Verlag OntoPrax Berlin

Gajdar-Reformen

Ein missglücktes Experiment

Anlässlich der dreißigjährigen Wiederkehr der Reformen

Übersicht

1. Die missverstandene Marktwirtschaft
2. Am Scheideweg zwischen Recht und Macht
3. Monetarismus als geoökonomische Strategie

Anmerkungen

1. Die missverstandene Marktwirtschaft

Im Nachruf auf Jegor Gajdar schreiben die Russische Akademie für Volkswirtschaft beim Präsidenten der Russländischen Föderation und das Institut der Ökonomie der Übergangsperiode: „Jegor Gajdar wurde Regierungschef in dem Augenblick, als das Land eine ökonomische Katastrophe heimgesucht hat. Das staatliche Wirtschafts- und Verwaltungssystem hörte auf, zu funktionieren. Jegor Gajdar stand vor der Aufgabe, das System auf eine neue Grundlage zu stellen. Das ist ihm auch gelungen. . . . Das Gespür eines Historikers verband sich bei ihm mit einem politischen Weltblick und einer tiefsinnigen Begabung eines Historikers. Wie kein anderer seiner Zeitgenossen hatte er eine historische Perspektive fest im Blick. . . . Genau diese seltenen Eigenschaften machten Jegor Gajdar zur Persönlichkeit der Weltgeschichte. Jegor Gajdar war nicht einfach der Gründer und Direktor des Instituts der Ökonomie der Übergangsperiode. Er gründete auch die Schule der Wirtschaftswissenschaftler und der Wirtschaftspolitiker, die dazu befähigt waren, die politischen Folgewirkungen ihrer Entscheidungen sowie die Auswirkungen ökonomischer Gesetze unter den Bedingungen der Transformation zu beurteilen. Er legte die Grundlage für die neue Tradition der russischen Staatlichkeit . . . Jegor Gajdar ist derjenige, der das moderne Russland erschuf.“1

Eine solch überschwängliche Lobpreisung Gajdars und die Glorifizierung seiner ökonomischen und politischen Verdienste sind in der russischen Öffentlichkeit alles andere als unumstritten. Dass Gajdar ein „Erschaffer des modernen Russlands“ sei, ist vor dem Hintergrund der Wirtschaftsverfassung und der Verfassungswirklichkeit der Gegenwart ein ziemlich zweifelhaftes Lob. Das Lob könnte auch dahingehend interpretiert werden, dass die russische Gegenwart Gajdars „Werk“ lediglich fortsetzt oder gar vollendet und Putin nur noch als „Fortsetzer des Werkes Jegor Gajdars“2 gelten würde.

Die vom Präsidenten der Russländischen Föderation 2010 erlassene Verordnung „Über die Verewigung des Gedenkens an Je.T. Gajdar“ verkündet u.a.: „Unter Berücksichtigung des Beitrages Je. T. Gajdars für die Herausbildung der russischen Staatlichkeit und der Durchführung der ökonomischen Reformen beschließe ich die Initiative einer Reihe von Organisationen und Gesellschaftsvertretern zur Verewigung des Gedenkens an Je. T. Gajdar zu billigen.“3

Bei all den Lobpreisungen und Glorifizierungen möchte man ein wenig Wasser in den Wein gießen. Wie der Rote Oktober von 1917 uns vor Augen geführt hat, dass das kommunistische „Paradies auf Erden“ weder infolge der Revolution oder per Dekret, noch durch eine Terrorherrschaft errichtet werden kann, so liefern uns die Reformen der 1990er-Jahre die ernüchternde Erkenntnis, dass eine Marktwirtschaft nicht per „Schocktherapie“ wie par ordre de mufti eingeführt werden kann.

Die Transformation der 1990er-Jahre stand vor den drei gewaltigen, kaum zu bewältigenden und im Grunde bis heute nicht vollendeten Aufgaben:

(1) dem radikalen Systemwechsel von einer zentral gesteuerten hin zu einer dezentral gesteuerten Ökonomie;

(2) die Etablierung der Marktwirtschaft als Geldwirtschaft bzw. die Ausbildung der Funktionsbedingungen einer auf Geld basierten Ökonomie und schließlich

(3) die Integration der russischen Volkswirtschaft in die Weltwirtschaft.

Jede der drei Aufgaben wäre an sich schon eine gigantische Herausforderung. Als wäre das nicht genug, sollten sie nach Gajdars Überzeugung und jene seiner Gefolgschaft sofort und umgehend realisiert werden, was sich im Verlauf der Reformen als unmöglich herausstellte.

Gajdars Versuch, den Transformationsprozess vor allem als eine Art „schöpferische Zerstörung“ durchzuboxen, führte zwar zur weitgehenden Zerschlagung der Planungsökonomie, aber eben nicht zur Etablierung der Marktwirtschaft als Geldwirtschaft.

Was unser Schocktherapeut, seine Entourage und seine westlichen Berater ignorierten, ist der Umstand, dass die eine Marktwirtschaft voraussetzenden Strukturreformen (Rechts-, Eigentums-, Währungsreform usw.) im Augenblick der sog. „Liberalisierung der Preise“ weder in Angriff genommen wurden noch im Ansatz vorhanden waren: Privateigentum, Geld und Kontrakt sind ebenso rechtliche, wie ökonomische Kategorien. Es gab das Geld und das Eigentum im Sozialismus ebenso wenig, wie das (nationale) Geld und das Eigentumsrecht in Russland zur Zeit der sogenannten „Schocktherapie“.

Wer – wie der US-Ökonom Jeffrey Sachs – von einer „Umwandlung von Staatseigentum in Privateigentum als abschließenden Schritt“ eines Transformationsprozesses spricht, hat die Transformation nicht nur grundlegend missverstanden, sondern „mit dem Terminus Staatseigentum auch verkannt, dass es Eigentum im Realsozialismus gar nicht gegeben hat“4. Die von der russischen Zentralbank emittierten Staatszahlungsmittel waren zudem weder Geld noch war die aus der sowjetischen Staatsbank hervorgegangene Zentralbank eine die Noten emittierende Bank. Genau das verkannte Gajdar, als er die „Liberalisierung der Preise“ in Gang setzte.

Zum einen glaubte er mit der Preisfreigabe, die Marktkräfte freisetzen zu können, was seiner Meinung nach automatisch eine spontane Entfaltung und Herausbildung des Marktes mit sich bringen würde. Das Problem der sofortigen Preisfreigabe und der sofortigen Streichung aller Subventionen bestand allerdings darin, dass dadurch die unrentablen Betriebe reihenweise pleitegehen mussten und stillgelegt werden sollten, wenn nicht die Zentralbank eingegriffen und die Pleitewelle durch ihre unbegrenzte Kreditvergabe gestoppt hätte.

Zum anderen übersah Gajdar, dass die Freigabe der Preise – losgelöst von den Strukturreformen in der Wirtschaft und Gesellschaft – die Zentralbank dazu regelrecht verdammen wird, eben diese exzessive Kreditvergabe an die unrentablen Betriebe unabhängig vom Marktgeschehen nach Belieben in Gang setzen zu müssen; es sei denn, Gajdar habe – worauf später noch ausführlich eingegangen wird – diese Entwicklung vorausgesehen und allein aus Machtkalkül in Kauf genommen.

Ein weiteres Problem bestand darin, dass Gajdar und seine Mitstreiter die Marktwirtschaft nicht als Geldwirtschaft und den Markt nicht als einen Ort der Durchsetzung vertraglich vereinbarten und monetär bewerteten Einkommens- und Vermögensansprüchen begriffen. Sie haben offenbar nicht verstanden, dass die sich in die Marktwirtschaft transformierende russische Ökonomie – sollte ihr Außenhandel liberalisiert und ihre Währung konvertiert werden – sofort in die Weltwirtschaft eingebettet, der harten, weltweiten Konkurrenz ausgesetzt und in einem Außenhandels- und Währungswettbewerb stehen wird. Das Unvermögen, in der Marktwirtschaft primär eine Geldwirtschaft zu begreifen, welche die Güterproduktion und Dienstleistungen durch Geld und nicht durch Machtvorgaben steuert, prägt Gajdars Transformationspolitik.

