger Leviathan wie die USA sollte seine Hegemonialmacht weder überstrapazieren noch nach dem Motto handeln: cuius regio, eius religio , soll heißen: Wer die Macht besitzt, bestimmt auch die Ideologie oder – in die Sprache der US-Geostrategen übersetzt: Wer sich dem geopolitischen Diktat des US-Hegemons nicht unterwerfen will, soll geoökonomisch und/oder militärisch bluten. „Als CIA-Direktor George Tenet dem Präsidenten erklärte, falls er sich wirklich die Länder vorknöpfen wolle, die Terroristen unterstützen oder beherbergen, stehe er vor einem >Sechzig-Länder-Problem<, entgegnete ihm Bush: >Schießen wir sie der Reihe nach ab<.“8
3. Ein geoökonomischer Machtschwund. Das Charakteristische am (noch) andauernden „amerikanischen Jahrhundert“ ist seine geoökonomische Verfallsgeschichte , die sich bereits vor dem Untergang des Sowjetimperiums anbahnte und mit der Aufhebung des Dollars als Goldstandardwährung am 15. August 1971 ihren Anfang nahm. Diese Entwicklung hat sich in zwei Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts, in denen eine Militarisierung, Geoökonomisierung und schließlich Hegemonialisierung der US-Geopolitik stattgefunden hat, beschleunigt. Die USA verwandeln sich dadurch immer mehr zu einem Rentierstaat, der den Dollar zunehmend als Hebel zur Aneignung des globalen Überschusseinkommens instrumentalisiert.9 Die monetäre Seite der US-Welthegemonie dient als geopolitisches Druckmittel zur Bekämpfung und Beseitigung der geopolitischen Konkurrenz zwecks Aufrechterhaltung der eigenen geoökonomischen Hegemonialposition. Der Dollar ist freilich ein zweischneidiges Schwert, der zwar das Überschusseinkommen der globalisierten Weltwirtschaft beinahe unbegrenzt abschöpfen kann. Die Kehrseite dieses monetären Privilegs ist aber die Deindustrialisierung und Verwandlung der US-Ökonomie zu einer Rentierökonomie mit einem gigantischen Außenhandelsdefizit und einem mittel- bis langfristigen Verlust ihrer Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit.
Um die ganze Dramatik des angebahnten geoökonomischen Erosionsprozesses der USA besser verstehen zu können, müssen wir zunächst den fulminanten ökonomischen Aufstieg der USA kurz Review passieren lassen.
2. Der Aufstieg der USA zur Weltwirtschaftsmacht als merkantilistischer und bellizistischer Vorgang
Der aus den zwei Weltkriegen hervorgegangene fulminante Aufstieg der USA zu einer global agierenden, die Weltmärkte dominierenden Weltwirtschaftsmacht war eine Erfolgsgeschichte sondergleichen. Die USA wurden bereits während des Ersten Weltkrieges zum eigentlichen Kriegsprofiteur. Der Erste Weltkrieg war nicht nur die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ ( George F. Kennan ), sondern auch die Umwertung aller Werte der europäischen Neuzeit. Er hat das europäische Gleichgewichtssystem der Großmächte zerstört, das „europäische Jahrhundert“ unter sich begraben, die totalitären Ideologien aufkommen lassen, den verborgenen Kräften der Anti-Moderne zum Durchbruch verholfen und nicht zuletzt dem Aufstieg der USA zur kommenden, unangefochten Weltwirtschaftsmacht Vorschub geleistet. Der Erste Weltkrieg war zweifelsohne der selbstzerstörerische Vorgang der europäischen Geschichte.
Der nicht mehr aufzuhaltende Erosionsprozess der ökonomisch und militärisch ausgezehrten Pax Britannica und der kometenhafte Aufstieg der Pax Americana waren zwei aufeinander bezogene und voneinander untrennbare Ereignisse von weltgeschichtlicher Bedeutung. Die USA haben sich schon im Vorfeld des Ersten Weltkrieges zum weltweit größten Produzenten entwickelt, auch wenn sie die führende Rolle Londons als Zentrum des Welthandels (noch) nicht erschüttern konnten. Der Kapitalexport war zwar in den letzten Jahren vor dem Ausbruch des Krieges erheblich gestiegen, die USA hatten aber dessen ungeachtet immer noch eine erhebliche Nettoschuldnerposition. Sie forderten immer wieder die „Open Door Policy“, ohne sie allerdings selbst zu gewähren.10
„Open Door Policy“ ist zum regelrechten Symbol der US-amerikanischen Expansionspolitik geworden.11 Die Forderung nach der „offenen Tür“ in China (als die USA gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihr Interesse für China entdeckten) blieb allerdings vor dem Ersten Weltkrieg eine bloße Forderung, da die USA zu schwach waren, um sich gegenüber den europäischen Großmächten durchsetzen zu können. Sie waren andererseits auch nicht bereit, ihrerseits in den Gebieten, die sie als eigene Einflusssphäre betrachteten, den europäischen Großmächten zu konzedieren, was sie selbst forderten.
