Verlag OntoPrax Berlin

Kampf um die Ukraine

Im Würgegriff von Geopolitik und Tradition

Übersicht

1. Zwischen Empörung und Ohnmacht
2. Die gescheiterte Dreierbeziehung: Russland, die Ukraine und der Westen
3. Trenin versus Pogrebinskij
4. In einer verfassungs- und geopolitischen Sackgasse

Anmerkungen

1. Zwischen Empörung und Ohnmacht

Dmitrij Medvedev – der Ex-Präsident Russlands (2008-2012) und langjährige Premier (2012-2020) – löste mit seinem in der Zeitung „Kommersant“ am 11. Oktober 2021 veröffentlichten und aufsehenerregenden Artikel „Warum Kontakte mit der gegenwärtigen ukrainischen Führung sinnlos sind“1 eine lebhafte, zum Teil aufgeregt geführte Debatte in der russischen und ukrainischen Öffentlichkeit aus. Fünf Punkte zählt er auf, um die „Sinnlosigkeit“ dieser Kontakte zu begründen.

„Die Ukraine befindet sich“ – diagnostiziert Medvedev gleich zu Beginn des Artikels – „auf der Suche nach einer eigenen Identität“. In dieser Suche habe sich vor allem die ukrainische Führung verrannt. Sie wisse immer noch nicht, wer sie sei. „Unglückliche Menschen (несчастные люди)“, empört Medvedev sich und richtet heftige moralisierende Vorwürfe an die Adresse der ukrainischen Führung, sie sei „unglaubwürdig“, „unzuverlässig“, „verantwortungslos“, „verlogen“ und vor allem fremdbestimmt, da sie in ihrer Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit voll und ganz vom Westen und insbes. vom US-amerikanischen Patron abhänge. Wie kann man – fragt Medvedev – mit einem solchen „amoralischen“ und „gewissenlosen Haufen“ irgendwelche Verhandlungen führen bzw. Verträge abschließen?

Das Land befinde sich ja längst unter einer direkten Vormundschaft des Westens und sei monetär und ökonomisch vollständig von den USA und der EU abhängig. Medvedevs Feststellung, die Ukraine sei zu einer Schuldnerkolonie des Westens verkommen, ist umso bemerkenswerter, als er im Verlauf seiner Ausführungen daraus keine Schlussfolgerungen zieht. Mehr noch: Ziel des Westens sei nicht etwa die Aufnahme der Ukraine in die NATO oder in die Europäische Union. Das einzige Ziel sei und bleibe der Aufbau der Ukraine als Bollwerk gegen Russland bzw. die „totale Eindämmung unseres Landes und die Errichtung dessen, was man bereits zu Recht >Anti-Russland< (>Анти-Россия<) nannte“, ansonsten habe die Ukraine keinen anderen Wert für den Westen. Es gebe keine (westlichen) Dummköpfe (дураки), die für die Ukraine zu kämpfen bereit wären. Es wäre darum – resümiert Medvedev – völlig sinnlos, Verhandlungen mit den Vasallen zu führen. Das sollte man gleich mit dem Suzerän tun. So weit, so gut.

Nun stellt Medvedev am Ende seiner heftigen Attacken gegen die Führung und Machtelite der Ukraine die zuerst von Nikolaj Černyševskij (1828-1889) gestellte und vom Gründer des Sowjetstaates popularisierte Frage aller „russischen“ Fragen: „Was tun?“ „Nichts“, lautet die Antwort. Wir können solange warten, bis eine neue ukrainische Führung an die Macht gelange, die nicht auf die „totale Konfrontation gegen Russland bis an die Schwelle zum Krieg“ ziele. „Russland kann warten. Wir sind geduldige Menschen (Россия умеет ждать. Мы люди терпеливые)“, beteuert Medvedev ganz am Schluss seiner Ausführungen.

Medvedevs Antwort auf die selbstgestellte Frage „Was tun?“ ist ebenso wenig überraschend wie entlarvend. Das ist kein plötzlich entdeckter Pazifismus der russischen Führung, sondern eine verklausulierte Selbstbezichtigung der eigenen außenpolitischen Machtlosigkeit. Medvedev und die gesamte russische Führung können allerdings noch lange, sehr, sehr lange darauf warten, bis sich die ukrainische Machtelite an konstruktiven Beziehungen zu Russland interessiert zeigt. Offenbar hat er seine eigene, zum Teil zutreffende Beschreibung der ukrainischen politischen Realität nur oberflächlich verstanden. Zu sehr war er von Wut und Empörung ergriffen.