Da waren selbst manche sowjetischen Ökonomen schon weiter. So schrieb Nikolaj P. Šmeljov (Vordenker der Perestroika): „Entweder Macht oder Währung – eine andere Wahl hat es in der Wirtschaft von Adam bis heute nicht gegeben. Wir sind nicht die ersten (und nicht die letzten), die auf die Macht gesetzt haben.“5

Ohne Recht und Geld gibt es keinen Markt. Außerhalb der Geldwirtschaft herrscht entweder die untergegangene Planungsökonomie oder Naturalwirtschaft und außerhalb einer Rechtsordnung existiert eine Ökonomie, in der die Macht und nicht das Geld die wirtschaftlichen und sozialen Prozesse steuert. Das Recht ist für die Marktwirtschaft allein schon deswegen konstitutiv, weil es eine abstrakte, d.h. eine rechtslogisch sanktionierte, geldwerte Verfügungsmacht über eine Sache begründet. Nur die rechtslogisch sanktionierte, von der Rechtsordnung prozessual-rechtlich geschützte Verfügungsmacht kann sich gegen die staatliche Machtwillkür erfolgreich zur Wehr setzen.

Als Selbstorganisation von Güterproduktion und Dienstleistungen beruht die Marktgesellschaft auf Schuldverhältnissen, die die vertraglich garantierte Verwandlung von Geld in Vermögen und von Vermögen in Geld begründen. Der Markt ist ein Rechtsraum der selbstorganisierten Wirtschaftsgesellschaft auf Grundlage der monetär bewerteten Gläubiger-Schuldner-Beziehungen und nicht der Ort, an dem Privatbesitzer nach Gutdünken schalten und walten, über die Produktionsmittel Besitz ergreifen und über ‚Land und Leute‘ ihre Herrschaft ausüben, wie die vulgär-marxistischen Marktvorstellungen uns weismachen möchten.

Eine solche Wirtschaftsordnung ist keine selbstorganisierte Marktgesellschaft, sondern vom Besitz abgeleitete Privatmachtordnung, die getreu der marxistisch verformten Theorie der Klassik tatsächlich als Folge von Gajdars Transformationspolitik im postsowjetischen Russland der 1990er-Jahre entstanden ist und als die sogenannte „Oligarchenherrschaft“ missverstanden wurde. Zwar wusste auch Gajdar ganz genau, dass die Abkehr von und der endgültige Bruch mit der Sowjetwirtschaft lediglich eine Chance zu nachholender Modernisierung der russischen Volkswirtschaft eröffnen könnte, indem er nach seinem Ausscheiden aus der Regierung zutreffend auf die unterschiedlichen Entwicklungsszenarien in der Dritten Welt und der Ersten Welt verwies.6

Aus dieser Erkenntnis zog er aber die verkehrten Schlüsse. Er übersah, dass eine nachholende Modernisierung neben der geldgesteuerten Marktwirtschaft keine vom Besitz geleitete Privatmachtordnung zulässt und darüber hinaus die Marktbedingungen erforderlich macht, die eine Durchsetzung der russischen Wirtschaftsinteressen gegen die Interessen der auf dem Weltmarkt längst etablierten und dominierenden Industrienationen verlangt.

Gajdar ist zwar nicht entgangen, dass es sich bei den Entwicklungsländern um Marktwirtschaften handelt, in denen die Marktstrukturen existieren, auf deren Einführung in Russland er doch eigentlich zielte. Dies hat aber an deren Status als unterentwickelte, periphere Marktwirtschaften ganz und gar nicht geändert. Seine Transformationspolitik reichte zudem bei weitem nicht aus, um eine dezentrale und geldgesteuerte Ökonomie aufzubauen, auch wenn eine freie Preisbildung seit eh und je „als Kernstück der Marktwirtschaft“7 gilt.

Gajdars Glaube, dass der Markt infolge der sogenannten „Liberalisierung der Preise“ quasi automatisch die Kräfte freisetze und die Entwicklung initiiere, zerschellte bald an der rauen russischen politischen und ökonomischen Realität. Die Reformagenda unterlag von Anfang an einem doppelten Denkfehler:

(1) Sie ging von der Annahme aus, dass die Zerschlagung der überkommenen sowjetischen Macht- und Wirtschaftsstrukturen die Rückkehr zur Zentralsteuerung der Ökonomie unmöglich macht und automatisch zu dezentralen Marktbeziehungen führen wird.

(2) Sie hegte den naiven Glauben, dass es vollkommen ausreichen würde: „Staatseigentum“ in Privatbesitz zu überführen, Preise sofort freizusetzen, den freien (Außen)Handel zu ermöglichen und schließlich den Rubel zu konvertieren8, damit der Markt funktioniere.

Dieser naive Glaube verkannte die triviale Tatsache, dass die sog. „Marktwirtschaften“ Geldwirtschaften sind, die von den Vermögensbesitzern als Marktmacher gesteuert werden und dass es das Geld als Geld der Vermögensbesitzer in der russischen (immer noch von den sowjetischen Kreditwirtschaftsstrukturen beherrschten) Ökonomie mit ihren gigantischen, von der Planungsökonomie überkommenen Monopolen in den 1990er-Jahren gar nicht gegeben hat. Weder die Noten emittierende Bank noch marktgängige Vermögenswerte noch Eigentumsstrukturen existierten, sofern Eigentum als Rechtsinstitut und nicht als ein machtinduzierter Privatbesitz definiert wird.

Die russische Zentralbank emittierte zwar eine Recheneinheit, aber eben kein Geld, weil sie unabhängig von Marktteilnehmern, die die Bewertung der der Emission zugrunde liegenden Vermögenswerte autonom vornehmen, allein bestimmte, „welche Menge von Noten durch Staatsausgaben unter diejenigen verteilt wird, die Güter und Dienstleistungen produzieren. Damit wird die Einheit der wirtschaftlichen Vorgänge getrennt, weil gewöhnlich wertlose, nicht . . . marktgängige und vor allem restriktionslos zu vermehrende ‚Wertpapiere‘ dem Emittenten willkürliche Mengenerhöhungen des Zahlungsmittels gestattet“9.

Das war genau die Situation der Marktverfassung im Russland der 1990er-Jahre: Die fehlende Geldeigenschaft, die gefährdete Währungsstabilität und die mangelhafte Vermögenssicherungsqualität des Rubels trieben die Russen scharenweise zum Erwerb von Fremdwährung(en) und führten zu massiver Dollarisierung der russischen Ökonomie. Wo es an stabiler, marktgängiger Währung und geeigneten Vermögenswerten fehlt, weil die Eigentumsrechte nicht vorhanden sind, bleibt als Ausweg entweder eine monetäre Unterwerfung unter die Weltleitwährung oder eine Art „Currency Board-Lösung10, also eine von einem – von der Finanzierungspolitik unabhängigen – Währungsrat zu sichernde 100% Deckung der Geldemission mit Devisen eines Leitwährungslandes“ (ebd., 83).

Ohne die eigentumsbasierte und rechtlich fundierte Geldverfassung ist eine Marktwirtschaft nicht einmal denkbar, weil es einer solchen Ökonomie an rechtlich gesicherten und monetär bewerteten Kreditbeziehungen mangelt. Allein die fehlende Geldeigenschaft des Rubels als Folge der fehlenden Eigentums- und Rechtsordnung musste eigentlich den Glauben an die spontane Entfaltung der Marktkräfte erschüttern. Weit gefehlt! Die Marktgläubigkeit der Jungreformer bestand im Irrglauben, dass die Abschaffung der Planwirtschaft und die Einführung des als „Privateigentum“ verklärten Privatbesitzes automatisch jene Marktwirtschaft entstehen lassen werden, welche die notwendigen Voraussetzungen für die Schaffung einer funktionierenden und wettbewerbsfähigen Ökonomie erfüllen wird.

Die Vorstellung, dass der Markt allein durch die Preisfreigabe und die Einführung des Privateigentums entsteht, beruht auf den fehlenden Kenntnissen von Funktionsbedingungen einer geldgesteuerten Ökonomie. Man sollte sich die wirtschaftliche Entwicklung Westeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg vergegenwärtigen, um sich die ganze Fragwürdigkeit der sogenannten „Schocktherapie“ vor Augen zu führen. Der gut 40 Jahre andauernde Wiederaufbauprozess Westeuropas basierte „auf einemumfassenden System von Kontrollen und Regulierungen, das die Inflation und die Löhne niedrig hielt, und insbesondere die Regulierung der Wechselkurse, der Zinssätze, der Preise für lebenswichtigste Güter sowie die Existenz staatlichen Eigentums erlaubte. Dieses System wurde über Jahrzehnte hinweg in dem Maße abgebaut, indem man den Marktkräften die Bewältigung der Probleme zutraute.“11

Dieser Prozess vollzog sich zudem im Gegensatz zum Russland der 1990er-Jahre im Rahmen einer funktionierenden und marktgerechten Eigentums- und Rechtsordnung. Was fand aber Gajdar im Vorfeld seiner Transformation vor? Das Sowjetsystem kam erst ins Schwanken, als infolge der Perestroika eine geteilte Wirtschaft entstand. Eine teilweise Monetisierung der Sowjetökonomie durch die Einführung des „Marktes“ in Gestalt der sog. „Genossenschaften“ (кооперативу) stand in einem derart eklatanten Widerspruch zur Zentralsteuerung der Sowjetökonomie nach Machtvorgaben, dass das System von innen ausgehöhlt wurde und anschließend zerbrach.