Dank des Ersten Weltkriegs wurden die USA nunmehr „zur führenden Wirtschafts- und Handelsmacht der Welt und bauten diese Position in den zwanziger Jahren weiter aus … Von 1919 bis 1929 stieg die Industrieproduktion in den USA um 51 %, der Anteil an der Weltproduktion industrieller Güter wuchs von 35,8 % im Jahre 1913 auf 41 % im Durchschnitt der Jahre von 1925 bis 1929.“12 Der ökonomisch aufgestiegene Parvenü war allerdings trotz seiner liberalen Rhetorik mental noch nicht soweit, die Spielregeln des freien Wettbewerbs zu akzeptieren und die Einfuhr zu liberalisieren. „Ganz im Gegenteil: Der Trend zum Protektionismus verstärkte sich noch. Man setzte damit die inkonsistente Politik der Vorkriegszeit fort, obwohl sich … das weltwirtschaftliche Gewicht der USA grundlegend verändert hatte.“13
Der amerikanische Protektionismus hat eine lange Tradition, dessen Außenwirtschaftspolitik hauptsächlich „auf die Importpolitik und hier sogar auf die Zollpolitik eingeschränkt (war). Während in Europa des 19. Jahrhunderts freihändlerische und protektionistische Perioden zu beobachten sind, war die amerikanische Politik auf die Behinderung der Gütereinfuhr kontinuierlich gerichtet.“14 Für eine solche protektionistische Handelspolitik lassen sich fiskalische, ideologische und ökonomische Gründe erkennen. Das ökonomische Motiv fand seine Formulierung bereits in dem von Alexander Hamilton 1791 an den Kongress erstatteten „Report of Manufacture“. Hamilton begründete in dem Gutachten seine Überzeugung, dass das geeignete Mittel, „die Entwicklung einer eigenständigen amerikanischen Industrie zu fördern, der Erziehungszoll sei.“15
Der US-amerikanische Nationalökonom Henry Charles Carey (1793–1879) forderte in Anlehnung an Hamilton einen umfassenden Zollschutz für die amerikanische Wirtschaft und „ Carey s Ideal ist eine wirtschaftliche Autarkie. Diese Faktoren führen offenbar zu einem ausgeprägten Autarkiebewusstsein der Amerikaner.“16 Die merkantilistische Einstellung förderte neben fiskalischen und ideologischen Motiven17 eine ausgeprägte protektionistische Außenwirtschaftspolitik.
Der Erste Weltkrieg katapultierte die USA zur Weltwirtschaftsmacht und verwandelte sie auf einen Schlag vom Schuldnerland zum Gläubigerland. Die USA waren die Profiteure des Krieges, der das eigentliche Fundament für ihren späteren Aufstieg zur Welt- und Supermacht gelegt hat. Ungeachtet ihrer Gläubigerposition lehnten sie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges die Schuldenrückzahlung in der Form von Waren ab, schotteten den eigenen Binnenmarkt weiterhin gegen die ausländischen Güter durch hohe Schutzzölle ab und bestanden zuallerletzt auf monetären Schulden- und Reparationsrückzahlungen. Die Außenhandelspolitik der USA entsprach folglich weder ihrem Status als Gläubigernation noch war sie liberal.
Mit ihrer Hochschutzzollpolitik vertieften sie sogar die weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte, die sie durchaus als vereinbar mit der Forderung nach Öffnung neuer Märkte für die eigenen Waren ansahen, zugleich aber den Schuldnerländern die Erwirtschaftung von Exportüberschüssen erschwerten, mit denen diese ja ihre Verschuldung gegenüber den USA abbauen konnten.
Mit anderen Worten: Trotz ihrer Gläubigerposition blieb die amerikanische Handelspolitik nicht nur weiterhin protektionistisch, sondern auch verheerend für die amerikanische Wirtschaft ebenso wie für die gesamte weltwirtschaftliche Entwicklung der Nachkriegszeit, wie der Crash an der New Yorker Stock Exchange gegen Ende des dritten Jahrzehnts 1929 auch gezeigt hat. Diese protektionistische Außenwirtschafts- und Handelspolitik verunmöglichte faktisch die Entschuldung der Schuldnerländer gegenüber den USA, da sie den Erwerb von Devisen zur Überwindung der eigenen Verschuldung erheblich erschwerte. Die Verschuldungslücke wurde lediglich durch kurz- und langfristige amerikanische Kredite geschlossen, was wiederum das Verschuldungsproblem nur noch verschärfte, weil die absolute Verschuldung erst recht anstieg.
Die chronische Dollarknappheit der Schuldnerländer wurde zudem durch die amerikanische Handelsvertragspolitik in den 20er-Jahren mit dem Ziel verstärkt, die Weltmärkte für die amerikanische Wirtschaft offenzuhalten. Damit setzten die USA ungeachtet des Aufstiegs zur Weltwirtschaftsmacht ihre traditionelle Außenhandelspolitik vor dem Ersten Weltkrieg unvermindert fort.18 Diese Politik lag im ausschließlich nationalen Interesse der USA und es deutete nichts darauf hin, dass die amerikanische außenpolitische Elite den weltwirtschaftlichen Widersinn ihrer Handelspolitik als „Ganzes in ihrer Mischung aus Kapital- und Exportoffensive einerseits und Hochschutzzollpolitik andererseits in ihrer ganzen Tragweite“ durchschaute, was zwangsläufig zu einem „strukturellen Ungleichgewicht“ führen musste. Man wollte die jeweils beste aller möglichen Welten: Schutz gegen ausländische Konkurrenz und verstärkten Export, eine Netto-Gläubiger-Position und prompte Bezahlung der Kriegsanleihen, to have the cake and eat it too.“19 Eine solche Außen(handels)politik der aufgestiegenen Weltwirtschaftsmacht ist im Grunde „durch eine bündnispolitische Abwesenheit und eine handelspolitische Anwesenheit“20 gekennzeichnet und kann darum mitnichten als isolationistisch bezeichnet werden.