Mit einem solchen Wutausbruch (gespielt oder nicht, sei dahingestellt) desavouiert er regelrecht sich selbst und die russische Führung. Dieser Wutausbruch deutet eher auf eine Hilflosigkeit als auf Tatkraft, eher auf eine Ratlosigkeit als auf Entschlusskraft, eher auf die geopolitische Ohnmacht als auf politische Handlungsfähigkeit hin. Statt nüchterner Analyse eines Staatsmannes hören wir ein Klagelied auf den beklagenswerten Zustand der Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine.

Die fehlende nüchterne Analyse rächt sich umso mehr, als Medvedev ja selber nicht versteht, wie sehr seine eigene Feststellung, die Ukraine sei zu einer westlichen Schuldnerkolonie verkommen, die Handlungsspielräume der Russländischen Föderation geopolitisch und vor allem geoökonomisch begrenzt. Nicht die „unmoralische“, „korrupte“, „verantwortungslose“ ukrainische Führung und Machtelite, die vom Westen als „Anti-Russland“ aufgebaut werde, ist Russlands größtes Problem, sondern das von der heutigen Ukraine ausgelöste geostrategische Dilemma, in dem Russland steckt. Diese Ukraine hält Russland lediglich den Spiegel vor, der seine geoökonomische Ohnmacht widerspiegelt: Sollte Russland dazu genötigt sein, einen Krieg gegen die Ukraine – aus welchen Gründen auch immer – führen zu müssen, so will es ihn zwar nicht verlieren, kann es sich aber nicht leisten, ihn zu gewinnen. In diesem geostrategischen Dilemma steckt die geoökonomische Ohnmacht Russlands.

Denn sollte Russland die Ukraine besetzen und damit die politische Verantwortung über „Land und Leute“ (Otto Brunner) übernehmen, wird es sich daran geoökonomisch verschlucken. Von daher erklärt sich Medvedevs gespielte „Geduld“. Die geoökonomische Ohnmacht ist für Russland nicht ungefährlich, weil sie die außenpolitische Handlungsfähigkeit einschränkt und Russland in einer defensiven Wartestellung verweilen lässt. Das kann aber wiederum zur Eskalation des Konflikts führen. Die Abwesenheit vom Krieg bedeutet eben noch lange keinen Frieden.

2. Die gescheiterte Dreierbeziehung: Russland, die Ukraine und der Westen

Die Ukraine ist mit ihrem dreißigjährigen Versuch, sich von Moskau geopolitisch abzukoppeln und nach Westen zu orientieren, zwar ebenso erfolgreich gewesen, wie der seit dem Jahr 2014 unternommene Versuch, das Geschäftsmodell „Anti-Russland“ zu etablieren. Die geopolitische Abwendung von Russland bedeutet noch lange nicht die liberale „Andockung“ an den Westen: Die Ukraine ist weder rechts- und verfassungsstaatlich noch wirtschaftsstrukturell, weder mental noch rechtlich ein westeuropäisches Land geworden. Ganz im Gegenteil: In der Ukraine hat sich nach 2014 nicht so sehr ein Rechts- und Verfassungsstaat als vielmehr dessen Fassade etabliert. Diese Fassade verschleiert ein jeglicher liberalen Verfassungssubstanz entleertes Machtgebilde, das die liberale Verfassungsrhetorik nach außen zwar zur Schau stellt, nach innen aber weder in der Lage noch gewillt ist, ihr Folge zu leisten. Diese bloße Imitation geht zum einen mit Verlust der eigenen kulturellen Identität einher, ohne dass sich die liberalen Verfassungsgrundsätze etablieren können, und wirkt sich zum anderen destruktiv auf die traditionellen Lebensstrukturen aus, nachdem sie die eigene historisch-gewachsene Tradition für disponibel erklärt hat. Allein diese destruktive Entwicklung beklagt Medvedev moralisierend, ohne dabei das jeglicher liberalen Verfassungssubstanz entleerte Machtgebäude der ukrainischen Staatlichkeit reflektieren zu können.