Da die Jungreformer – namentlich Jegor Gajdar – vor einer Rückkehr der Kommunisten an die Macht Angst hatten, bedeutete diese Befürchtung, dass sie die ganze Tragweite einer unheilbaren, monetären „Infizierung“ der Sowjetökonomie nicht verstanden haben. Die zentralgesteuerte Planwirtschaft bedeutete, „dass die Zentrale eine unbedingte Kontrolle der Produktion und eine bedingte Kontrolle des Konsums ausüben, während sich die Vermögensbildung der Kontrolle durch die Zentraleentzieht.“12 Gorbačevs Perestroika führte nun aber dazu, dass die Zentralsteuerung der Produktion dergestalt monetär zurückgedrängt wurde, dass die Zentrale auf eine Mengenplanung und teilweise auch auf die „unbedingte Kontrolle der Produktion“ zugunsten der Marktmechanismen verzichtete, wodurch eine merkwürdige Mischung von vertikaler Planung und horizontalen Marktbeziehungen entstanden ist.13

Die infolge der Perestroika entstandene Mischmasch-Ökonomie führte einerseits zur Entfaltung und andererseits zur Begrenzung der Marktkräfte. Diese Dysfunktionalität der Sowjetökonomie in deren Endstadium fand Gajdar bei seiner Regierungsübernahme vor: Die Marktbeziehungen dürften einerseits die Plankontrolle nicht durchbrechen, die Monetisierung der Güterhortung der Betriebe führte aber andererseits zur Gefahr einer unkontrollierten Inflation. Nachdem der monetäre Geist aus der sozialistischen „Büchse der Pandora“ entwichen war, der das gesamte Sowjetsystem zunächst von innen ausgehöhlt und dann schließlich zum Fall gebracht hat, war es praktisch nicht mehr möglich, dieses monetäre „Übel“ zurück in die planwirtschaftliche „Büchse der Pandora“ zu zwingen.

Gajdar stand vor einem Dilemma: ‚Weiter so machen‘ oder die „echten“ Reformen durchführen. Er entschied sich für eine Tabula rasa mit verheerenden Folgen für die nachholende Modernisierung des Landes. Ob er nun eine Alternative dazu hatte, ist eine müßige Frage, weil man das Geschehene nicht mehr ungeschehen machen kann. Die Frage ist vielmehr: Was hat Gajdars „Schocktherapie“ bewirkt? Der erhoffte Entwicklungsschub konnte zum einen mangels intakten Markt- und Rechtsbedingungen nicht stattfinden; zum anderen stand die unterentwickelte postsowjetische Ökonomie den vom Weltmarkt diktierten Sachzwängen ohnmächtig gegenüber. Zum dritten verlangte die Endphase der sogenannten „sozialistischen Marktwirtschaft“ nicht deren Restrukturierung, sondern deren restlose Zerschlagung und die alternativlose Inthronisierung des Geldes als Instrument der Wirtschafts- bzw. Marktsteuerung.

Statt eine Währungsreform an den Beginn seiner Reformagenda zu stellen, begleitet von einer Rechtsreform und Privatisierung der Betriebe (was vor dem Hintergrund des nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems entstandenen politischen und ökonomischen Chaos zugegebenermaßen realpolitisch und verfassungshistorisch kaum durchführbar war), entschied sichGajdar für eine Transformationspolitik, die im Wesentlichen drei Ziele verfolgte:

(1) die endgültige Zerschlagung der sowjetischen Wirtschaftsstrukturen;

(2) die Überwindung der verfassungshistorisch bedingten Tradition der Untrennbarkeit von Macht und Besitz;

(3)  die Überwindung der imperialen Tradition der russischen Geschichte.

Nur das erste Ziel hat Gajdar verwirklichen können. Seine Reformpolitik besiegelte zwar das Ende der sowjetischen Planungsökonomie; deren Substituierung durch eine wettbewerbsfähige Ökonomie misslang aber komplett nicht zuletzt wegen der fehlenden monetären Steuerung. Zwar blieb keine sozialistische Mangelwirtschaft mehr bestehen, infolge der fehlenden Geldeigenschaft des Rubels wurde aber die einheimische Währung durch die Fremdwährung(en) verdrängt, da sie eben keine monetäre Steuerungsfunktion erfüllen konnte. Die Planwirtschaft verschwand, ohne dass eine Marktwirtschaft mit einem funktionierenden Bankenwesen und Vermögensmarkt entstand.

Einer auf den fehlenden Geld- und Vermögensmarkt gegründeten Ökonomie mangelt es am Zusammenwirken zwischen der vom Vermögensmarkt losgelösten Zentralbank und den Vermögensbesitzern, die durch freie Preisbildung bestimmte Marktprozesse kontrollieren. Das führt zwangsläufig zum Funktionsverlust der an Geldeigenschaft mangelnden Landeswährung und deren Substituierung durch Fremdwährung(en), was letztlich zur Dollarisierung der postsowjetischen Ökonomie der 1990er-Jahre führt. Eine solche Ökonomie bleibt dysfunktional; ihr fehlt jede Entwicklungsperspektive.

Der Unterschied zur Sowjetzeit bestand lediglich darin, dass anstelle der vertikalen Planung durch die Machtvorgaben des Zentrums eine von wenigen beherrschte, auf Privatbesitz gegründete, dezentrale Privatmachtsteuerung mit Rückkoppelung an die einflussreichen Machtakteure aus Staat und Verwaltung im Rahmen der immer noch übermonopolisierten Ökonomie trat. Die Ökonomie blieb nach wie vor dysfunktional, weil sie auf eine geteilte, monetäre und machtinduzierte Steuerung angewiesen war.

Die rhetorische Akzeptanz der Marktwirtschaft täuschte darüber hinweg, dass sich an der Dysfunktionalität der ökonomischen Prozesse nichts geändert hat, solange die monetäre Steuerung der russischen Ökonomie konterkariert wurde. Die von Gajdar eingeleitete Transformation hat zwar die Zentralsteuerung weitgehend beseitigt, die Machtkontrolle über die wirtschaftlichen Prozesse durch die neu entstandenen Privatmachtstrukturen aber keineswegs aufgehoben, wodurch kein vom Vermögensmarkt gesteuertes, funktionsfähiges monetäres System des Wirtschaftens entstehen konnte. Es entstand vielmehr eine Ökonomie auf der Grundlage einer reziproken Durchdringung von Macht und Besitz. Die privatwirtschaftlich induzierte Güterproduktion, Dienstleistungen und Konsumtion entzieht sich hingegen der Zentralsteuerung ebenso, wie der privatisierten Machtsteuerung, „weil jede ökonomische Aktivität auf dem Individualkalkül des Wirtschaftens beruht“14 und dadurch von Zentral- und Machtsteuerung letztlich unabhängig ist.

Es fällt auf, dass Gajdars Reformpolitik die Funktionsbedingungen der Geldwirtschaft außer Kraft setzt, indem sie die Planungsökonomie in die Marktwirtschaft zu überführen sucht, ohne sich offenbar dessen bewusst zu sein, „dass der Markt für sich genommen keine Kohärenz des ökonomischen Systems begründet. Vielmehr kann allein . . . die uniformierte Kategorie Geld diese Funktion erfüllen“15, weil der Markt seine Funktionsfähigkeit durch die Sicherung des Zinsanspruchs konstituiert. Die russische Ökonomie der 1990er-Jahre befand sich in einem Schwebezustand zwischen dem (noch) bestehenden sowjetischen Finanzierungssystem und (noch) nicht geldgesteuerten Marktprozessen.