Die Weltwirtschaftskrise 1929/33 verschärfte nur noch diese rücksichtslose und absurde Außenwirtschaftspolitik mit der Folge einer weiteren Erhöhung von Zollmauern und der Zunahme des Protektionismus mit der Konsequenz eines drastischen Rückgangs des Welthandels binnen kürzester Zeit.
Die weltweite Finanzkrise im Sommer 1931 führte dann endgültig zum Zusammenbruch des Weltwährungssystems, als viele Staaten den Goldstandard aufgaben bzw. Devisenkontrolle einführten, was wiederum zum weltweiten Protektionismus und Bilateralismus führte. In der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre gerieten die USA zum ersten Mal in ihrer Geschichte in eine geoökonomische Sackgasse, indem sie die Weltwirtschaft mit ihrer selbstzerstörerischen Außenwirtschaftspolitik ins Chaos stürzten. Theoretisch verknüpfte zwar Roosevelts Regierung das nationale Interesse mit einer Freihandelsdoktrin, weil die regierenden US-Demokraten unter der Führung des Außenministers Cordell Hull (1933–1944) zu wissen glaubten, „dass die USA unter der Führung der Republikaner erheblich zur Pervertierung des Liberalismus beigetragen hatten.“
Vor dem Hintergrund der „historisch verfestigten Realität des amerikanischen Protektionismus“ war diese Anschuldigung der US-Demokraten an die Adresse der US-Republikaner zum einen wohlfeil, zum anderen wurden der Roosevelt-Administration praktisch die Hände gebunden. Denn kein amerikanischer Politiker wagte es letztlich, „die amerikanische Voraussetzung der geforderten Liberalisierung zu erfüllen und die amerikanische Industrie und Landwirtschaft tatsächlich ausländischer Konkurrenz auf dem Binnenmarkt auszusetzen.“ 21
Mit Trumps Präsidentschaft wurde diese Tradition „des amerikanischen Protektionismus“ neu aufgelegt und vor allem gegen China als den gefährlichsten geoökonomischen Herausforderer der US-Vormachtstellung seit dem Ende des „Kalten Krieges“ in Stellung gebracht. „Man muss kein Anhänger von US-Präsident Trump sein“ – beschwichtigte Bert Rürup vor knapp zwei Jahre diese protektionistische US-Außenwirtschaftspolitik -, „doch sein brachialer Kurs zeigt, dass so Peking an den Verhandlungstisch gebracht werden kann. Trumps Einfuhrzölle müssen zwar die US-Bürger bezahlen, doch sie schaden auch massiv Chinas Wirtschaft.“ In Trumps geoökonomischem Bellizismus (kurz: Geo-Bellizismus22) erblickte Rürup sogar eine Parallele zum „Kalten Krieg“, „als die Bevölkerungen im Westen die hohen Lasten des Wettrüstens tragen mussten. Doch es war letztlich dieser Rüstungswettlauf, der einen Dritten Weltkrieg verhinderte und die Sowjetunion zunächst an den Verhandlungstisch und letztlich in den wirtschaftlichen Kollaps zwang.“23
Von der zweifelhaften These über eine Verhinderung des Dritten Weltkrieges infolge des Rüstungswettlaufs mal abgesehen, sind der Geo-Bellizismus und der „Kalte Krieg“ zwei unvergleichbare Epochen der jüngeren Zeitgeschichte, die miteinander wenig bis gar nichts zu tun haben. Während die Epoche des „Kalten Krieges“ durch einen permanenten geopolitischen Aufstieg der USA charakterisiert werden kann, so hat sich die weltpolitische Gemengelage in den vergangenen dreißig Jahren insofern drastisch verändert, als ein zunächst allmählicher und dann beschleunigter geoökonomischer Abstieg der USA infolge von mindesten drei ökonomisch belastenden Entwicklungen stattgefunden hat: (1) exzessive Überdehnung der US-Welthegemonie und – damit eng verbunden – (2) eine hypertrophe Militarisierung der US-Außenpolitik, begleitet von einer maßlosen monetären Verschuldung und Überschuldung des Landes und schließlich (3) der fulminante ökonomische Aufstieg Chinas, der auf eine zunehmende geoökonomische Konfrontation der USA stößt.
China verdankt genauso, wie die USA, seinen Aufstieg in den vergangenen drei Jahrzehnten seit dem Ende des Kalten Krieges vor allem seiner merkantilen und protektionistischen Wirtschaftspolitik. Nur in einem Punkt unterscheidet sich Chinas Aufstieg bis jetzt von dem der USA: Er kam (noch) ohne einen einzigen Krieg zustande. Der rasante ökonomische Aufstieg Chinas und der allmähliche geoökonomische Abstieg der USA sind in gewissem Sinne wie zurzeit der absteigenden Pax Britannica zwei aufeinander bezogene und voneinander untrennbare Entwicklungen von weltgeschichtlicher Dimension.