Auch die ukrainischen Träume davon, dass die sog. „Maidan-Revolution“ zum westlichen Wohlstand und Lebensstandard führen werde, lösten sich in Luft auf: Zum einen ist die vom Westen erhoffte Dividende als Gegenleistung für den „heldenhaften“ Kampf gegen die russische „Aggression“ ausgeblieben. Zum anderen ist auch der ukrainische Wunsch nicht in Erfüllung gegangen, in die EU aufgenommen und wie die anderen EU-Osteuropäer alimentiert zu werden. Zum dritten blieb die Wirtschaftsverfassung unverändert bestehen, auch wenn die ukrainische Machtelite sich einer liberalen Wirtschaftsrhetorik befleißigte.

Dieses innen- und außenpolitische Gewirr, das darüber hinaus noch von feindselig gewordenen Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine begleitet wird, erzeugt die russisch-ukrainischen Missverständnisse und verstellt zudem den Blick auf eine komplexe und komplizierte Dreierbeziehung zwischen Russland, der Ukraine und dem Westen: Weil die ukrainischen Machteliten eine prowestliche und antirussische Außenpolitik betreiben, glauben sie ein westliches Land geworden zu sein, obschon sie sich tagtäglich von der westlichen Rechts- und Verfassungskultur immer weiter entfernen. Von

seinem Rechts- und Verfassungsverständnis hergesehen, ähnelt das heutige ukrainische Machtkonstrukt eher dem Sowjetstaat in Miniaturformat als einem westlichen Rechts- und Verfassungsstaat, dessen ideologisches Gerüst nicht mehr die Sowjetideologie, sondern ein brachialer ukrainischer Ultranationalismus ist.

Im Glauben, die Ukraine geopolitisch an den Westen endgültig verloren zu haben, verkennt die russische Führungs- und Machtelite ihrerseits, wie sehr die Ukraine der russischen Rechts- und Herrschaftstradition verhaftet ist, und merkt ebenfalls nicht, wie sehr sich Russland selber trotz seiner vermeintlich endgültigen außenpolitischen Abwendung vom Westen dem westlichen Rechts- und Verfassungsverständnis mittlerweile viel stärker als die Ukraine angenähert hat.

Da der Westen seinerseits aus eigenem geopolitisch motiviertem Opportunismus die antiliberalen Tendenzen in der ukrainischen Innenpolitik konsequent ausblendet bzw. toleriert, gleichzeitig aber diese Tendenzen in der russischen Innenpolitik umso mehr beklagt, entsteht bei den antirussisch gesinnten ukrainischen Führungs- und Machteliten das Gefühl der Narrenfreiheit, wodurch sie noch unberechenbarer und unverfrorener werden und erst recht die Entwicklung der Ukraine zu einem liberalen Rechts- und Verfassungsstaat ausbremsen, wohingegen Russland die Vorwürfe über mangelhafte Menschenrechte seitens des Westens als geopolitisch motiviert konsequent zurückweist und zugleich auf Distanz zur Ukraine geht.

Der Westen steht heute vor dem Scherbenhaufen sowohl seiner Ukraine- als auch seiner Russlandpolitik. Die geopolitisch motivierte Ignorierung der Illiberalität in der ukrainischen Verfassungswirklichkeit verschärft nur noch die antiliberalen Tendenzen in der ukrainischen Innenpolitik und die harsche oberlehrerhafte westliche Kritik an die Adresse Russlands führt nur noch zur Zerrüttung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen, ohne dabei irgendetwas erreichen zu können.

Die Ukraine steht heute ebenfalls vor einem Scherbenhaufen ihrer Russlandpolitik, ohne dabei von der prowestlichen Außenpolitik sonderlich profitieren zu können, wohingegen die russische Ukrainepolitik dazu verdammt ist, an der Seitenlinie zu stehen und „schicksalsergeben“ von besseren Zeiten zu träumen. Die beiden vermeintlichen Brüdervölker bleiben bis auf Weiteres verfeindet. Der geopolitische Profiteur dieser Entwicklung ist und bleibt zumindest kurzfristig zwar der Westen, dem es gelungen ist, einen Spaltpilz zwischen die beiden ostslawischen Völker zu treiben. Ob der Westen aber auf lange Sicht der Profiteur bleiben wird, bleibt indes mehr als zweifelhaft.