Es gehörte denn auch zu den großen Illusionen der Jungreformer daran zu glauben, dass ihre Reformpolitik eine rasche Angleichung an das Wohlstandsniveau der entwickelten Industrieländer bewirken würde. Tatsächlich sprach aber fast alles dafür, dass Russland ein Entwicklungsland bleiben wird, was bestenfalls nur eine ökonomische Stabilisierung bei sinkendem Lebensstandard bedeuten würde. Gajdar versäumte zu Beginn seiner Reformen zuallererst eine Währungsreform durchzuführen; nicht einmal die eigene nationale Währung wollte er haben. In Anbetracht der zerfallenen Union und angesichts des Bestrebens, eine Währungs- und Wirtschaftsunion aufrechtzuerhalten, mag die Ablehnung einer Nationalwährung opportun erscheinen; markt- und entwicklungstheoretisch betrachtet, ist die Transformation dadurch aber bereits von Anfang an auf die schiefe Bahn geraten.

Auch eine funktionsfähige monetäre Infrastruktur hat eine wertstabile Währung zur Voraussetzung, die eine Währungsunion mit ihren 15 Zentralbanken unmöglich gewährleisten konnte. Allein aus dem marktendogenen Bedürfnis nach Vermögenssicherung ergab sich, dass eine inflationierende Währung unvermeidbar durch Fremdwährung(en) substituiert wird. Das von Gajdar verkannte Hauptproblem der Transformation war die fehlende markttaugliche Währung. Sie blieb in den 1990er-Jahren ein reines „Willkürgeld“, das in keiner Beziehung zu haftendem Eigentum stand.16 Mag die Entwicklung des Geldsystems zu Willkürgeld „kein Mangel, sondern eine zivilisatorische Errungenschaft“ sein, das „die Funktionsfähigkeit einer Geldwirtschaft erhöht“, mag die „Bindung der Geldemission an Eigentum“ auch „antiquiert“ erscheinen – wie Hansjörg Herr17 beteuert; aber auch das Willkürgeld hat eine Geldwirtschaft zur Voraussetzung.

Unter den Bedingungen der Transformation, in deren Folge sich eine Geldwirtschaft erst ausbilden sollte, wirkte eine Währung ohne Geldeigenschaft nicht nur destabilisierend und vermögensvernichtend bzw. inflationsfördernd, sondern es bestand auch eine berechtigte Vermutung, dass sie die Etablierung einer Marktwirtschaft gefährdet, was eine politische und ökonomischeFreiheitsgefährdung zufolge haben kann und auch gehabt hat. Als „geprägte Freiheit“ (Dostojewskij) ist Geld das Steuerungsinstrument ökonomischer Prozesse, das die staatliche Machtwillkür in die Schranken weist. Fehlt eine geldgesteuerte Ökonomie, dann wird eine Wirtschaftsverfassung als Geldwirtschaft lediglich parodiert, aber nicht etabliert.

2. Am Scheideweg zwischen Recht und Macht

Gegen Ende der 1980er-Jahre reiste ein den Wirtschaftsreformern nahestehender sowjetischer Wissenschaftler Vitalij Najšul in die USA und traf dort Milton Friedman. Bei dem Treffen empfahl Friedman dem sowjetischen Gast die Privatisierung der Sowjetwirtschaft durchzuführen, und zwar „sobald wie möglich“. 15 Jahre später fand in Moskau eine von Vertretern des liberalen Russlands organisierte Tagung statt, auf der ein Brief von Milton Friedman verlesen wurde. In dem Schreiben gestand Friedman ein, dass seine Empfehlungen und Vorschläge für die Wirtschaftsreformen in Russland falsch waren: „Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde ich des Öfteren gefragt: Was müssen die ehemaligen kommunistischen Staaten tun, um eine Marktwirtschaft zu etablieren? Ich pflegte daraufhin immer wieder zu sagen: privatisieren, privatisieren und nochmals privatisieren. Ich habe mich geirrt und Russland ist der beste Beweis dafür. Es hat zwar eine Privatisierung durchgeführt; daraus sind aber Privatmonopole und zentralgesteuerte Privatsysteme entstanden, die lediglich die zentralgesteuerte Staatsplanung substituierten (частные монополии, частные системы централизованного планирования, которые заменили централизованное планирование государства).

„Offenbar“ – schlussfolgert Friedman – sei „der Vorrang des Gesetzes viel wichtiger als eine Privatisierung. Eine Privatisierung ist nämlich sinnlos, wenn es keine Herrschaft des Rechts gibt“18. Friedmans Eingeständnis kam für Gajdars Reformpolitik viel zu spät. Der Slogan „privatisieren, privatisieren und nochmals privatisieren“ ist zum marktideologischen Mantra der Reformer geworden, die sich eine heilsbringende Erlösung von der sowjetischen Planwirtschaft versprachen. Dass der Privatisierung die Entflechtung der aus der Planwirtschaft überkommenen Monopole vorausgehen sollte, davon war allerdings nie die Rede. Friedmans Schreiben kommentiert Belanovskij mit den Worten: „Jegor Gajdar war nicht so sehr ein Gegner des Rechts, als vielmehr einer, der glaubte, dass es unmöglich ist, die Wirtschaftsreformen im rechtlichen Rahmen durchzuführen. Die Hyperinflation hat er bewusst in Kauf genommen, um die Ersparnisse der Bevölkerung zu entwerten . . . Gajdar ist zwar ein Ökonom, als Politiker bedient er sich aber einer machiavellischen Taktik. Wahrscheinlich hatte er auch recht. Man sollte allerdings in einem bestimmten Augenblick auch an das Recht denken, was leider nicht passiert ist. Ausgerechnet Gajdar hat mit Jelzin die traditionelle Missachtung des Rechts im postsowjetischen Russland etabliert und das ist auch bis heute so geblieben“ (ebd.).

Nun, man muss nicht so weit gehen, um Gajdar irgendwelche „machiavellischen“ Absichten zu unterstellen, mit deren Hilfe er angeblich Bevölkerungsersparnisse entwertete oder gar das „Recht“ missachtete. An welchem Recht sollte sich Gajdar denn orientieren, um seine Marktreformen, Privatisierung usw. durchführen zu können? Gab es überhaupt ein solches marktkonformes Recht im Russland der 1990er-Jahre? Dass „jeder Streit über das Recht fruchtlos ist, wenn das Recht selbst nicht besteht“, lehrte uns Hugo Grotius bereits vor knapp 400 Jahren.19 Gajdars Reformpolitik wurde – und das kann man mit Fug und Recht behaupten – auf juristischem Sand gebaut.

Die eigentliche Frage, die sich stellt, ist: Warum war Milton Friedman so enttäuscht von der „Privatisierung“ in Russland? Lag das wirklich allein an Gajdars „machiavellischer Taktik“? Die schärfste Kritikerin der Gajdarschen Reformpolitik, Larisa Pijaševa20, war dezidiert der Auffassung, dass die sogenannte „Privatisierung“ des „Staatseigentums“ gar keine Privatisierung war. Zwar wurde die Großindustrie in Aktiengesellschaften umgewandelt, sie gelangte aber nicht in Privatbesitz.

Mit den 1992 eingeführten, drastischen Steuern (allein die MwSt. betrug 28%) wurden selbst die zu Gorbačevs Zeit ins Leben gerufenen Genossenschaften im Keim erstickt. Die als „Liberalisierung der Preise“ verklärte Preisfreigabe war in Wirklichkeit erstens eine Privilegierung der sich immer noch im Staatsbesitz befindenden Monopole, ohne dass eine Konkurrenzwirtschaft entstehen konnte. Die Preisfreigabe wurde zweitens nur teilweise durchgeführt; die kurz danach in Gang gesetzte Gelddruckpresse führte drittens zu einer gigantischen Verbraucherpreis- und Kreditinflation, deren Ergebnis eine vollständige Entwertung des Betriebskapitals der meisten Unternehmer zufolge hatte.

Die „Privatisierung“ war somit nach Pijaševa ein Flop. Nach ihren Angaben aus dem Jahr 199421 waren lediglich 15 % des gesamten Staatsbesitzes „privatisiert“ und selbst diese bescheidenen 15 % waren eine „Pseudo-Privatisierung a la Čubais“. Die gegründeten Investitionsgesellschaften, die unter Kontrolle von Čubais` Privatisierungsbehörde standen, besaßen faktisch alle Aktienpakete, mit denen sie handeln konnten. Die Privatisierungslogik bestand nicht so sehr darin, den Staatsbesitz der Bevölkerung zu übereignen, als vielmehr darin, die an den Schalthebeln der Macht sitzende Nomenklatura zu bedienen, zumal der größte Teil des Staatsbesitzes vom Privatisierungsprozess ausgenommen wurde.