3. Monetäre und technologische Machterosion des US-Hegemons
Erhoben die USA immer wieder mit der „Open Door Policy“ seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ihre „liberalen“ Forderungen nach einem ungehinderten Zugang zu den Weltmärkten, nach gleicher Chance und Gleichbehandlung überall und für immer, so haben sie selbst ihre eigenen Inlandsmärkte stets mit hohen Zolltarifen gegen die unliebsamen Konkurrenten abzuschotten versucht.
Erst mit dem „Reciprocal Trade Agreement Act“ von 1934 suchten die USA ihren ökonomischen Nationalismus zu überwinden, um den Welthandel zu beleben. Dieser ermächtigte den US-Präsidenten, mit anderen Ländern u. a. bilaterale Regierungsabkommen abzuschließen.
1942 begann die Roosevelt-Administration mit der Planung der Nachkriegszeit und erst mit dem 1945 vom amerikanischen Außenministerium veröffentlichen „Proposals for Expansion of World Trade and Employment“ schwenkten die USA endgültig in ihren wohlverstandenen Eigeninteressen von dem protektionistisch fundierten ökonomischen Nationalismus zur Freihandelspolitik um. Zur dominierenden Weltwirtschaftsmacht aufgestiegen, haben sie endlich verstanden, dass es den eigenen Wirtschaftsinteressen dient, wenn sie ihre liberalen Forderungen nach einem ungehinderten Zugang zu den Weltmärkten auch für den eigenen Binnenmarkt gelten lassen. Erst kraft ihrer beherrschenden Stellung als Weltwirtschaftsmacht haben die USA die neue als „liberal“ geadelte Wirtschaftspolitik eingeleitet und die bis dahin praktizierte Hochschutzzollpolitik fallengelassen.
„The General Agreement on Tariffs and Trade“ (GATT) trat sodann nach der Ratifizierung durch 23 Staaten am 1. Januar 1948 in Kraft. Zu den wichtigsten GATT-Bedingungen gehören die Anwendung der unbedingten Meistbegünstigung und die Beseitigung der Einfuhrbeschränkungen. Wichtige Ausnahmebestimmungen wurden dabei entweder auf Veranlassung der USA und fast wörtlich aus amerikanischen Gesetzen übernommen, z. B. die Ausweichklausel, oder als Zugeständnis der Amerikaner eingeführt wie die Erlaubnis zur Anwendung der zahlungsbilanzpolitisch begründeten mengenmäßigen Einfuhrrestriktionen.24 Kurzum: Der Welthandel der Nachkriegszeit wurde nicht nur von der Weltmacht dominiert und kontrolliert, sondern auch aus übergeordneten Erwägungen im geopolitischen Eigeninteresse konzipiert.
Dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges kehren die USA heute zu den traditionellen Ursprüngen ihrer Außenwirtschaftspolitik der Vorkriegszeit und der Zwischenkriegszeit zurück, die von dem „Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, Worten und Taten, zwischen den liberalen Forderungen nach offenen Weltmärkten und der gleichen Chance einerseits und der eigenen protektionistischen Politik andererseits“25 geprägt wurde. Dieser vermeintliche „Widerspruch“ der amerikanischen Außenhandelspolitik war aber in Wirklichkeit eine „liberal“ verklärte Expansionspolitik, hinter der sich ein unbändiger Drang nach Eroberung und Beherrschung der Weltmärkte verbarg. Roosevelts Außenpolitik zielte nicht etwa auf eine „wirtschaftliche Autarkie“ (wie „Hitlers Entwurf einer Weltmacht“), sondern auf einen globalen und „unteilbaren Weltmarkt.“26
Solange die Vormachtstellung auf den Weltmärkten nicht erlangt wurde, verfolgten die USA noch in den 1920er-Jahren ihren protektionistischen, auf Importbeschränkungen setzenden „Neo-Merkantilismus“ in der Handelspolitik, der „nach dem Ersten Weltkrieg katastrophale Auswirkungen auf die Weltwirtschaft hatte.“27 Die neue von Roosevelt in den 1930er-Jahren in die Wege geleitete Handelspolitik war insofern zukunftweisend, als „die USA damit selbst eine Weltmachtposition im wörtlichen Sinne verteidigten,“28 zumal die Prädisposition der USA für ihre Stellung als Weltwirtschaftsmacht längst vorhanden war.
Die „Weltmacht wider Willen“ war darum alles andere als willenlos . Mit einem explosiven Gemisch von „Chauvinismus, christlichem Sendungsbewusstsein, angelsächsischem Rassismus, militärisch- strategischem Kalkül, wirtschaftlichem Expansionswillen und der Furcht, im Wettlauf“29 mit europäischen Großmächten zu verlieren, drängte die Weltmacht in spe mit aller Macht nach der Weltherrschaft. Die beiden Weltkriege haben diese Entwicklung ebenso begünstigt wie beschleunigt.
Der Aufstieg, Ausbau und die Sicherung der US-amerikanischen Weltmachtposition wurde zum ersten Mal mit dem Vietnamkrieg ausgebremst. Seit diesem Kriegsabenteuer haben die USA das eiserne Prinzip ihrer Geopolitik aufgegeben, nämlich ein Kriegsprofiteur zu sein, ohne selbst verlustreiche Kriege führen zu müssen.