3. Trenin versus Pogrebinskij

Als Reaktion auf einen vom Direktor des Carnegie Moscow Center Dmitrij Trenin am 6. September 2021 veröffentlichten Artikel „Neubewertung der Nähe. Wie Russland die Beziehungen mit der Ukraine aufbauen soll“2 fand eine aufschlussreiche Diskussion zwischen Dmitrij Trenin und dem namhaften ukrainischen Politologen Michail Pogrebinskij statt, die vom Carnegie Moscow Center am 5. Oktober 2021 veröffentlicht wurde3.

Interessant ist in unserem verfassungs- und geopolitischen Kontext vor allem die Stellungnahme unserer Diskutanten zu Trenins Empfehlung in seinem Artikel vom 6.09.21: Russland solle gegenüber der Ukraine eine zurückhaltende und abwartende Haltung einnehmen. „In der langfristigen Perspektive“ könnte es „zu einer Normalisierung der russisch-ukrainischen Beziehungen kommen . . . Das Zusammenleben mit den Ukrainern wird nicht mehr gelingen“, meint Trenin zum Schluss seiner Ausführungen. „Das sollten wir auch nicht bedauern. Zum Nebeneinanderleben sind wir (allerdings) verdammt (Жить рядом – придется)“.

Diese Geisteshaltung von Trenin stieß auf Pogrebinskijs heftigen Widerspruch. Er begründet seine Ablehnung der abwartenden, ja defensiven Haltung mit ernsthaften Gefahren, die von der Ukraine ausgehen, und wirft Trenin gleichzeitig vor, dass dieser sich im Grunde die westliche Grundposition zu eigen macht, der zufolge Russland ständig etwas von der Ukraine will, sie bedroht, sich in die ukrainischen Angelegenheiten einmischt usw. Das Gegenteil sei nach Pogrebinskijs Auffassung eher der Fall. „Tatsächlich“ – stellt er mit Nachdruck klar – „ist das ukrainische Regime auf eine Expansion aus und wird in diesem Sinne vom Westen aktiv unterstützt, was die russischen Experten offenbar

nicht verstehen. Mit anderen Worten, das ukrainische Regime wird Russland so oder so nicht in Ruhe lassen“.

Eine bemerkenswerte Analyse des ukrainischen Politologen, trifft sie doch insofern zu, als sie nicht nur auf die Unberechenbarkeit der ukrainischen Führung hinweist, sondern in gewissem Sinne auch die Gefahr eines möglichen Konflikts zwischen Russland und der Ukraine vorwegnimmt, die sich aus einer politischen und ökonomischen Sackgasse, auf die sich die Ukraine immer mehr zusteuert, ergeben könnte.

Trenin stimmt zwar Pogrebinskij insofern zu, als er sowohl die von der Ukraine ausgehenden Gefahren sieht als sie auch als einen gefährlichen Nachbar bezeichnet. Gleichzeitig fügt er aber hinzu, dass Moskaus Versuche – wie er es formuliert –, „auf innerukrainischem Felde zu spielen, ohne jegliche Perspektive“ seien. Mit anderen Worten, Trenin übernimmt grundsätzlich Medvedevs abwartende Haltung, wohingegen Pogrebinskij gerade diese nur scheinbar „liberale“ russische Einstellung zur Ukraine eher irritiert als begrüßt.

Nun besteht die Problematik der ganzen Diskussion darin, dass die Diskutanten beide Recht haben. Gefangen im oben beschriebenen geostrategischen Dilemma (bewusst oder unbewusst sei dahingestellt), argumentiert Trenin nicht moralisch (wie Medvedev), sondern ökonomisch und außenpolitisch, wohingegen Pogrebinskij als Ukrainer innenpolitisch denkt und für eine „Regime-Transformation in der Ukraine (трансформация режима в Украине)“ plädiert. Vor dieses Dilemma gestellt: Außenpolitik versus Systemtransformation, entscheidet Trenin sich für eine außenpolitische Abstinenz, wohingegen Pogrebinskij innenpolitisch für eine „Regime-Transformation“ plädiert, ohne sich dabei im Klaren darüber zu sein, was darunter zu verstehen ist. Trenin kann wiederum aus russischer Sicht Pogrebinskijs Vorschlag nichts Gutes abgewinnen und lehnt ihn aus zwei Gründen ab:

(1) Mit Verweis auf das von Leonid Kučma zuerst 2003 veröffentlichte Werk „Ukraine ist nicht Russland“ (Украина – не Россия) betrachtet er die geopolitische Abwendung der Ukraine von Russland als endgültig, leitet daraus eine außenpolitisch zurückhaltende Position ab und plädiert folgerichtig dafür, auf Distanz zur Ukraine zu gehen.

(2) Ökonomisch gesehen, soll Russland erst recht lieber die Finger von der Ukraine lassen. „Russland braucht die Ukraine nicht (Украина России не нужна)“, stellt Trenin lapidar fest. Ganz im Gegenteil: Von der geopolitischen Abwendung der Ukraine kann Russland ökonomisch nur profitieren. Denn der seit 2014 beschleunigte Abkopplungsprozess der Ukraine habe Russlands finanziell eher entlastet als belastet. Es habe schlicht und einfach aufgehört, die Ukraine zu alimentieren. Mit Verweis auf Putin schätzt Trenin die Subventionierung der Ukraine allein in den ersten zwanzig Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion auf ca. 82 Milliarden Dollar. Weder außenpolitisch noch ökonomisch erscheine es daher sinnvoll und erforderlich, die Ukraine an Russland binden zu wollen.

Trenins Argumentation ist in der Tat nur schwer zu widersprechen. Aber auch Pogrebinskijs innenpolitisch geleitete Überlegungen über eine Systemtransformation in der Ukraine ist alles andere als abwegig. Es stellen sich daher grundsätzliche Fragen: Wohin steuert die Ukraine, deren Außen- und Innenpolitik sich zunehmend dysfunktional zu entwickeln droht? Und wie soll Russland damit umgehen, um kein geopolitisches Porzellan zu zerschlagen?

4. In einer verfassungs- und geopolitischen Sackgasse

Bereits 1951 warnte George F. Kennan die „wohlmeinende(n), aber doktrinäre(n) und ungeduldige(n) Freunde aus dem Westen“ vor dem abenteuerlichen Versuch, dem künftigen Russland (womit auch die Ukraine gemeint war) die westlichen Verfassungsvorstellungen „in ihrer Idealform“ oktroyieren zu wollen. Ein solcher Versuch werde unweigerlich in „einen russischen Abklatsch der westlichen Demokratie“ ausarten4, den Kennan schroff ablehnte, indem er auf eine mögliche Verfassungsentwicklung hinwies, welche die Gefahr einer Kollision zwischen den geopolitisch motivierten Idealvorstellungen des Westens und der seit Jahrhunderten ausgebildeten russischen (bzw. ukrainischen) Herrschaftstradition hervorrufen könnte.

Im Gegensatz zu der sogenannten „liberalen Demokratie“, die zu jenem einzigartigen Phänomen der Weltgeschichte gehört, das nur der Okzident hervorgebracht hat, vollzog Russland eine

ganz andere rechts- und verfassungshistorische Entwicklung, dessen zentral gesteuerte Raumbeherrschung die Entwicklung zu einer „liberalen Demokratie“ verunmöglichte, sodass die Delegitimierung der traditionellen russischen Herrschaftsauffassung selbst nach dem Zusammenbruch des Russischen Reiches 1917 nicht stattgefunden hat. Der Sowjetstaat hat die autokratische Herrschaftstradition des Russischen Reiches nicht zerstört, sondern ganz im Gegenteil bis auf die Spitze getrieben und letztlich totalisiert.

Mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums traten an die Stelle der totalitären die tradierten Herrschaftsstrukturen. Und lassen wir uns nicht täuschen: Die Revitalisierung der tradierten Herrschaftsauffassung fing nicht erst mit Putins Regentschaft an, sondern geht bereits auf Jelzins Präsidentschaft zurück. Eine „liberale Demokratie“ hatte weder im Russland noch in der Ukraine der 1990er-Jahre wegen der fehlenden institutionellen Strukturen, der fehlenden Rechtstradition und der mentalen Voraussetzungen gar keine Chance auf Verwirklichung. Bis heute vermisst man in Russland wie auch in der Ukraine einen funktionierenden Rechts- und Verfassungsstaat. Zu Recht diagnostizierte Gleb Pavlovskij noch im Jahr 2018: „Die Konvergenz der Politiken Russlands und der Ukraine enthüllt die tiefste Verbundenheit unserer Länder (Конвергенция политик России и Украины выявляет глубинную связь наших стран).“4a Prägnanter und knapper kann man die verfassungspolitische Konvergenz Russlands und der Ukraine kaum formulieren.

Die Funktionsfähigkeit eines liberalen Verfassungsstaates setzt eine jahrhundertelange Entwicklung der westlichen Rechtskultur voraus, die es nicht nur in Russland und der Ukraine, sondern auch in den anderen, außereuropäischen bzw. außerwestlichen Kulturen so nie gegeben hat.

Hinzu kommt ein verfassungshistorisches Problem. Als eine zentral gesteuerte Raummacht war Russland nie ein Nationalstaat, der eine gewisse kulturelle und ethnische Homogenität zur Voraussetzung hat. Der westeuropäische Nationalstaat war aber „in aller Regel auch ein moderner Verfassungs- und Rechtsstaat“5. Das liegt nicht nur, aber auch am imperialen Charakter der russischen Geschichte der vergangenen dreihundert Jahre.

Der Versuch der Ukraine, nach der Erlangung ihrer Eigenstaatlichkeit bzw. nach der Loslösung vom Sowjetreich den eigenen ethnisch gefärbten Nationalstaat im multikulturellen Umfeld und gleichzeitig einen modernen Rechts- und Verfassungsstaat aufzubauen, musste kraft des Fehlens jedweder national- und rechtsstaatlichen Tradition zwangsläufig zu einer dysfunktionalen Entwicklung der politischen Institutionen und der gesellschaftlichen Formationen führen. Hinzu kamen die geopolitisch motivierten Einwirkungen der raumfremden Mächte, welche die ukrainische Verfassungswirklichkeit zusätzlich verkomplizierten.

Dieses gleichzeitige, sich selbst ausschließende Zusammenwirken vom Nationalismus, Herrschaftstradition und Geopolitik hat den Aufbau der rechts- und verfassungsstaatlichen Strukturen erschwert und eine macht-, sozial- und wirtschaftspolitische Verfassungswirklichkeit entstehen lassen, deren dysfunktionaler Charakter eine rechtsstaatliche und marktwirtschaftliche Entwicklung praktisch verunmöglichte.

Als Folge dieser Dysfunktionalität entsteht eine Symbiose von der dem Westen entlehnten liberal-demokratischen Ideenwelt, dem ethnisch gefärbten Nationalstaatsbewusstsein und der tatsächlich gelebten, aber von den ukrainischen Führungs- und Machteliten unreflektierten russischen bzw. sowjetischen Herrschafts- und Verfassungstradition.

Kein geringerer als Bismarck sah klar und deutlich die Gefahren einer nationalstaatlichen Verfassungsentwicklung, die zwischen liberal-demokratischen Ideen und ethnisch gefärbten Nationalismus schwankte. Im Bann dieser Entwicklung befand er sich „im Zwiespalt zwischen einer älteren Ordnungsidee, in der das Nationale noch gebändigt erschien, und dem durch

den Nationalliberalismus geprägten Nationalstaat, der das Nationale zugleich beschränkte und entfesselte.“6

Diese Janusköpfigkeit der Moderne, welche die zu einem unauflösbaren Knäuel vermischten – gleichzeitig gebändigten und entfesselten – Geister des nationalen und nationalstaatlichen Identitätsbewusstseins freisetzte, war schon in der Revolution von 1848 zu beobachten. Bereits zu dieser Zeit lernten wir – entrüstete sich Werner Konze7 in Anlehnung an Franz Grillparzer – „Ansätze jenes Weges kennen, der Humanität durch die Nationalität zur Bestialität (Grillparzer) führen sollte, ohne dass wir damals Ausmaß und Konsequenzen auch nur ahnen konnten.“ Diese moderne aneinandergekoppelte Nationsbildung und Verfassungsentwicklung ging mit Massenmobilisierung über die Radikalisierung des Nationalbewusstseins bis zum brachialen Nationalismus, Chauvinismus, Rassismus usw. einher.