Seit August 1998 sind selbst die bescheidenen, von Gajdar eingeleiteten Reformen zum Stillstand gekommen. Die Folgen des Finanzkollapses waren ein Zusammenbruch der Geschäftsbanken und die Rezentralisierung des Finanzsystems, was letztlich zur Konzentration von Besitz und Kapital in den Händen des Staates führte. Pijaševa diagnostiziert hier das, was Gajdar mit seiner Transformation eigentlich zu überwinden trachtete.

Resümierend nimmt Pijaševa die zukünftige Entwicklung der russischen Wirtschaftsverfassung bereits im Jahr 2001 zutreffend vorweg: „Es gab keine liberale Reform in Russland. Wir haben heute vielmehr eine hybride Ökonomie (смешанная экономика), die infolge der durch Gajdar restrukturierten Wirtschaft entstanden und derart lebensunfähig ist, dass von einem möglichen Wachstum, Entwicklung oder einer Überwindung der Finanzkrise gar keine Rede sein kann. Alle Versuche der Regierung, den Status quo aufrechtzuerhalten, werden unter diesen Bedingungen keine erfolgversprechenden Ergebnisse mit sich bringen, so dass die Staatsmacht letztlich gezwungen sein wird, die geeigneten Maßnahmen zur Stärkung des administrativen Verwaltungssystems im Wirtschaftsleben zu treffen (власть будет вынуждена предпринимать дальнейшие шаги по усилению административного элемента в хозяйственной жизни).“

Eine bemerkenswert treffsichere Prognose aus dem Jahr 2001! Ferner sagt sie „eine bekannte sozialistische Wirtschaftsweise“ voraus, die zur Zentralisierung und Militarisierung der russischen Ökonomie führen wird, indem die Ressourcen des ganzen Landes auf den Aufbau der Militärindustrie konzentriert werden. Den wesentlichen Grund dafür erblickt Pijaševa in der auf Privilegien und nicht auf Konkurrenz gegründeten russischen Ökonomie der 1990er-Jahre.

In ihrer 2002 erschienenen Studie „Politische und ökonomische Elite Russlands“ beurteilt die bekannte russische Soziologin Olga Kryštanovskaja ähnlich die ökonomische Entwicklung der 1990er- Jahre aus soziologischer Sicht: „Russische Wirtschaft war keine liberale Ökonomie und die Wirtschaftselite ist heute eine geschlossene Gesellschaft, die von Großkapital und Industrie mit der Zustimmung der Staatsmacht kontrolliert wird.“22

Infolge des Finanzkollapses von 1998 seien nach Kryštanovskajas Angaben von der russischen Wirtschaftselite der 1990er-Jahre bestenfalls 15% übriggeblieben. Spielten die Finanzstrukturen (Banken, Börse, Investmentbanking) vor 1998 die Hauptrolle in der russischen Ökonomie, so seien sie nach dem Finanzdesaster bedeutungslos geworden. Der spekulative Sektor der Wirtschaft wurde zerstört und konnte sich faktisch bis heute nicht mehr erholen.

Gajdar und seine Mitstreiter haben, wie man sieht, mit ihrer sogenannten „Privatisierung“ – statt privatwirtschaftliche und privatrechtliche Strukturen zu implementieren und einen Unternehmergeist in der Bevölkerung zu fördern – eine auf Verflechtung von Macht und Besitz basierte Rentier-Ökonomie etabliert. Diese war nicht primär auf eine nachholende Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft oder etwa eine entwicklungsorientierte Einkommensbildung der breiten Bevölkerungsschichten, sondern auf regelmäßige Abschöpfung von Renten und dauerhafte Absicherung von Rentenzuflüssen von außen wie auch eine Kontrolle über deren Verteilung im Inneren ausgerichtet.

Milton Friedmans Enttäuschung ist von daher mehr als verständlich. Daran zeigte sich aber auch die eigentliche Tragödie der Jungreformer, die sich anmaßten, Russland zwar mit hehren Absichten, aber ohne jegliche Kenntnisse über die monetären und geoökonomischen Auswirkungen ihrer „Reformen“ zu modernisieren.

3. Monetarismus als geoökonomische Strategie

Wie liberal waren nun die Reformen der 1990er-Jahre? Haben sie einen Liberalismus in Russland etabliert? Ist eine gewisse Liberalisierung der russischen Ökonomie mit Liberalismus gleichzusetzen? Sind Liberalismus, Liberalität und Liberalisierung ein und dasselbe Phänomen? Ging eine ökonomische Liberalisierung in eine politische und gesellschaftliche Liberalität über? Haben Russen überhaupt eine solche Differenzierung vorgenommen? Und war Gajdar ein Liberaler?

In der ganzen Diskussion darüber, ob die Reformen der 1990er-Jahre „liberal“ waren, herrscht mehr Verwirrung als Klarheit. Die Frage wird von deren Gegnern23 wie von deren Befürwortern24 meistens negativ beantwortet.

Die einen – wie Boris Fedorov und Petr Aven – prahlten mit erfolgsreicher ökonomischer Liberalisierung (in Form der Währungskonvergenz oder der Liberalisierung des Außenhandels) und beklagten zugleich deren rudimentären Charakter. Die anderen – wie Vitalij Najšul und Larisa Pijaševa – bemängelten die fehlende Liberalität, ohne die ökonomische Liberalisierung grundsätzlich in Frage zu stellen.

Boris Fedorov – einer der wenigen, klugen Köpfe der Jungreformer – vertrat noch im Jahr 1999 die Auffassung, dass die ökonomische Liberalisierung nur „formal“ einer marktwirtschaftlichen Natur war. Seine Auffassung begründete er mit folgenden Argumenten:

(1) „Formal“ haben „wir“ Marktwirtschaft, faktisch aber eine gigantische, staatlich gesteuerte Umverteilungsökonomie, die mittels der Subventionen, Transferleistungen und einer Günstlingswirtschaft am Leben erhalten wird. Von den Staatsbeamten hängt fast jeder Geschäftsabschluss ab.

(2) Seit dem Ende der Sowjetunion fand keine liberale Strukturbereinigung des Staatsapparats statt und es blieb alles beim Alten.

(3) Alle Bemühungen um eine Finanzstabilität waren vergeblich; zu hohe Zinsen sowie eine dramatische Zunahme der Innen- und Auslandsverschuldung vertieften nur noch die Krise.

(4) Die Machteliten verkennen nach wie vor die eigenen nationalen Interessen, weil sie die elementaren ökonomischen Zusammenhänge nicht verstehen. So wird beispielsweise selbst der Widerstand gegen die übermäßige Kreditaufnahme beim IWF als unpatriotisch denunziert.

(5) Zwar existiert ein Devisenmarkt, der Rubel ist aber in Wahrheit keine konvertible Währung und wird ständig manipuliert.

(6) „Was das Privateigentum angeht, so ist es irgendwie da und wiederum nicht da“ (она вроде есть, но её вроде и нет), weil sich die Rechtssicherheit in statu nascendi befindet. Jeder Anleger und jedes Großunternehmen weiß, dass sie der Staatsgewalt schutzlos ausgeliefert sind.“

(7) Die Schattenwirtschaft sei heute größer als die offizielle; der Grund liegt nicht zuletzt in der Dollarisierung der russischen Ökonomie.

(8) „Die Liberalisierung des Außenhandels ist zwar eine der wesentlichen Errungenschaften der vergangenen Jahre“, glaubt Fedorov zu wissen. Sie hängt aber bis heute von den guten Beziehungen zum Staatsapparat ab.

(9) Es gibt keine unabhängige Zentralbank.

Resümierend stellt Fedorov resigniert fest: Russlands Problem sei heute nicht das Ergebnis der „liberalen“ Reformen, sondern vielmehr deren Abwesenheit.25 Fedorov gebraucht hier die Begriffe Liberalität und Liberalisierung eindeutig synonym.

Demgegenüber beteuert Peter Aven in einem Interview vom 20. Dezember 2006: „Was die Reformen der 1990er-Jahre angeht, so hätten wir natürlich aus heutiger Sicht vieles anderes gemacht“. „Bei allen Unzulänglichkeiten“ – rechtfertigt er sich dennoch vollen Stolzes – „haben wir die fundamentalen, makroökonomischen Reformen durchgeführt: Eigentums-, Budget- und Außenhandelsreform. Sie haben die katastrophale Situation, in der sich das Land befand, gerettet . . . Sie waren der erste Versuch einer ökonomischen Liberalisierung Russlands . . . Wir haben den Rubel konvertiert, das Steuersystem eingeführt, den Handel nach innen wie nach außen liberalisiert und die Preise freigegeben. Kurzum: Das Skelett einer normalen Marktwirtschaft wurde geschaffen“26.