Seit den 1970er-/80er-Jahren vollzieht sich allmählich ein Paradigmenwechsel in der Wirtschafts- und Handelspolitik der USA, die Andreas Falke „mit Übergang von Freihandel zu ›fairem Handel‹“30 umschrieb. Spätestens seit Trumps Präsidentschaft gehört nunmehr auch der sog. „faire Handel“ der Vergangenheit an. Freihandel und fairer Handel werden immer mehr zum Anachronismus. Die Trump-Administration hat sozusagen traditionsbewusst den altehrwürdigen amerikanischen Protektionismus wiederentdeckt und revitalisiert. Der zurückgekehrte Merkantilismus feiert seine Wiederauferstehung, allerdings unter ganz anderen Vorzeichen. Als Hegemon praktizieren die USA heute einen Hegemonialmerkantilismus. 31
Diese Entwicklung vom Monetarismus der 1990er-Jahre zum Hegemonialmerkantilismus der Trump-Administration ist letztlich dem Ende des Kalten Krieges geschuldet. Das Ende des Ost- West-Konflikts brachte ein völlig verändertes geopolitisches Umfeld mit sich. Der Kalte Krieg zwang die USA dazu, die eigene Handelspolitik dem liberalen Welthandelssystem unterzuordnen und in ein westliches geo- und sicherheitspolitisches Gesamtkonzept zwecks Eindämmung des Sowjetimperiums als eines ideologischen und geopolitischen Rivalen einzubinden. Das westliche Welthandelssystem diente im ideologischen und technologischen Systemwettbewerb zur wirtschaftlichen Stärkung der westlichen Allianz, was „durchaus die Hinnahme illiberaler und diskriminatorischer Handelspraktiken der Allianzpartner und die einseitige Öffnung des riesigen eigenen Marktes einbezog.“32
Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts entfiel nicht nur die jahrzehntelang andauernde Systemkonfrontation, sondern auch die Rücksichtnahme und Hinnahme der „unfairen“ Handelspraktiken der „Vasallenstaaten“ ( Zbigniew Brzezinski ) seitens des US-Hegemons. Bereits kurz nach dem Ende der Systemkonfrontation machte Andreas Falke 1994 eine bemerkenswerte Voraussage: „Das Ende des Kalten Krieges wird den Paradigmenwechsel beschleunigen und die Pluralisierung handelspolitischer Ansätze neben der etablierten Ideologie des Handelsliberalismus fördern.“33
Schreckten sich die USA trotz Desillusionierung durch die europäische Agrarpolitik in den 1960er-Jahren vor der stärkeren Berücksichtigung der eigenen Handelsinteressen aus geopolitischen Erwägungen vor allen Versuchungen zurück, „das protektionistische europäische Agrarregime zu brechen,“34 und war der Vorrang der geostrategischen und sicherheitspolitischen Ziele vor jedem handelspolitischen Interesse faktisch bis zum Ende des Kalten Krieges ungebrochen, so änderte sich diese handelspolitische Rücksichtnahme beinahe schlagartig Anfang der 1990er-Jahre.
Mit dem Ende der Unterordnung der amerikanischen Handelsinteressen unter die Geo- und Sicherheitspolitik setzt sich zunehmend die eigene interessengeleitete Außenwirtschaftspolitik durch. „Das Ende des Kalten Krieges hat die Notwendigkeit beseitigt, die handelspolitischen Interessen der USA zu kompromittieren, um die Allianzpartner in der Abwehr gegen die Sowjetunion zu stärken. Die Klammer der Sicherheitspolitik fällt heute weg. Sie ist weder ein Hebel noch ein Faktor, der zur Rücksichtnahme gegenüber den Verbündeten zwingt.“35
Das Ende des Kalten Krieges war allerdings bei Weitem nicht die einzige Ursache des Paradigmenwechsels in der US-Handelspolitik. Viel schwerwiegender war die Aufhebung des Dollars als Goldstandardwährung, die noch während des Kalten Krieges stattfand. Die Etablierung des Dollars als Weltleit- und Weltreservewährung im Bretton-Woods-System hat die monetäre Weltmachtstellung der USA auf Jahrzehnte und im Grunde bis heute begründet. Indem die USA neu gedrucktes Geld praktisch unbegrenzt exportieren können, können sie sich das Überschusseinkommen der fremden Länder aneignen, den Wohlstand mehren und die gewaltigen Militärausgaben u. a. auch zur Aufrechterhaltung der militärischen Vormachtstellung im globalen Raum finanzieren.
Mit dem einsetzenden Verfall des Dollars, den chronischen Handelsbilanzdefiziten, Ölpreissteigerungen, Vietnamkrieg usw. zeigten sich gegen Ende der 1960er-/Anfang der 1970er-Jahre die Grenzen der monetären Vormachtstellung Amerikas in der Weltwirtschaft. Dieser schleichende Prozess eines relativen monetären und ökonomischen Machtverlustes der USA, den sie im innerwestlichen Wettbewerb erlitten haben, hat den Paradigmenwechsel in der US-Handelspolitik eingeleitet. In seinem Kern bedeutete dieser Paradigmenwechsel laut Andreas Falke , „dass der liberale Multilateralismus nicht mehr der grundsätzliche und alleinige Bezugspunkt der amerikanischen Handelspolitik ist. Zu Beginn der neunziger Jahre ist die amerikanische Handelspolitik durch einen Mix von multilateralen, unilateralen und (präferentiellen) regionalen Ansätzen gekennzeichnet.“36 Der Globalisierungsprozess begann in seiner heutigen Ausformung ausgerechnet mit der Schwächung des US-Dollars und dessen Abkehr von der Goldbindung (und damit vom Bretton-Woods-System fester Wechselkurse) am 15. August 1971.