Im Unterschied zu der westeuropäischen Verfassungsentwicklung, in der das individuelle Bekenntnis zur grande nation die Nation als politische Willensgemeinschaft konstituierte, war in Mittel- und Osteuropa „die Nationszugehörigkeit dem Belieben des Individuums weitgehend entzogen. Sie war durch objektive Faktoren wie blutmäßige Abstammung, Sprache und kulturelle Überlieferung bedingt. Einem voluntaristischen stand mithin ein deterministischer Begriff der Nation gegenüber“8. Genau diese Entwicklung beobachten wir heute in der Ukraine.

Mehr noch: Vor dem Hintergrund der geopolitisch motivierten, verfassungsideologischen Expansionspolitik des Westens im postsowjetischen Raum und insbesondere in der Ukraine ist festzustellen, dass die westliche Verfassungsoffensive auf einen unüberwindbaren Granit des deterministischen Nationalstaatsbewusstseins gestoßen ist und dadurch einen grandiosen Schiffbruch erlitten hat. Sie musste auch deswegen auf der ganzen Linie scheitern, weil das erwachte Nationalbewusstsein darüber hinaus noch von der fehlenden neuzeitlichen Rechts- und Verfassungstradition begleitet wurde.

Diese verfassungsideologische Oktroyierungspolitik des Westens hinterließ sodann nur noch einen ukrainischen „Abklatsch der westlichen Demokratie“, anstatt eine liberal-demokratische Erneuerung des Landes in Gang setzen zu können.

Der Übergang zu einem liberalen Verfassungsstaat ist aber „gerade dadurch bestimmt, dass das Territorialprinzip im Ganzen durch das des Personenverbandes ersetzt wird“ und dass dieser „Austausch von Prinzipien den modernen Staat (erst) konstituiert.“9 Ein liberaler Verfassungsstaat ist nämlich nicht „eine Habe“ (Kant), ein Territorium, auf dem Menschen „als bloße Anhängsel des Bodens zu behandeln (sind), die mit diesem erworben oder veräußert werden können“10. Genau dieses liberale Verständnis von einem modernen Rechts- und Verfassungsstaat fehlt aber vollständig in der Ukraine.

Der Wandel vom totalitären Einheitsstaat zu einem liberal-demokratisch verfassten Nationalstaat schlug in der Ukraine allein schon deswegen fehl, weil die abgespaltete Sowjetrepublik sich primär als Territorial- und nicht als Personenverband definierte.

Das Kernproblem dieses vom Sowjetimperium abgespaltenen Territoriums ist der Umstand, dass das neu entstandene Machtgebilde namens Ukraine nach wie vor einerseits den Traditionsbeständen wie Abstammung und Schicksalsgemeinschaft und andererseits der russischen Herrschaftstradition verhaftet ist und darum per definitionem zu einer Entgrenzung ihres nationalstaatlichen Identitätsbewusstseins weder fähig noch willig ist. Der westlichen Verfassungsideologie steht eben diese traditionsbedingte und ethnisch gefärbte Entgrenzungsunwilligkeit des ukrainischen Nationalismus entgegen. Sie kann ihn darum weder überwinden noch brechen.

Indem alle tradierten Inhalte einer verfassungspolitischen Integration des vormodernen Europas durch das neuzeitliche Legitimationsprinzip aufgerieben wurden und an ihre Stelle Verfahren traten, in denen über Inhalte unter Beteiligung der Staatsbürger erst entschieden wird, bezeichneten die nationalstaatlichen Grenzen nichts anderes als die Geltungsgrenzen dieses neuen Legitimationsprinzips und der auf dessen Grundlage zustande gekommenen Verfassungsordnung. „Grenzen dieser Art sind aber von vornherein auf Grenzüberschreitungen hin angelegt“11, was dem ukrainischen Nationalismus zuwider ist.