Hier wird die ökonomische Liberalisierung in den Vordergrund gestellt, ohne dass eine politische bzw. gesellschaftliche Liberalität irgendeine Rolle spielt. Das Selbstlob wundert kaum, stand Aven doch zusammen mit Boris Fedorov an der vordersten Front der Jungreformer. „Das Skelett einer normalen Marktwirtschaft“, von dem Aven schwärmte, war allerdings alles andere als „normal“.

„Als wir davon träumten“ – gibt Vitalij Najšul die ganze Naivität der Jungreformer zum Besten -, „eine Marktwirtschaft aufzubauen, dachten wir, dass ein dazu gehörendes Rechtssystem einfach von selbst entstehen wird . . . Es ist jedoch kein Rechtssystem entstanden und es gibt es auch bis heute nicht“, stellte der nicht mehr so junge „Jungreformer“ noch im Jahre 2004 fest.27

„Gibt es einen Markt“ – sinniert Najšul weiter – „dann gibt es auch ein Gericht. Gibt es kein Gericht, dann wird allein das administrative System funktionieren. Das bedeutet aber, dass es bei uns keinen Markt geben wird“ (Если есть рынок, значит есть суд. Если нет суда, то вместо него будет работать административная система. Значит у нас рынка уже не будет).28

Nun kann man Gajdar und seiner Mannschaft nicht ohne weiteres ein illiberales oder gar antiliberales Denken vorwerfen. Mit dem Liberalismus als der liberalen Rechtsidee konnten sie einfach nichts anfangen. Nicht nur die Jungreformer hatten davon keine Ahnung und das lag nicht einmal an der Indoktrination durch die Sowjetideologie, sondern in noch höherem Maße an der fehlenden russischen Rechtstradition im neuzeitlichen Sinne des Wortes. Es war zudem weder Gajdars Transformationsziel noch das der übrigen Jungreformer.

Ihr Hauptanliegen war primär die ökonomische Liberalisierung des Landes. Was man allerdings Gajdar und seinen Mitstreitern vorhalten kann, ist, dass sie selbst nachträglich nicht verstanden haben, dass eine ökonomische Liberalisierung ohne den Rechtsliberalismus nicht funktionieren kann. Sie hat schlussendlich auch nicht funktioniert – und sie funktioniert bis heute nicht. Das ist die eigentliche Erblast der Transformation.

Diese Erblast hat Larisa Pijaševa in einer nicht zu übertreffenden Weise bereits 1992 vorausgesehen: „Jene Reform, die jetzt stattfindet, ist in Wahrheit gar keine; das, was man Liberalisierung nennt, ist gar keine; das, was man Privatisierung nennt, führt nicht zum Privateigentum. Er (= Gajdar) macht alles falsch und man sollte sich lieber keine Illusionen machen. Er verfolgt gleichzeitig eine inflationäre und eine deflationäre Politik. Das ist ein Paradoxon.“29

Ohne den Rechtsliberalismus führt auch die monetaristisch induzierte „Liberalisierung“ trotz Beteuerungen eines Petr Aven zu keiner „normalen Marktwirtschaft“. Statt die erforderlichen, der monetaristischen Liberalisierungsdoktrin vorausgehenden Reformen einzuleiten, haben die Jungreformer getreu der monetaristischen Geld-, Finanz- und Wirtschaftspolitik das, was erst am Ende eines langen Transformationsprozesses stehen sollte, an dessen Anfang vorangestellt: die Währungskonvergenz und die Liberalisierung des Außenhandels. Dieses verfrühte und darum völlig unnötige Vorziehen der Reformschritte hat den weiteren Verlauf der Transformation in Russland in doppelter Weise nachhaltig und unwiderruflich präjudiziert: Eine entwicklungsorientierte Transformation wurde (1) bereits im Keim erstickt und der Transformationsprozess selbst (2) auf eine nationalökonomische Entwicklung festgelegt, deren geoökonomische Folgen heute erst richtig sichtbar werden.

Der Liberalismus wurde von Anfang an auf Eis gelegt, durch die monetaristisch geleitete „Liberalisierung“ des Binnenmarktes substituiert und Russland letztlich jede Chance auf eine entwicklungsorientierte Transformation verbaut. Die Konsequenz war eine Freigabe und Aufgabe der eigenen nationalökonomischen Souveränität und deren Unterwerfung unter das Diktat des Weltmarktes.

Eine frühzeitige Liberalisierung des Außenhandels brachte fatale Folgen mit sich: Das staatlich überregulierte Verteilungs- und Versorgungssystem brach zusammen und wurde sehr schnell durch privatwirtschaftlich organisierte Vertriebsnetze ausländischer Marktteilnehmer nicht nur problemlos ersetzt, sondern regelrecht überrollt. Der russische Binnenmarkt wurde mit Produkten westlicher Industrieländer überflutet. Die einheimische, nicht konkurrenzfähige Industrie schnitten die ausländische Vertriebsnetze dadurch von Konsumenten und Lieferanten ab. Die Folge war eine beschleunigte, massive Deindustrialisierung der sowieso nicht wettbewerbsfähigen, am Boden liegenden, unterentwickelten Volkswirtschaft in den 1990er-Jahren und – was genauso folgenschwer ist – der Einstieg in eine den meisten Zeitgenossen verborgen gebliebene, aber nicht desto weniger zukunftsweisende Geoökonomisierung der Geopolitik.

Das Unvermögen bzw. der Unwille, (1) eine sofortige Währungsreform durchzuführen, (2) die Unmöglichkeit einer sofortigen Umstellung von geldloser auf geldgesteuerte Ökonomie und schließlich (3) die Unmöglichkeit, einen sofortigen Ersatz für das staatliche Versorgungsnetz zu schaffen, ließen die Rentabilität der russischen Industrie faktisch ‚auf null sinken‘. Unter diesen Voraussetzungen handelte es sich auch bei der sog. „Privatisierung“ nicht einfach um Verkauf zu fairen Marktpreisen, die es gar nicht geben konnte, sondern um ein regelrechtes Verschleudern von Unternehmen, was eine weitgehende Desinvestition zufolge hatte.

Die Liberalisierung des Außenhandels, worauf Petr Aven so stolz ist, war für die entwicklungsorientierte Einkommensbildung ein Desaster. Erforderlich wäre vielmehr ein „entwicklungsbestimmter Protektionismus“, da die Entwicklung ihrer Natur nach „ein nationaler, kein internationaler Vorgang, ein nationaler Vorgang mit Auswirkungen auf den Weltmarkt und Rückwirkungen vom Weltmarkt“ bedeutet. Protektionismus heißt hier „nichts anderes als SicherungdesEntwicklungswegesvorhemmendenWeltmarkteinflüssen … Protektionismuserhältdabeiseine normative Fundierung durch die Notwendigkeit einer simultanen Entwicklung von Binnenmärkten und der Schaffung von exportfähigen Gütern. Der Industrialisierungsprozess vollzieht sich dabei über die Entwicklung von (arbeitsintensiven) Konsumgüterindustrien, weil allein sie einen Binnenmarkt entstehen lässt, dessen Potential sich im Gefolge der Industrialisierung herausbildet. Exporte von Konsumgütern (neben Exporten von Rohstoffen) bilden das außenwirtschaftliche Korrelat dieses Entwicklungsmusters, sodass allgemein der Industrialisierungsprozess eines Landes durch ein gleichzeitiges Entstehen von Binnen- und Exportmärkten für Konsumgüter gekennzeichnet ist.“30

Die Transformation in Russland wurde demgegenüber von einer monetaristisch induzierte Deindustrialisierung des Landes begleitet, welche die erdrückende (geo)ökonomische Dominanz des Westens auf den Weltmärkten offenbarte. Die Weltmarktdominanz der entwickelten Industrieländer löste in Kombination mit der von Gajdar in Gang gesetzten monetaristischen Wirtschaftspolitik einen gigantischen Importüberschuss aus, welcher jede denkbare und undenkbare Option auf eine entwicklungsorientierte Transformation unter sich begrub.

Die überwiegend konsumtive und damit entwicklungsfeindliche Transformation provozierte eine dramatische wirtschaftliche Kontraktion und Depression in Russland, die den Zwang zum Export zu Lasten der Investitionen in einem ohnehin schon investitionsfeindlichen Umfeld nur noch erhöhte, um der aus dem Ressourcentransfer resultierenden Verschuldung Herr zu werden, deren Abbau wiederum von den vom Westen dominierten Weltmärkten diktiert wurde.