Der geoökonomische Aufstieg Chinas und die militärische Erstarkung Russlands gefährden zu alledem zunehmend die Vormachtstellung der USA sowohl auf militärischem Gebiet durch Russland als auch auf dem Gebiet der Hightech-Industrie (wie Künstliche Intelligenz (KI), Cybersecurity oder beim Einsatz innovativer Software) durch China. „Wir befinden uns im Krieg mit China“, behauptet der Franzose Nicolas Chaillan (ehem. Software-Chef des Pentagons). Und er warnt: „Die USA verlieren das Wettrennen mit China um Künstliche Intelligenz.“ Wenn „China und Russland“ sich zusammenschließen würden, dann wären wir – prophezeit Chaillan – „in echten Schwierigkeiten“.37
Im Strudel der Vergänglichkeit?
Die US-Außenpolitik zielte nach dem Ende des „Kalten Krieges“ auf die Ausbildung und Etablierung einer amerikanischen Welthegemonie, indem sie – ihrer exzeptionalistischen Ideologie folgend – der Welt die eigenen Wert-, Welt- und Friedensordnungsvorstellungen zu oktroyieren suchte. Dabei lief diese Oktroyierungsstrategie Gefahr, „selbst zur größten Gefahr für den Frieden zu werden.“38 Indem die Bush-Administration nach dem 9/11 mit der von Condoleezza Rice am 17. September 2002 offiziell verkündeten sog. Bush-Doktrin grundlegend eine strategische Neuausrichtung der US-Außen- und Weltpolitik einleitete, diese aber primär sicherheits- und militärpolitisch definierte und nach dem Motto verfuhr: „Amerika könne sich nur in einer Welt sicher fühlen, die ihm selbst gleicht,“39 ist diese Gefahr zur geopolitischen Realität der vergangenen zwanzig Jahre geworden. Die Bush-Administration knüpft hier letztlich an die Tradition der US-Außenpolitik an, die zuletzt Bushs Vorgänger Bill Clinton in seiner Rede zur Lage der Nation am 25. Januar 1994 wie folgt formulierte: „Die auf lange Sicht beste Strategie, um unsere Sicherheit zu garantieren und einen dauerhaften Frieden zu errichten, besteht darin, den Vormarsch der Demokratie anderswo zu unterstützen.“40
Die Folgen dieser überwiegend sicherheits- und militärpolitisch formulierten US-Außenpolitik sind heute zu besichtigen. Sie hat nicht nur den Frieden, sondern auch die eigene geoökonomische Hegemonialstellung in der Welt gefährdet und dadurch den Aufstieg der geopolitischen Rivalen Russland und China begünstigt. An der falschen Front verkämpft, haben sich die USA in ihren ebenso blutigen, wie sinnlosen Kriegen gegen den Terror derart abgekämpft, dass sie die geoökonomische Gefahr für ihre eigene Hegemonie geostrategisch schlicht übersehen haben. Erst die Trump-Administration hat vor dem Hintergrund eines fulminanten ökonomischen Aufstiegs Chinas versucht, den geostrategischen Fehler der Vorgänger-Administrationen mit einem allerdings sehr mäßigen Erfolg zu korrigieren. Bidens Präsidentschaft setzt nunmehr nicht nur Trumps geoökonomische Strategie fort, sondern hat sie sogar auch noch verschärft. Mit dem US-Truppenabzug aus Afghanistan hat die Biden-Administration die Bush-Doktrin endgültig zu Grabe getragen und konzentriert nunmehr ihre ganze Kraft auf die geopolitischen und geoökonomischen Rivalen Russland und China.
Die radikale Kehrtwende in der US-Außen- und Weltpolitik stellt die Biden-Administration vor die Frage, ob diese Kehrtwende für die Aufrechterhaltung der US-Hegemonie nicht viel zu spät erfolgt. Hat die zwanzig Jahre andauernde US-Interventionspolitik bereits so viel Schaden eingerichtet, dass der Prozess der Rückabwicklung der US-Hegemonie unumkehrbar geworden ist?
Eingebettet in die Logik der Hegemonialpolitik und gestützt auf den Glauben an die Einzigartigkeit des „American Way of Life“ praktizierte die US-Außenpolitik mit ihrem „Kampf gegen den Terrorismus“ zwanzig Jahre lang eine Politik der verbrannten Erde. Die Folge ist nicht eine sicherheits- und militärpolitische Stärkung der US-Weltdominanz, sondern vielmehr eine dauerhafte geoökonomische Schwächung der USA und – damit eng verbunden – eine geopolitische Entwicklung, wovor Paul D. Wolfowitz bereits 1992 dringend gewarnt hat.
Kurz nach dem Ende des Kalten Krieges und dem gewonnenen Golfkrieg unter Führung von George Bush (Vater) veröffentlichte die „New York Times“ 1992 ein Strategiepapier „Defense Planning Guidance“. Die unter der Leitung von Paul D. Wolfowitz zustande gekommene, der Zeitung zugespielte und nicht für die Öffentlichkeit bestimmte US-amerikanische Geostrategie für die Zeit nach dem Kalten Krieg sorgte weltweit für Aufsehen.