Allein die prowestliche und antirussische Geopolitik der Ukraine verschleiert diese antiliberale, antidemokratische und darum an und für sich antiwestliche Verfassungsgesinnung der ukrainischen Führungs- und Machteliten. Der immer wieder stattfindende Versuch einer Sprengung dieses ethnisch gefärbten, antiliberalen Identitäts- bzw. Nationalbewusstseins mittels des grenzüberschreitenden liberalen Legitimationsprinzips der Neuzeit ist von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Da aber das ukrainische Identitätsbewusstsein raumgebunden, nicht entgrenzend und darum gegenüber dem Entgrenzungszwang der westlichen liberalen Verfassungsideologie immun ist, hat sich in der Ukraine nicht so sehr ein Rechts- und Verfassungsstaat etabliert, als vielmehr, wie gesagt, dessen Fassade.

Die neben dem ukrainischen Nationalismus gleichzeitig existierenden, auf die russische Herrschaftstradition zurückgehenden, historisch-gewachsenen Macht- und Lebensstrukturen lassen sich zudem trotz einer prowestlichen Geopolitik der Ukraine weder transformieren noch reformieren, sondern nur camouflieren, da diese kraft ihrer Eigengesetzlichkeit bestehen können und genügend Abwehrkräfte besitzen, um sich selbst unbeschadet der geopolitischen Orientierung zu behaupten.

Der Einwurf von Michail Pogrebinskij, man möge vielleicht über eine „Regime-Transformation in der Ukraine“ nachdenken, läuft darum ins Leere, weil er das eigentliche Dilemma der Ukraine verkennt. Nicht die Systemtransformation ist das eigentliche Problem der ukrainischen Eigenstaatlichkeit, sondern eine unauflösbare Symbiose von einer prowestlich orientierten Geopolitik und der prorussischen Herrschaftstradition. Das Problem ist nicht entweder – oder, sondern sowohl – als auch.

Dieser unauflösbare Knäuel des ukrainischen verfassungs- und geopolitischen Gewirres zu entwirren, ist unmöglich, solange die beiden sich selbst ausschließenden Entitäten ineinander verknäuelt und miteinander unentwirrbar verknotet sind. Die Ukraine wird dadurch innenpolitisch zerrieben und außenpolitisch unberechenbar. Es ist keine Lösung in Sicht, es sei denn, es kommt entweder zum Krieg oder zur Auflösung der Ukraine, oder zu beidem. Russland bleibt in der Tat nichts anderes übrig als nach dem Motto zu verfahren: Abwarten und Tee trinken.

Anmerkungen

1. Mедведев, Д., Почему бессмысленны контакты с нынешним украинским руководством. Коммерсантъ 11.10.2021.
2. Тренин, Д., Переоценка близости. Как России строить отношения с Украиной. Борьба за Украину. Московский центр Карнеги. 6.09.2021.
3. Погребинский, М./Тренин, Д., Соседство или братство. Погребинский и Тренин о переоценке близости России и Украины. Московский центр Карниги. 5.10.2021.
4. Kennan, G. F., Amerika und Russlands Zukunft, in: Der Monat 34 (1951), 339-353 (343); siehe auch Silnizki, M., George F. Kennans „Amerika und Russlands Zukunft“. Russlandbild im Lichte der ideologischen Konfrontation des „Kalten Krieges“. 4. Oktober 2021.
4a. Павловский, Г., Прогулка с мечтателями, Россия в глобальной политике, 9.04.2018.
5. Wehler, H.-U., Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen. München 52019, 100.
6. Conze, W., Nationalstaat oder Mitteleuropa? Die Deutschen des Reiches und die Nationalitätenfragen Ostmitteleuropas im Ersten Weltkrieg, in: Deutschland und Europa: Historische Studien zur Völker- und Staatenordnung des Abendlandes. Düsseldorf 1951, 201-230 (202).
7. Conze (wie Anm. 6).
8. Winkler, H. A., Der Nationalismus und seine Funktion, in: ders., Liberalismus und Antiliberalismus. Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. Und 20. Jahrhunderts. Göttingen 1979, 52-80 (54).
9. Maus, I., Vom Nationalstaat zum Globalstaat oder der Verlust der Demokratie, in: ders., Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie. Berlin 2011, 375-406 (378).
10. Maus (wie Anm. 9), 379.
11. Maus (wie Anm. 10).

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