Auch die von Aven und Fedorov gepriesene Währungskonvergenz war nicht nur verfrüht, sondern wegen einer fehlenden monetären Infrastruktur auch kontraproduktiv. Von daher ist es auch kein Wunder, wenn Gajdar einen währungspolitischen Zickzackkurs praktizierte. Vor seinem Eintritt in die Regierung leistete er keinen sichtbaren Widerstand gegen die Einführung einer nationalen Währung. Während seiner Regierungszeit 1991/92 war er allerdings deren entschiedener Gegner. Nach dem Ausscheiden aus der Regierung war Gajdar davon überzeugt, dass die Ursache des Scheiterns der Finanzstabilität in Russland die fehlende nationale Währung war31. Über die Beweggründe seiner Weigerung, die eigene Währung in seiner Regierungszeit einzuführen, darf spekuliert werden. Dreierlei könnte hierfür ausschlaggebend sein:

(1)  Das Bestreben, die immer noch intakten sowjetischen Machtstrukturen in der Wirtschaft mittels einer bewusst herbeigeführten Hyperinflation zu sprengen oder zumindest zu schwächen.

(2)  Die infolge der exzessiven Inflation entstandene weitgehende Entwertung aller sich noch im alten System befindenden Vermögenswerte sollte dazu beitragen, die Einheit von Macht und Besitz zu „sprengen“, um die dezentralen Marktbeziehungen zu implementieren bzw. das entwertete Betriebskapital und die entwerteten Vermögenswerte in die anderen, neu entstandenen Eigentumsstrukturen zu überführen.

(3)  Der Einfluss der Doktrin des sogenannten „Washington Consensus“.

Welche der Gründe ausschlaggebend waren, ist schwer auszumachen. Vielleicht bringt ein Interview

Gajdars etwas Licht ins Dunkel. In diesem Interview unter der bezeichnenden Überschrift „Утопить в рублях друг друга? После всего пережитого?“ (Sollten wir etwa nach all dem, was geschah, in der Rubel-Flut untergehen?)32 warnt Gajdar davor, dass „alles im Chaos versinkt“ (иначе всё утонит в хаосе), falls die nationalen Währungen eingeführt werden.

Die Argumentation ist insofern abwegig, als das inflationäre „Chaos“ auch ohne die nationalen Währungen stattgefunden hat. Hat Gajdar es womöglich bewusst in Kauf genommen? Wie dem auch sei, nach seinem Ausscheiden aus der Regierung 1994 wurde Gajdar des Öfteren gefragt, warum die Finanzstabilität in seiner Regierungszeit misslang. Seine Standardantwort verwies immer wieder auf die 15 unabhängig gewordenen Emissionsbanken der ehemaligen Unionsrepubliken, welche die Kreditinflation in Gang setzten und so einen Inflationsimport bewirkten, wodurch die Finanzstabilität konterkariert wurde.

Dass Gajdar als Regierungschef die Einführung der nationalen Währung bekämpft hat, rechtfertigte er mit Hinweis darauf, dass „eine plötzliche, von heute auf morgen erfolgte Abkoppelung des russischen Währungssystems von den übrigen Unionsrepubliken eine komplette Ausbremsung der Wirtschaft bedeutet und unweigerlich zum vollständigen Zahlungschaos geführt hätte. Erforderlich war daher eine gründliche Vorbereitung der neuen Verrechnungskonten der Zentralbanken. DieseMaßnahmen benötigten mindestens ein halbes Jahr“, beteuerte Gajdar.33

„Wenn selbst alle anderen Unionsrepubliken ihre eigenen nationalen Währungen einführen wollten, selbst dann“ – fügte er hinzu – „wäre es am billigsten, die Verantwortung zu übernehmen und die Unionswährung zu behalten. Das ist eine glasklare Position. Sie wäre nur dann falsch, wenn Russland lediglich 25 % des BIP der Union erwirtschaftete. Da es aber gut 60 bis 70 % des BIP erwirtschaftet, sollte es die Unionswährung beibehalten. Das wäre eine sehr vernünftige Maßnahme“ (ebd.).

Eine solche rein realwirtschaftliche Bewertung der monetären Vorgänge mutet zwar seltsam an, ist aber verständlich, erscheint doch der Markt für einen marxistisch geschulten Ökonomen „eher als beiläufiger Ort für die Erfüllung des Primärinteresses der Reproduktion des Kapitals mit Überschuss, das heißt einer Herrschaft der Kapitalisten über die Produktionsmittel, die zum Profit führe“, wohingegen Geld „ausschließlich der Tauscherleichterung“ diene und lediglich „als besonderes Gut“ und „als universaler Wertmesser für jeglichen Handel“ gelte.34

Unterstellt man Gajdar jedoch eine gewisse geldtheoretische Vorbildung, so könnte seine „glasklare“, währungspolitische Position machtpolitisch motiviert sein. In einer Begegnung mit Parteifreunden hält Gajdar am 19. Januar 1995 ein Referat über die Wirtschaftskrise in Russland, indem er u.a. eindringlich vor der Machtübernahme durch die Kommunisten warnt und meint beiläufig: Man importiere eine Fremdwährung nur dann, wenn man die eigene Währung zerstören wolle.35

Mit dem Verzicht auf die eigene nationale Währung verzichtete Gajdar automatisch auch auf eine unabhängige Geldpolitik und nahm offenbar bewusst die Zerrüttung der Finanzen sowie der Währung und die daraus resultierende Dollarisierung des Binnenmarktes billigend in Kauf. Ob der Verzicht auch von außen gesteuert wurde, ist nicht ganz klar. Im Jahr 1998 beteuerte Gajdar allerdings: „Ausländische Experten plädierten für die Aufrechterhaltung der Währungsunion. Wir waren hingegenzutiefst davon überzeugt, dass die Währungsunion gar nicht funktionsfähig wäre und dass wir einen beachtlichen Inflationsimport bekommen würden, der unsere Stabilisierungsbemühungen konterkarieren dürfte. Die Ergebnisse haben uns wohl auch recht gegeben.“36

Was ist nun von diesen offenkundigen Widersprüchen zu halten? Die Antwort liefert uns womöglich Grigorij Javlinskij. Er bestritt nämlich indirekt Gajdars Äußerung, als er in einem 2016 gegebenen Interview37 die Frage nach einer möglichen Währungsunion mit der Ukraine kurz nach dem Zusammenbruch der UdSSR mit einer geopolitischen Reminiszenz beantwortete: „Dass die Unabhängigkeitsbestrebungen der ehemaligen Sowjetrepubliken vorhanden waren, stand außer Frage. Das Problem bestand allerdings darin, dass die Abspaltungsbestrebungen von unseren westlichen Partnern massiv unterstützt wurden. Sie befürworteten die nationalen Währungen für jede ehemalige Unionsrepublik und lehnten sowohl eine Einheitswährung als auch einen einheitlichen Wirtschaftsraum strikt ab . . ., und zwar deswegen, weil sie ihre geopolitische Konfrontation fortsetzten.“

„In jenen Jahren war ich ein junger Idealist“ – setzte Javlinskij seine Erzählung fort. „Ich kann mich aber noch gut an das Jahr 1993 erinnern. Das war Spätsommer und ich las The Economist. Es ging um die von Russland präferierte Währungsunion. The Economist schrieb daraufhin unmissverständlich, dass der Westen diese Währungsunion auf keinem Falle zulassen darf. Und das war im Jahr 1993“, zeigte sich Javlinskij selbst im Jahr 2016 immer noch irritiert.

Diese Erzählung ist ausgesprochen bemerkenswert, steht doch Grigorij Javlinskij, im Ruf ein aufrechter Mann und ein unbestechlicher Zeitzeuge zu sein. Geopolitik setzte sich ununterbrochen fort, ja sie ging nahtlos – für die Zeitgenossen noch unsichtbar – in eine Geoökonomie über, weil die geldlose Sowjetwirtschaft unterging und an deren Stelle eine postsowjetische Ökonomie trat, die sich infolge ihrer zwangsläufigen Monetarisierung automatisch in das monetäre Spinnennetz der Weltleitwährung Dollar begeben musste, um monetär überhaupt überleben zu können.

Folgt man nun Javlinskijs Ausführungen, dann soll Gajdar seine Währungspolitik gegen die geoökonomischen Interessen des Weltleitwährungslandes betrieben haben, was wiederum im Widerspruch zu Gajdars Behauptung stehen würde, er wäre „zutiefst davon überzeugt, dass die Währungsunion gar nicht funktionsfähig wäre“, obschon er de facto entschieden auf dieAufrechterhaltung der Unionswährung bestanden hat.