Die konzipierte Präventivstrategie der nunmehr zur Hegemonialmacht aufgestiegenen Supermacht setzte zum Ziel der amerikanischen Geopolitik, „den Aufstieg neuer Rivalen überall zu verhindern – also das Emporkommen der Staaten, die Washington feindlich gesinnt seien, und den Aufstieg demokratischer US-Verbündeter wie Deutschland und Japan.“41
Wolfowitz ` Ideen von 1992 über politische und militärische Prävention blieben zwar noch in der Schublade, da „ihre Zeit“ noch nicht gekommen und Wolfowitz nach Auffassung seines neokonservativen Mitstreiters William Kristol seiner Zeit voraus war. Kristol sah aber bereits 2003 Wolfowitz „durch die Geschichte bestätigt“. Denn die entscheidenden Ideen waren „inzwischen in die offizielle Sicherheitsstrategie (National Security Strategy) der Bush-Administration vom 17. September 2002 eingegangen.“42
Heute sind Wolfowits ` Ideen eine brutale geopolitische Realität. Wolfowitz war also nicht nur seiner Zeit voraus, sondern nahm auch die Zukunft prophetisch vorweg. Was er strategisch vorgedacht hat, ist längst eingetreten. Den Aufstieg der neuen geopolitischen und geoökonomischen Rivalen hat der US-Hegemon allerdings nicht verhindern können. Dieses fatale Versagen der US-amerikanischen Geostrategie müssen die Strategen in Washington sich selbst ankreiden. Die USA haben völlig falsche geostrategische Prioritäten gesetzt, sich in den zahl- und sinnlosen Kriegen gegen den Terror verzettelt und sich in deren Folge militärisch und ökonomisch verausgabt. Auch die NATO-Expansion gen Osten wird immer mehr zu einem Sicherheitsrisiko und einem unkalkulierbaren geopolitischen Abenteuer für das westliche Bündnis selbst, worauf gerade Michael Kimmage in seinem aufsehenerregenden Artikel „Time for NATO to Close Its Door“ (Foreign Affairs, 17. Januar 2021) aufmerksam macht. „Mehr“ bedeutet nicht „besser“, lautet seine Grundthese.
Hinzu kam eine katastrophale Fehleinschätzung sowohl eines möglichen militärischen und geopolitischen Wiederaufstiegs Russlands als auch einer ökonomischen Entwicklung Chinas infolge der eigenen ideologischen, ökonomischen, monetären und militärischen Selbstüberschätzung und einer maßlosen Unterschätzung des geopolitischen Gegenparts.
Wir befinden uns heute in einer Zeitenwende, in welcher der US-Hegemon von den aufsteigenden Großmächten herausgefordert wird, und es findet längst ein ideologischer, ein geoökonomischer und ein Desinformationskrieg statt. Es fehlt „nur“ noch eine globale militärische Konfrontation des US-Hegemons mit den Großmächten Russland und China. Kommt es dazu? Das kann und darf zumindest nicht ausgeschlossen werden.
Handelskriege und militärische Interventionen gehören seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zum Repertoire der amerikanischen Sicherheits- und Handelspolitik. Dem steht selbst das atomare Zeitalter nicht im Wege, wie uns die strategischen Planungen zu Zeiten des Kalten Krieges zur Genüge bestätigen. Ausgerechnet Georg Bush (Vater) – Wolfowitz` Dienstherr – war 10 Jahre zuvor an der Ausarbeitung einer solchen strategischen Planung – der sogenannten „Strategie der Enthauptung“ – mitbeteiligt und hatte diese auch gutgeheißen.43
Der Untergang des Sowjetimperiums holt heute nunmehr auch die USA ein. Der geglaubte „Sieg“ über den ideologischen und geopolitischen Rivalen im Kalten Krieg erweist sich immer mehr als Pyrrhussieg. Im Glauben, es kann so weiter wie immer gehen bzw. die USA können seine Dominanz über die ganze Welt ausdehnen, haben sie die Zeichen der Zeit verkannt, weil sie Opfer der eigenen Selbstidealisierung geworden sind. „Aller Idealismus“ ist aber – lehrt uns Nietzsche – „die Verlogenheit vor dem Notwendigen“.
Die ideologische, geoökonomische und geopolitische Rivalität führt ins Nirgendwo, da ihr eine affirmative Gestaltung einer neuen Weltordnung fehlt. Was morgen entsteht, ist weder Post-Moderne noch ein Gegenentwurf zur „westlichen Zivilisation“ und schon gar nicht eine erneuerte „liberale Weltordnung“; was morgen entsteht, sind mehrere selbstständig und global agierende, von- und gegeneinander abgegrenzte Raummächte. Sie bleiben dauerhaft auf Konfrontationskurs unter ständiger Gefahr einer ungewollten Eskalation oder einer gezielten Zuspitzung bis zum unvermeidbaren Zusammenprall der verfeindeten und bis auf die Zähne bewaffneten geopolitischen Rivalen. Die Welt wird ungemütlicher, immer vorausgesetzt, dass die Menschheit bis dahin überlebt.