Was nun? Wie auch immer man zu diesem Widerspruch stehen mag, eines wird aus heutiger Sicht glasklar: Die geld-, währungs- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen der 1990er-Jahre prägen die geoökonomische Ohnmacht Russlands bis heute.

Erschwerend kam eine fehlende monetäre Infrastruktur im postsowjetischen Russland noch hinzu. Die funktionierenden westlichen Geldwirtschaften haben Zentralbanken, die aus privaten Geldinstituten hervorgegangen sind. Das vorrevolutionäre und das postsowjetische Russland hat eine solche Entwicklung nie gekannt. Die Noten emittierende Bank wurde hier von Anfang an als Staats- bzw. Zentralbank gegründet, bevor so etwas wie eine Bankenwirtschaft entstand. Die Zentralbank entstand wiederum nicht für ein bereits vorher entwickeltes Bankensystem, sondern genau umgekehrt. Sie wurde gegründet, bevor überhaupt eine monetäre Infrastruktur für ein solches Zentrum existierte.38

Das monetäre Steuerungssystem entwickelte sich in Russland anders als in den westlichen Geldwirtschaften. Die gegründete Zentralbank war (noch) keine Noten emittierende Bank im geldwirtschaftlichenSinn.SiehieltkeineAktiva,diedazugeeignetwären,ihreeigene ausdemVerkehr zu ziehen bzw. aus der Zirkulation zu holen. Ihre Forderungen bestanden immer noch überwiegend in Verbindlichkeiten öffentlicher Haushalte und Produktionsbetriebe, d.h. es waren im Grunde auf Dauer uneinlösbare, mit Null bewertete Forderungen.

In einem solchen monetären Umfeld, in dem weder ein funktionsfähiges Bankensystem noch ein funktionierender Vermögensmarkt existierte und kein intaktes Zusammenwirken zwischen Bankenwirtschaft und Zentralbank bestand, in einer solchen monetären „Diaspora“ eine Währungskonvergenz einzuführen und dazu noch keine eigene nationale Währung (mindestens bis 1993) zu besitzen, gleicht einem monetären Suizid, der dazu führte, dass Russland noch heute vor einem nationalökonomischen und geoökonomischen Scherbenhaufen steht.

Anmerkungen

1. Zitiert nach экономическая политика, No 6 (2009),5.
2. Livejournal, Путин, продолжитель дела Егоря Гайдара. 16.10.2015.
3. Siehe dazu auch ein Kommentar von Livejournal, »Об увековечивании памяти либеральных людоедов Гайдара и Ельцина«. 11.08.2015.
4. Heinsohn, G./Steiger, O., Was ist Wirtschaften? In: Betz, K./Roy, T. (Hrsg.), Privateigentum und Geld. Kontroversen um den Ansatz von Heinsohn und Steiger. Marburg 1991, 51.
5. Schmeljow, N., Perestrojka aus der Sicht eines Ökonomen, in: Leonid Abalkin/Anatoli Blinow (Hrsg.), Perestrojka von innen. Düsseldorf /New York 1989, 33-57 (37).
6. Siehe Егор Гайдар, Государство и эволюция. Москва 1995, 10.
7. Ausführlicher dazu Willgerodt, H., Westdeutschland auf dem Wege zu „richtigen“ Preisen nach der Reform von 1948, in: Anpassung durch Wandel. Evolution und Transformation von Wirtschaftssystemen, hrsg. v. Hans-Jürgen Wagener. Berlin 1991, 175-208 (178).
8. Vgl. Егор Гайдар/Анатолий Чубайс, Развилки новейшей истории России. Москва 2011, 60 f.
9. Stadermann, H.-J., Wesentliche Eigenschaften der Währung und des Geldes, in: Privateigentum und Geld. Kontroversen um den Ansatz von Heinsohn und Steiger. Marburg 1999, 73-98 (77 f.).
10. „Man spricht von Currency Board, wo die Notenbanken als Forderungen für ihre Noten nur Devisen, also Forderungen gegen das Eigentum Fremder halten.“ (Heinsohn, U./Nocker, E., Probleme der Währungsverfassung in China, in: Herausforderungen der Geldwirtschaft, hrsg. v. H.-J. Stadermann und O. Steiger. Marburg 1999, 181-217, 190).
11. Der Markt-Schock. Eine AGENDA für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wiederaufbau In Zentral- und Osteuropa. Hrsg. v. Egon Matzner, u.a. Berlin 1992, 17.
12. Riese, H., Geld im Sozialismus. Zur theoretischen Fundierung von Konzeptionen des Sozialismus. Regensburg 1990, 37.
13. Vgl. Riese (wie Anm. 12), 41.
14. Vgl. Riese (wie Anm. 12), 37.
15. Riese, H., Geld und der Sozialismus. Gründe für das Scheitern einer Idee, in: des., Grundlegung eines monetären Keynesianismus. Bd. 2: Angewandte Theorie der Geldwirtschaft. Marburg 2001, 1359–1370 (1364).
16. Näheres dazu Heinsohn, S./Steiger, O., Eigentum, Zins und Geld. Ungelöste Rätsel der Wirtschaftswissenschaft. Reinbek 1996, 229.
17. Herr, H., Die Rolle des Eigentums im Transformationsprozess von der Plan- zur Geldwirtschaft, in: Privateigentum und Geld. Kontroversen um den Ansatz von Heinsohn und Steiger. Marburg 1999, 177-199 (197).
18. Zitiert nach Сергей Белановский, Приватизация по Гайдару была бессмысленной. Новые известия. 19.02.2018.
19. Grotius, H., Drei Bücher über das Recht des Krieges und des Friedens (1625), hrsg. v. J. H. v. Kirchmann. 2 Bde., Berlin 1869, I, 23.
20. Пияшева, Л., »Либеральные реформы в России не было и в ближайшее время не предвидится«, Континент 2001, 107.
21. Zitiert aus einem Interview mit Pijaševa. April 1994.
22. Крыштановская, О. В., Политическая и экономическая элита в России. Бизнес-элита и олигархи: итоги десятилетия, Мир России 2002, No 4.
23. Пияшева, Л., Либеральные реформы (wie Anm. 20); 2012 schreibt Illarionov rückblickend: Die Reformen 1991/92 wären keine liberalen Reformen, in: Лекция А. Илларионoва в Политехнологическом музее, 02.02.2012; ferner А. Илларионов, Что сделал Гайдар и Чубайс (21 тезис), 28.03.2015: »Идея либерализма, демократии, верховенства права были дискредитированны. Все авторство в этом деле признал, в частности, сам Е. Гайдар«.
24. Петр Авен, О «крахе» либеральных реформ в России. Коммерсантъ 27.01.1999; Борис Федоров, Время для либеральных реформ в России ещё не пришло. Коммерсантъ 14.02.1999.
25. Fedorov (wie Anm. 24).
26. Авен, П., » Мы заложили фундамент дальнейшей жизни«, 20.12.2006.
27. Найшуль, В., Откуда суть пошли реформы, 20.04.2004.
28. Найшуль (wie Anm. 27).
29. Пияшева, Л., Есть ли у России надежда? »Круглый стол«, Год после Августа. Горечь и Выбор. Сборникстатей и интервью. Москва 1992, 224.
30. Riese, H., Entwicklungsstrategie und ökonomische Theorie. Anmerkungen zu einem vernachlässigtenThema, in: des., Grundlegung (wie Anm. 15), 1226-1259 (1246).
31. Näheres dazu Андрей Илларионов, Е. Гайдар осенью 1990г. о введении национальной валюты.27.2.2013.
32. Zitiert nach Illarionov (wie Anm. 31).
33. Zitiert nach Illarionov, »Это абсолютно идейная позиция«. 11.02.2013.
34. Heinsohn, G./Steiger, O., Eigentumsökonomik. Marburg 22008, 36 f.
35. Гайдар, Е., Удаcтся ли вывести Россию из экономического кризиса? Политический курьерпартии ДВР,No 3 (1995), 3.
36. Гайдар, Е.: Пора отбросить иллюзии. Часть 1: Еще раз о реформах в стране и мире. Центральныйаппарат партии ДВР, 1998, 5.
37. Явлинский,Г., »Я сказал Гайдару: Егор, ты хочешь освободить цены в один день, ты понимаешь, чтобудет?« Деловая электронная газета, 5.10.2016.
38. Dazu grundlegend Stadermann, H.-J., Geldwirtschaft und Geldpolitik. Einführung in die Grundlagen.Wiesbaden 1994, 47 f.

Nach oben scrollen