Anmerkungen
1. Barber, B. R., Imperium der Angst. Die USA und die Neuordnung der Welt. München 2003, 18.
2. Wiener, T., Mexico`s Influence in Security Council Decision May Help ist Ties with U. S., The New York Times, 9. Nov. 2002, S. A 11; zitiert nach Barber (wie Anm. 1), 18.
3. Ignatieff, M., The Burden, The New York Times Magazine , 5. Jan. 2002, S. 22; zitiert nach Barber (wie Anm. 1), 18 f.
4. Mead, W. R., American Foreign Policy and How it Changed the World , New York 2002, S. 10; zitiert nach Barber (wie Anm. 1), 19.
5. Barber (wie Anm. 1), 48.
6. Als Albright 1996 gefragt wurde, ob die US-Sanktionsziele im Irak den damals gemeldeten sanktionsbedingten Tod einer halben Million irakischer Kinder „wert“ seien, antwortete die Dame: „Wir denken, sie sind diesen Preis wert“ (zitiert nach Lee Fang, Humanitarian Exemptions to Crushing U. S. Sanctions Do Little to Prevent Collapse of Afghanistan`s Economy. Theintercept.com 28.12.2021; dazu „Hunger wird gemacht“, www.german-foreign-policy.com/ 20. Januar 2022).
7. Barber (wie Anm. 1), 20.
8. Zitiert nach Barber (wie Anm. 1), 39.
9. Vgl. Massarrat, M., Chaos und Hegemonie. Wie der US-Dollar-Imperialismus die Welt dominiert, in: Blätter f. deutsche u. internationale Politik 5 (2014), 93-100.
10. Vgl. Junker, D., Der unteilbare Weltmarkt. Das ökonomische Interesse in der Außenpolitik der USA 1933-1941. Stuttgart 1975, 24.
11. Vgl. auch Bruhn, J., Schlachtfeld Europa oder Amerikas letztes Gefecht. Gewalt und Wirtschaftsimperialismus in der US-Außenpolitik seit 1840. Bonn 1983, 36.
12. Junker (wie Anm. 10), 25.
13. Junker (wie Anm. 10), 27.
14. Estler, W., Die Importpolitik im Rahmen der amerikanischen Wirtschaftspolitik unter dem Einfluss des republikanisch-demokratischen Führungswechsels zwischen den beiden Weltkriegen. Diss. Mannheim 1967, 3.
15. Zitiert nach Estler (wie Anm. 14), 5.
16. Estler (wie Anm. 14), 8.
17. Näheres dazu Estler (wie Anm. 14), 3 ff.
18. Junker (wie Anm. 10), 29.
19. Junker (wie Anm. 10), 32 f.
20. Junker (wie Anm. 10), 36.
21. Junker (wie Anm. 10), 93.
22. Zum Begriff siehe Silnizki, M., Geo-Bellizismus. Über den geoökonomischen Bellizismus der USA. 25. Oktober 2021 (www.ontopraxiologie.de).
23. Rürup, B., Der kalte Wirtschaftskrieg, Handelsblatt 17./19. Juli 2020, S. 15 f.
24. Vgl. Junker (wie Anm. 10), 241.
25. Junker (wie Anm. 10), 12.
26. „Hitlers Entwurf einer Weltmacht war eurozentrisch, rassistisch und zielte auf wirtschaftliche Autarkie, Roosevelts Entwurf dagegen war global, liberal und zielte auf den freien, unteilbaren Weltmarkt“ (Junker, D., Kampf um die Weltmacht. Deutschland und die USA 1937-1941, in: Jürgen Elvert/Michael Salewski (Hrsg.), Deutschland und der Westen im 19. und 20. Jahrhundert. Teil 1: Transatlantische Beziehungen. Stuttgart 1993, 85-100, 86).
27. Junker (wie Anm. 10), 13.
28. Junker (wie Anm. 10), 15.
29. Junker (wie Anm. 10), 21.
30. Falke, A., Auf dem Weg zu einer neuen Handelspolitik? Die USA und das Welthandelssystem, in: Matthias Dembinski u. a. (Hrsg.), Amerikanische Weltpolitik nach dem Ost-West-Konflikt. Baden-Baden 1994, 265-305 (265).
31. Dazu Silnizki, M., Geoökonomie der Transformation in Russland. Gajdar und die Folgen. Berlin 2020, 98 ff.
32. Falke (wie Anm. 30), 265.
34. Falke (wie Anm. 30), 266 f.
35. Falke (wie Anm. 30), 267.
36. Falke, A., Handelspolitik, in: Dittgen, H./Minkenberg, M. (Hrsg.), Das amerikanische Dilemma. Die Vereinigten Staaten nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Paderborn 1965, 317.
37. Kevin Knitterscheidts Interview mit Nicolas Chaillan „Wir befinden uns im Krieg mit China“, Handelsblatt vom 7.12.2021, 26 f.
38. Barber (wie Anm. 1), 57.
39. Barber (wie Anm. 1), 62.
40. Zitiert nach Barber (wie Anm. 1), 189.
41. Kubbig, B. W., Wolfowitz’ Welt verstehen. Entwicklung und Profil eines „demokratischen Realisten“. HSFK 7 (2004).
42. Kubbig (wie Anm. 41), 19.
43. Näheres dazu Silnizki, M., Anti-Moderne. US-Welthegemonie auf Abwegen. Berlin 2021, 23 f.